Unsinnige Angstmacherei mit Arbeitslosen
«Düstere Wolken am Arbeitsmarkt» titelte das Schweizer Fernsehen online.
«Mehr Leute ohne Job» lautete die Schlagzeile in der Tagesschau vom 10. November 2015. «Die Arbeitslosenquote steigt auf 3,3 Prozent», fuhr Moderatorin Katja Stauber fort und zeigte die anscheinend hohe Zahl von 141’269 Personen, die ohne Arbeit seien. Quelle war die Monatsstatistik des Staatssekretariats für Wirtschaft Seco.
Die Fakten
- Es ist jedes Jahr das Gleiche: In den Monaten Oktober und November steigt die Zahl der Arbeitslosen gegenüber den Vormonaten, weil in der kälteren Zeit weniger gebaut wird und weil der Tourismus in dieser Zeit Flaute hat. Deshalb ist es statistisch unseriös, die Zahlen vom Oktober mit denen im September zu vergleichen, um mit einer «steigenden Arbeitslosigkeit» Angst zu schüren. Im Oktober betrug die Arbeitslosenquote laut Seco 3,3 Prozent, im September lag sie bei 3,2 Prozent. So what?
- Aussagekräftig ist die saisonbereinigte Arbeitslosenquote. Diese «notierte stabil bei 3,4 Prozent», wie die NZZ korrekt berichtete. Oder man vergleicht die Arbeitslosenquote eines Monats mit derjenigen des gleichen Monats im Vorjahr.
- Eine Arbeitslosigkeit von 3-4 Prozent bezeichnen Ökonomen als «Sockelarbeitslosigkeit», die systembedingt ist: Arbeitnehmende wechseln von Branchen, die Mühe haben oder ihre Arbeitsproduktivität steigern konnten, in Branchen oder Betriebe, die expandieren. Da nicht immer die gleichen Qualifikationen gefragt sind, brauchen diese Stellenwechsel einen Anpassungsprozess. Zwei Drittel derjenigen, welche eine Stelle verlieren, finden gemäss Seco-Statistik innert zwei Jahren eine andere Stelle. Die Quote der Langzeitarbeitslosen ist weitgehend stabil geblieben.
Der frühere Chef der US-Notenbank Ben Bernanke beispielsweise prophezeite, dass die USA mit einer hohen Sockelarbeitslosigkeit werden leben müssen, weil faktisch mehr als fünf Prozent der Erwerbsfähigen künftig weder vermittelbar noch umzuschulen seien. Noch so tiefe Löhne, noch so tiefe Unternehmenssteuern oder noch so rigorose Deregulierungen würden daran wenig ändern.
So weit sind wir in der Schweiz nicht. Laut NZZ glauben Arbeitsmarktexperten, dass die durchschnittliche Arbeitslosenquote im nächsten Jahr bei 3,3 Prozent konstant bleibt. Weder tiefere Löhne noch tiefere Steuern für grosse Unternehmen werden diese Sockelarbeitslosigkeit weiter senken können.
Angstmacherei im Hinblick auf Lohnverhandlungen
«Düstere Wolken über dem Arbeitsmarkt» sehen anders aus. Doch den Arbeitgebern kommt die Angstmacherei im Hinblick auf die Lohnverhandlungen und auf verschiedene Deregulierungsvorstösse entgegen.
Die Tagesschau berichtet besonders häufig und prominent über Fälle von Entlassungen sowie diesem oder jenem angekündigten Abbau von Arbeitsplätzen. Das Fernsehen weckt damit den falschen Eindruck einer drohenden hohen Arbeitslosigkeit. Eine solche wird es nur geben, falls das weltweite Schuldenkartenhaus zusammenkracht oder falls sich kriegerische Ereignisse weiter ausbreiten.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Es wäre schön, wenn wir nur 3,3 Prozent Arbeitslose haben. Faktisch sind es laut Ökonomen rund doppelt so viele, da bekanntlich Ausgesteuerte und an einer Stelle Interessierte, die nicht beim RAV gemeldet sind (Studienabgänger, Wiedereinsteiger/innen etc.), nicht mitgezählt werden. Insofern ist dieser Artikel hier alles andere als differenziert, indem er die falschen Zahlen der Tagesschau oder der NZZ einfach so übernimmt.
Sie haben recht, es kommen in allen Ländern Ausgesteuerte oder solche in Eingliederungsprogrammen etc. dazu. Aber eine Quote von 3-4 Prozent offiziell erfasster Arbeitslosen gilt als «Sockelarbeitslosigikeit». Im Vergleich zu andern Ländern ist bei uns der Anteil der Frauen und Männer, die im erwerbsfähigen Alter erwerbstätig sind, deutlich höher als im Ausland. Auch die Arbeitsstunden pro Beschäftigten sind in der Schweiz sogar höher als in Deutschland. Von «düsteren Wolken» zu reden, ist Angstmacherei nicht zuletzt im Hinblick auf die Lohnverhandlungen.
Die genannten Gruppen sind andernorts in den ausgewiesenen Zahlen mit drin, nicht aber in der Schweiz. Denn die Schweizer Zahlen beschönigen, da Bern Arbeitslosigkeit nicht so misst, wie dies die meisten nationalen Statistikämter, die OECD und das Statistikamt der EU tun. Gemäss international anerkannten Normen der ILO (International Labour Organization der UNO) gilt als arbeitslos, wer i) ohne Arbeit ist, ii) in den letzten vier Wochen aktiv nach einer Stelle gesucht hat und iii) zur Aufnahme einer Tätigkeit innerhalb von zwei Wochen verfügbar wäre. Das ist bei unserer Messmethodigkeit bekanntlich anders, wir zählen nur die beim RAv gemeldeten Personen. Daher haben wir eher doppelt so viele Arbeitslose als offiziell verlautbart. Und ob dies als Sockelarbeitslosigkeit bezeichnet werden kann, bezweifle ich. Wenngleich ich mit dem Alarmismus der Tagesschau ebenfalls nichts anfangen kann.
Es stimmt nicht, dass die meisten OECD-Länder ihre Arbeitslosen gemäss den Normen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO erfassen. Wie kommen Sie darauf? Schon Deutschland ist bei der Definition von Arbeitslosen viel restriktiver. In England und Irland zählen nur Menschen offiziell als Arbeitslose, die eine staatliche Arbeitslosenunterstützung erhalten. In Spanien zählen Menschen, die voll erwerbstätig sein möchten, aber über eine Erwerbsarbeit von unter 20 Wochenstunden verfügen, nicht als Arbeitslose. Etc. Viele Regierungen wollen mit restriktiven Definitionen der Arbeitslosigkeit diese verharmlosen.
Diesen Vorwurf machen andere der Schweiz auch.
http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2013/12/die-erwerbslosenquote-ist-die-eigentliche-arbeitslosenquote/
Nein. Michael Siegenthaler stellt nur mit Recht fest, dass die in der Schweiz ausgewiesene Arbeitslosenquote tiefer ist als die reale und nicht der ILO-Definition entspricht. Das ist unbestritten. Er schreibt aber nirgends, dass dies im Ausland anders, gehandhabt wird. In manchen Ländern weicht die offizielle Statistik noch krasser von der Realität ab.
Zitat: «Denn gemäss ILO… An diese Definition halten sich die meisten nationalen Statistikämter, die OECD und das Statistikamt der EU.» Wir scheinen diese Aussage von Michael Siegenthaler offenbar anders zu interpretieren.
Aber wir können diesen Dialog hier gerne beenden, die Hauptaussage des Artikels war ja eine andere. Dennoch bleibe ich bei meinem ersten Kommentar und würde gerne auch auf infosperber mal etwas über die tatsächlichen Zahlen lesen.