Schweizer Wirtschaft wächst mit Fleiss statt Geist
Die Erwerbstätigen in der Schweiz arbeiten länger als jene in den Nachbarländern. Doch wie sich das Arbeitsvolumen und die Arbeitsproduktivität langfristig entwickelten, war weitgehend unbekannt. Denn eine offizielle Statistik über die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden gibt es erst seit 1991.
Die Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich untersuchte deshalb die Entwicklung von Arbeitszeiten und Arbeitsproduktivität in der Schweiz seit 1950. Die kürzlich veröffentlichte Nationalfonds-Studie (in englisch, siehe Link unten) zeigt wesentliche Abweichungen gegenüber früheren Erhebungen und Schätzungen. Nachstehend die wichtigsten Ergebnisse.
Wie sich die Arbeitszeit entwickelte
1950 lebten 4,7 Millionen Menschen in der Schweiz. Die Hälfte von ihnen war erwerbstätig; die grosse Mehrheit arbeitete hundert Prozent, damals 50 Stunden pro Woche und annähernd 50 Wochen pro Jahr. Diese Erwerbstätigen arbeiteten im Jahr 1950 durchschnittlich 2380 Stunden lang und leisten zusammen 5,5 Milliarden Arbeitsstunden.
Von 1950 bis 2010 wuchs die Schweizer Bevölkerung um annähernd 70 Prozent, die Zahl der Erwerbstätigen sogar um 90 Prozent. Auf der andern Seite sank die wöchentliche Arbeitszeit für Vollzeit-Angestellte und die Zahl der Ferienwochen, Feiertage sowie der Anteil der Teilzeitarbeit nahmen zu. Resultat: Die Erwerbstätigen arbeiteten im Jahr 2010 durchschnittlich nur noch 1620 Stunden lang und leisteten zusammen 7,2 Milliarden Arbeitsstunden.
Die Bilanz dieser langfristigen Entwicklung: Von 1950 bis 2010 wuchs die Zahl der Arbeitsstunden in der Schweiz und mithin das Arbeitsvolumen um 30 Prozent – und damit weit weniger stark als die Bevölkerung und die Zahl der Erwerbstätigen.
Viermal bergauf, zweimal bergab
Das Arbeitsvolumen entwickelte sich aber nicht linear, sondern schwankte je nach Jahrzehnt: Am stärksten wuchs die Zahl der Arbeitsstunden zwischen 2000 und 2010, nämlich um 12,7 Prozent. Gewachsen ist das Arbeitsvolumen auch zwischen 1950 und 1960 (+10,9 %), in den 1960er-Jahren (+4,4 %) und 1980er-Jahren (+ 8,4 %). Zwischen 1970 und 1980 hingegen, also die Ölkrise eine Rezession und Rückwanderung auslöste, sowie in den «wachstumsschwachen» 1990er-Jahren hat die Zahl der Arbeitsstunden abgenommen (siehe Grafik).
Fleiss wächst seit 2000 stärker als Produktivität
Ein gesundes Mass an Arbeit ist wichtig für Wohlstand und Wohlbefinden der Bevölkerung. Doch das Ziel einer Volkswirtschaft besteht nicht darin, möglichst viel und möglichst fleissig zu arbeiten, sondern möglichst produktiv, also mit Köpfchen, effizienter Technik und hoher Wertschöpfung. Die Produktivität ergibt sich aus der Summe der Wirtschaftsleistung, gemessen am realen Bruttoinlandprodukt (BIP), dividiert durch die Zahl der Arbeitsstunden. Je mehr BIP pro Arbeitsstunde erzeugt wird, desto höher ist die Produktivität.
Am stärksten wuchs die Produktivität von 1960 bis 1970 (+ 52 %) , am zweitstärksten in den in den 1950er-Jahren (+ 40 %). Grund: Die Hochkonjunktur liess die Wirtschaft stark wachsen, während die Zahl der Arbeitsstunden nur moderat zunahm. Am schwächsten entwickelte sich die Produktivität zwischen 2000 und 2010, nämlich nur noch um 5,5 Prozent. Damit wuchs das Arbeitsvolumen in den letzten zehn Jahren (+ 12,7 %) zum ersten Mal seit 1950 stärker als die Produktivität (siehe Grafik).
Deutliche Abweichungen von früheren Studien
Die Daten der KOF-Untersuchung unterscheiden sich deutlich von früheren Erhebungen und Schätzungen; dies vor allem in folgenden Punkten: Frühere Erhebungen haben das Arbeitsvolumen in den 1950er-Jahren unterschätzt. Als Folge davon wurde die Zunahme des Arbeitsvolumens überschätzt und die Zunahme der Arbeitsproduktivität im Zeitraum zwischen 1960 und 2000 in den meisten Erhebungen unterschätzt. Die ungenaue bis fehlerhafte Datengrundlage relativiert damit auch frühere Analysen über Wirtschaft, Arbeit und die Ursachen der sogenannten «Wachstumsschwäche» in den 1990er-Jahren. Denn damals stieg die Produktivität noch deutlich stärker als nach 2000.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine