Kommentar

Rechtswidriger Angriff auf Mindestlöhne

Walter Langenegger © zvg

Walter Langenegger /  Die rechtsbürgerliche Mehrheit im Parlament will kantonale Mindestlöhne aushebeln. Das ist klar verfassungswidrig.

Der Vorgang ist besorgniserregend: Die Landesregierung gibt eine Gesetzesvorlage in die Vernehmlassung, von der sie selbst schreibt, dass sie gegen mehrere Prinzipien der Bundesverfassung verstösst und nicht angenommen werden darf. Konkret sieht der Entwurf vor, dass die Bestimmungen über Mindestlöhne und Lohnvorschriften in allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen (GAV) künftig dem kantonalen Recht vorgehen. Gefordert hatte dies Ende 2022 eine knappe bürgerliche Mehrheit in beiden Räten aufgrund einer Motion des Mitte-Ständerates Erich Ettlin.

Der Obwaldner Wirtschaftslobbyist vergoss dabei im Parlament Krokodilstränen. Er sei in Sorge um die Sozialpartnerschaft. Diese müsse vor «umstrittenen Eingriffen» geschützt werden. Was er damit meint, sind die geltenden Mindestlöhne in den Kantonen Neuenburg, Jura, Genf, Tessin und Baselstadt sowie die diversen laufenden Bestrebungen in Kantonen und Städten zur Einführung gesetzlicher Lohnvorschriften.

Ein Dorn im Auge

Gesetzliche Mindestlöhne sind der bürgerlichen Mehrheit ein Dorn im Auge. Denn sie schwächen die Position der Arbeitgeber bei den GAV-Verhandlungen gegenüber den Gewerkschaften. Ist ein Mindestlohn gesetzlich festgesetzt, darf er nicht unterschritten werden. Denn auch wenn ein GAV allgemeinverbindlich erklärt wird, so ist er doch kein Gesetz, sondern bleibt ein zwischen privaten Verbänden geschlossener Vertrag. Und damit ist er dem kantonalen Gesetz untergeordnet. Normenhierarchie nennt sich das.

Genau diese Normenhierarchie greift Ettlin an. Er will die kantonalen Mindestlöhne aushebeln, indem GAV-Mindestlöhne künftig die gesetzliche Mindesthöhe in jedem Fall unterschreiten dürfen. Damit wird das kantonale Gesetz zur Farce. Und das wiederum ändert das Kräfteverhältnis der Sozialpartner selbstredend zugunsten der Arbeitgeber.

Mutloser Bundesrat

Doch Ettlins Forderung widerspricht der Schweizer Rechtsordnung. Darum wehrte sich der Bundesrat schon im Parlament gegen die Motion und machte deutlich: Kantonale Mindestlöhne sind per Volksentscheid demokratisch legitimiert und laut Bundesgericht explizit verfassungskonform. Dies nicht zu respektieren heisst, kantonale Souveränität und Legalitätsprinzip zu missachten.

Allerdings, den Mut, die Annahme der Motion zu verweigern, hatte die Landesregierung trotz ihrer klaren Worte dann doch nicht. Statt sich kategorisch auf die Seite der Rechtsordnung zu schlagen, warnt sie nur – und liefert, was von ihr gefordert wurde. Das Resultat: Es findet nun de facto eine Vernehmlassung über einen offensichtlichen Rechtsbruch statt. Gelingt es nicht, das Vorhaben im Parlament, mittels Referendums oder gerichtlich zu stoppen, so wäre dies ein sozialpolitischer Sündenfall und ein Alarmsignal für den Rechtsstaat. 

Angriff auf Beschäftigte

Was dies sozialpolitisch bedeutete, lässt sich am Beispiel Genf illustrieren. Der Kanton hat vor über drei Jahren einen Mindestlohn von gut 23 Franken eingeführt und damit gute Erfahrungen gemacht. In sieben Tieflohn-Branchen – darunter das Coiffeurgewerbe, das Gastgewerbe oder die Tankstellenshops – verbesserte sich die Einkommenssituation merklich, ohne dass die Arbeitslosigkeit zunahm (siehe Grafik).

Arbeitslosigkeit
Obwohl Genf im Gegensatz zur Waadt seit drei Jahren einen gesetzlichen Mindestlohn kennt, entwickelte sich die Arbeitslosigkeit in beiden Kantonen im Gleichschritt. Damit ist klar: Mindestlöhne führen nicht zu mehr Arbeitslosen, verschaffen aber vielen Menschen einen etwas besseren Lohn.

Obsiegt die bürgerliche Mehrheit, werden diese Erfolge zunichte gemacht. Nicht nur könnten die Arbeitgeber in den betroffenen Kantonen die Gewerkschaften wieder stärker unter Druck setzen und die Unternehmen wieder Lohndumping betreiben. Vielmehr unterminierte die bürgerliche Mehrheit damit auch die Realisierung von gesetzlichen Mindestlöhnen in anderen Kantonen und Städten und verhinderte von vorneherein eine bessere Entlöhnung von Arbeitnehmenden in gewerkschaftlich schlecht organisierten Tieflohn-Sektoren.

Alarmzeichen für Rechtsstaat

Ein Alarmsignal für den Rechtsstaat wäre der Rechtsbruch sodann, weil sich damit ein Trend bestätigte, der inzwischen vielerorts zu beobachten ist: Wo rechte Parteien im Vormarsch sind, erodiert die Rechtsstaatlichkeit. In Polen und Ungarn degradierten die PIS und Orbans Partei die Justiz zur Vollzugsgehilfin, in den USA verpolitisierte Trump den obersten Gerichtshof und in Grossbritannien versuchen die Torys derzeit in der Asylpolitik, das Verfassungsgericht auszuhebeln.

Ähnliches geschieht seit dem Vormarsch der Rechtsbürgerlichen und der Rechten auch in der Schweiz. Der Respekt vor Verfassung und Gesetz schwindet, im Grossen wie im Kleinen. Ein drastischer Fall: Bundesrat Rudolf Merz verfälschte Angaben zu den Steuerausfällen im Zusammenhang mit der 2008 knapp angenommenen Unternehmenssteuer-Reform II. Das Bundesgericht bestätigte den Verstoss, doch blieben die Konsequenzen aus. Oder kürzlich im Kanton Bern: Die bürgerliche Mehrheit im Grossen Rat foutierte sich um die Gemeindeautonomie der rot-grünen Städte Bern und Biel und zwang ihnen die Videoüberwachung auf. Die öffentliche Reaktion? Ein Achselzucken.

In die gleiche Richtung geht auch die aufgegleiste Aushöhlung der kantonalen Mindestlöhne. Die meisten bürgerlichen Parlamentarier schoben während der Beratung alle rechtsstaatlichen Einwände beiseite, offenbarten damit eine Herr-im-Haus-Mentalität und waren offenbar überzeugt, dass ihre politische Mehrheit sie legitimiert, das Recht nach ihrem Gusto zu beugen und brechen.

Sollte sich diese Geisteshaltung durchsetzen, drohen sowohl in sozialpolitischer als auch rechtstaatlicher Hinsicht düstere Aussichten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Walter Langenegger war Inlandchef des «St.Galler Tagblatts» und später Kommunikationschef der Stadt Bern. Er veröffentlicht seine Beiträge im Blog «Meinung».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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7 Meinungen

  • am 2.02.2024 um 13:34 Uhr
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    Die Beispiele zur Untermauerung der These «Rechte gefährden den Rechtsstaat» sind etwas einseitig zusammengeklaubt. Erinnern Sie sich an die Masseneinwanderungsinitiative, die Volk und Stände im 2014 angenommen haben (und zu der man stehen mag, wie man will)? Sie wurde anschliessend im Parlament von Mitte/Links schlicht nicht umgesetzt. Rechtsstaat hin oder her. Es gibt genügend Beispiele, die zeigen, dass alle Parteien opportunistisch die Rechtstaatlichkeit beschädigen, wenn es den eigenen Zielen dient.

  • am 2.02.2024 um 15:30 Uhr
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    Nur logisch, wenn die neoliberale Mehrheit im Parlament, die schon bei den Sozialwerken bei jeder Gelegenheit die Abrissbirne auffährt, nun auch das Prekariat für die aktive Bevölkerung zur raison d’être machen will. Dass dabei die Gesellschaft geradezu atomisiert wird, ist eine durchaus gewünschte Konsequenz. Die derart Isolierten verlieren jeden Zusammenhalt und werden gegenüber jedwelcher totalitären Anwandlung schutzlos, das gesellschaftliche Immunsystem – der Zusammenhalt und die Loyalität in und zu einem Gemeinwesen – wird pulverisiert. Die extreme Rechte – SVP, FdP, die Mitte, die GLP – nimmt die Entsolidarisierung zugunsten des Privilegienschutzes der eigenen Klientel unter viel Heuchelei gerne in Kauf. Ich frage mich, wie lange sich die marginalisierte «Linke» noch vorführen lassen will, indem man SP-Bundesräte hinstellt, die diesen Sozialkrieg noch verteidigen müssen. Vielleicht täte ein Blick nach Norden, zu Sahra Wagenknecht, gut. Und ein Austritt aus dem Bundesrat.

  • am 2.02.2024 um 17:44 Uhr
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    Ich finde es richtig, dass die Arbeitgeber wieder mehr Gewicht erhalten. Die Gewerkschaften sind einfach zu radikal was den sehr erfolgreichen Wirtschaftsstandort der Schweiz schwächt.

    • am 3.02.2024 um 15:50 Uhr
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      Herr Girschweiler
      Ich hoffe doch sehr, das war ironisch… (Schweizer Gewerkschafen radikal? – Da musste ich doch sehr lachen.)
      Herzlichen Dank an Walter Langenegger. Ich werde seinen Blog inskünftig regelmässig lesen und (so ich darf) auch weiterempfehlen. (Wie auch infosperber.)

  • am 2.02.2024 um 19:53 Uhr
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    Mich überkommt das Frieren beim Lesen dieses wichtigen Artikels. Meine politisch leider naive Frage lautet: Welche Instanz in der Schweiz beurteilt Verfassungsbruch? Ist Verfassungsbruch kein Offizialdelikt? Gilt hier also, wo kein Kläger auch kein Richter? Und wenn: gibt es keine NGO in der Schweiz, die diese Art des verfassungswidrigen Vorgehens anklagen könnte und wo kann so ein Vorgehen des Parlaments bzw. des Bundesrates angeklagt werden?

    • am 4.02.2024 um 00:55 Uhr
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      Zu Anna Baur:
      Da könnten wir die SP anschreiben, damit sie rechtliche Schritte unternimmt. Als Bevölkerung könnten wir das Referendum ergreifen, aber das braucht Geld und Zeit.

  • am 3.02.2024 um 01:33 Uhr
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    Tatsächlich reitet die Schweiz auf einer gefährlichen Welle, aber das Volk rührt sich nicht! Im erwähnten Beispiel werden die SP und die Grünen kaum eine mehrheitsfähige Opposition bilden können. Beängstigend ist das Verhalten des Bundesrats, der in den letzten Jahren immer mehr rechtsbürgerliche Anliegen eigenmächtig beschlossen hat, wie z.Bsp. beim CS-Skandal oder auch bei der Kampfflugzeugsinitiative, die rasch zustande gekommen war. Da griff die Ministerin schnell zur Feder, um den Vertrag zu unterschreiben. Dies geschah im Herbst, nach dem Einreichen der Initiative, obwohl der Vertrag erst im März hätte unterschrieben werden müssen. Stilles Schweigen! Eine Parlamentarierin sagte in einem Interview, man wolle nicht, dass die Bevölkerung denke, die Demokratie sei in Gefahr! Aber sie IST in Gefahr!

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