Kommentar
Ein Plädoyer fürs Zaudern und gegen das Wachstum
Die Politik des Aufschubs hat zwei Seiten. Sie kann für Problemverschiebung und Lösungsverweigerung stehen – aber eben auch für kluge Abwägung und Reflexion. Was die erste – negative – Variante angeht, wurde mit dem «Nachhaltigkeitsgipfel» in Rio de Janeiro ein neues Niveau erreicht. Zumindest was die staatliche Ebene betrifft, gilt: Man beschliesst gar nichts – und selbst das nur unter dem Vorbehalt, dass Kosten und Nutzen berücksichtigt werden. Das Nicht-Dokument «The Future We Want» ist nichts anderes als eine Katastrophe. Eine langfristig verantwortbare Politik wird aufgeschoben zugunsten einer kurzsichtigen Gleichgültigkeit gegenüber dem, was nötig und möglich wäre. Schlimm.
Auch die zweite – positive – Variante einer Politik des Aufschubs lässt sich geografisch verorten: in Karlsruhe. Dort sitzt das deutsche Bundesverfassungsgericht, und inmitten nervöser Märkte und noch nervöserer Politiker nimmt sich die höchste Instanz des Landes bei seiner Entscheidung zum Thema «Euro-Rettung» etwas, das niemand zu haben glaubt: Zeit.
Im Widerspruch zu wirtschaftspolitischen Dogmen
In seinem Buch «Über das Zaudern» schreibt Joseph Vogl: «Das Bild der grossen Gefahr konzediert wenig Wahl, denunziert das Zaudern und macht die weitere Aussicht im prägnanten Wortsinn fatal.» Die Karlsruher Richterinnen und Richter werden das wieder erkennen, denn sie tun etwas, das scheinbar gegen jede Vernunft ist: Sie zaudern. Sie nehmen sich heraus, die Wahl zu haben, Optionen abzuwägen und dann zu entscheiden. Das schockiert Märkte und Politiker, weil diese Vorgehensweise im krassen Widerspruch zu zentralen (wirtschafts-)politischen Dogmen steht. Das ist empirisch gemeint: Schnell gilt als anstrebenswert, mehr gilt als gut, effizient.
Wachstum bleibt eine heilige Kuh
Das gilt auch für die Diskussion um Wachstum – ein Feld, an dem sich wirtschaftliche und sozial-ökologische Themen berühren wie in kaum einem anderen Bereich. Aktuell erleben wir eine paradoxe Parallelität von Wachstumskritik und Wachstumseuphorie. Es ist erstaunlich, mit welcher Intensität aktuell über Wachstumsgrenzen diskutiert wird. Wachstumsskeptische Publikationen häufen sich.
Der deutsche Bundestag hat eine Enquete-Kommission zum Thema eingerichtet. Im Herbst findet in Wien zum zweiten Mal die Konferenz «Wachstum im Wandel» statt. Auch der mediale Mainstream berichtet immer öfter über Zweifel am Wachstum. Mittlerweile ist sich sogar die Frankfurter Allgemeine Zeitung nicht zu schade, über Wachstumskritik zu schreiben. Ist das Thema 40 Jahre nach der Veröffentlichung der «Grenzen des Wachstums» etwa in der Mitte der Gesellschaft angekommen?
Das Gegenteil ist der Fall. Wachstum bleibt die heilige Kuh nicht nur der Wirtschaftspolitik. Herr Hollande hat mit diesem Thema die Präsidentenwahl gewonnen. Eurokrise? Staatsschulden? Arbeitslosigkeit? Wachstum soll es richten. Die «Lösung»: nachhaltiges Wachstum!
Nicht Be-, sondern Entschleunigung ist geboten
Die am «Nachhaltigkeitsgipfel» in Rio de Janeiro erneut formulierten Hoffnungen auf eine «Green Economy», in der sich Umweltbelastung und Wirtschaftswachstum aufgrund besserer Technik versöhnen, basieren auf fundamental falschen Voraussetzungen.
Nur «absolute Entkopplung» ist ein Beitrag zur Versöhnung von Wirtschaftsexpansion und Umwelt, also eine tatsächliche materielle Schrumpfung der ökologischen Lasten.
Da wäre es hilfreich, nicht innovationsbesoffen auf Beschleunigung zu setzen, sondern zu entschleunigen und nachzudenken. Das gilt nicht nur für die Wachstumseuphoriker. So wie der politische und wissenschaftliche Mainstream Umweltgrenzen nicht zur Kenntnis nehmen will, tun sich ökologische Kritiker oft nicht leicht mit real existierenden ökonomischen Problemen.
Wochenarbeitszeit von 21 Stunden
Zum Beispiel: Wenn es arbeitssparenden technischen Fortschritt gibt (und den gibt es), bedeutet das Ausbleiben von Wachstum unweigerlich Erwerbsarbeitslosigkeit. Da fährt die Eisenbahn drüber. Das ist natürlich anders, wenn man Arbeit anders verteilen würde. Also (wie oft muss man es noch sagen?): Wir haben ein Verteilungsproblem.
In einer globalisierten Wirtschaft mal eben auf breiter Front die Arbeitszeit zu reduzieren, ist wohl aktuell kein plausibles Szenario. Oder doch? Die britische New Economics Foundation hat gerade eine Studie mit dem sprechenden Titel «21 Hours» vorgelegt: Dort wird eine radikale Abkehr vom herrschenden Arbeitszeitmodell gefordert. 21 Stunden Wochenarbeitszeit?! Ja, das klingt nicht sehr wahrscheinlich.
Der Glaube, dass das Wachstumsparadigma mit globaler Nachhaltigkeit vereinbar ist, hat freilich ähnlich utopischen Charakter.
Des Pudels Kern: Die Lebenslügen des Wachstumsmodells werden im politischen Mainstream gar nicht diskutiert.
Es wäre töricht, hier vom Bundesverfassungsgericht die Rettung zu erwarten. Aber die Weigerung der Richter, sich vom Bild der grossen Gefahr zur Eile zwingen zu lassen, ist zumindest ein Zeichen der Hoffnung. Es signalisiert, dass Zaudern und Reflektieren möglich ist. Diese Haltung könnte auch den wachstumspolitischen Diskurs befruchten. Abwegig? Wie sagte Herman Daly einmal so schön: Politische Wunder sind weitaus wahrscheinlicher als physikalische.
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Dieser Beitrag erschien zuerst im «Standard»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor lebt und arbeitet in Wien. Zu seinen Publikationen gehören die Bücher "Die Zukunft des Wachstums", "Endlich im Endlichen" und zuletzt "Irgendwas ist immer. Zur Politik des Aufschubs" (alle beim Metropolis-Verlag).
In diesem Artikel kommt die weitverbreitete Unkenntnis der grundlegenden ökonomischen Gesetzmässigkeiten zum Ausdruck. Mit diesem Unvermögen verleiten die Medien die Leser und Zuhörer zu falscher Beurteilung der Lage und Politiker fällen nachhaltig falsche Entscheide. Was ist falsch?
In jedem Wirtschaftsraum, wo die Bevölkerungszahl wächst, muss die Wirtschaftsleistung steigen; dies bedeutet Wachstum.
Wo das Bildungsniveau steigt, steigen die Bedürfnisse und der Wille, mehr zu leisten; dies bedeutet Wachstum.
Attraktive Wirtschaftsräume (D, CH, Indien, Ferner Osten) bewirken Migration und Bevölkerungszunahme; dies bedeutet Wachstum.
Wachstumsbremsen führen zu Verarmung und dies ist nicht zwingend ökologischer. Das wirtschaftliche Wachstum der letzten Jahrzehnte hat Millionen Menschen ermöglicht, ein menschenwürdigeres Leben zu führen, die Kinderzahl zu reduzieren und generell umweltschonender zu leben.
Wachstum ist nicht per se schlecht; wenn es mit Wertschöpfung verbunden ist, generiert es Mittel für Innovation und Investition in Nachhaltigkeit und damit in Ressourcen schonenderes Wachstum.
Wirtschaftliches Wachstum ist nicht nachhaltig, wenn es nicht parallel mit Innovation begleitet wird, die Ressourcen effizienter verbraucht. Dann kann Wachstum auch globale Nachhaltigkeit bringen. Hier muss angesetzt werden, anstatt dumm und verantwortungslos wirtschaftliches Wachstum undifferenziert zu blockieren oder schlecht zu schreiben.
Töricht ist, vorzuschlagen, nur noch 21h zu arbeiten und damit Nachhaltigkeit zu schaffen: weshalb arbeiten wir heute nicht 21h? Weil unsere Ansprüche mit dem Lohn von 21h nicht erfüllen können. Wer mit weniger zufrieden ist, kann heute schon Teilzeit arbeiten.
Das Thema und die aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen verlangen etwas mehr Sorgfalt und Kenntnisse…
@Ignaz Heim
Sie schreiben leider an der Sache vorbei:
1. Mit Wirtschaftswachstum ist stets das Wachstum des BIP pro Kopf gemeint.
2. Wachstum in Entwicklungs- und Schwellenländer bringt der dortigen Bevölkerung tatsächlich mehr Vor- als Nachteile. Hier ist aber vom weiteren BIP-Wachstum in Industrieländern die Rede. Der Mehrheit von deren Bevölkerung bringt dieses Wachstum schon seit längerem mehr Nachteile als Vorteile.
3. Sie schreiben «Wer mit weniger zufrieden ist, kann heute schon Teilzeit arbeiten». Schön wär’s. Fast alle finanziellen Anreize sind heute (dem Wachstum zuliebe) so gesetzt, dass Unternehmen an Vollzeitbeschäftigten interessiert sind. Teilzeitbeschäftigte werden erst noch bestraft, weil die ersten rund 24’000 Franken des Einkommens bei den Pensionskassen nicht versicherbar sind.
Sobald die Menschen vernünftiger leben, weniger herum fliegen, weniger häufig ein neues Auto kaufen oder eine Einschränkung des Zweitwohnungsbaus beschliessen, wird ihnen von Ökonomen, Politikern und den Medien vorgeworfen, sie seien schuld daran, dass es der Flugbranche, der Autoindustrie oder dem Baugewerbe nicht mehr so gut gehe und diese Arbeitsplätze abbauen müssen. Es herrsche «schlechte Konsumentenstimmung». Sorgen Sie dafür, dass bescheideneres Leben belohnt und wieder geachtet wird, anstatt über Wachstumseinbussen zu jammern.
Ich empfehle die Lektüre des Buches «Schluss mit dem Wachstumswahn – Plädoyer für eine Umkehr», das ich zusammen mit Hanspeter Guggenbühl publiziert habe.