Corona vermindert die Produktivität stärker als den Umsatz
Besonders drastisch verändern die Massnahmen gegen die Corona-Epidemie, die der Bundesrat verordnete, das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bei den Bahnen: «Im SBB-Personenverkehr ist aufgrund der ausserordentlichen Lage die Nachfrage um 80 bis 90 Prozent zurückgegangen», antwortete die Medienabteilung am 23. April auf Anfrage von Infosperber. Ihr Angebot aber senkten die SBB mit ihrem «Übergangsfahrplan» lediglich um 25 Prozent. Und das nur temporär. Denn ab Montag dieser Woche bauen die SBB ihr Angebot «schrittweise» wieder aus. Sie reagierten damit auf den Entscheid des Bundesrats, wonach ab dem gleichen Tag Baumärkte, Gartencenter und Coiffeur-Salons wieder öffnen dürfen.
Höheres Angebot, eingeschränkte Nachfrage
Das Missverhältnis von Angebot und Nachfrage im öffentlichen Verkehr dürfte sich damit kurzfristig noch akzentuieren und die Produktivität der SBB, gemessen an der Sitzplatz-Auslastung, weiter senken. Denn zu Gartenzentren und zum Coiffeur fahren nur wenige Kunden per Bahn. Zudem erinnerten die SBB in der gleichen Medienmitteilung, in der sie ihren schrittweisen Angebots-Ausbau ankündigten, ihre Kundschaft an die Empfehlungen des Bundesamts für Gesundheit: «Insbesondere ist auf Freizeit- und touristische Fahrten weiterhin zu verzichten; und es soll wenn möglich weiterhin im Homeoffice (altdeutsch: Heimbüro, d.V.) gearbeitet werden.»
Das Vorgehen der SBB mag angesichts der leeren Züge paradox erscheinen; private Anbieter jedenfalls verknüpfen ihr erweitertes Angebot kaum je mit der Empfehlung, es möglichst nicht zu nutzen. Doch auch in anderen Branchen senkt die Corona-Epidemie die wirtschaftliche Produktivität massiv. Dies illustrieren folgende Beispiele:
– Die jetzt bevorzugten Gärtnereien und Gartenzentren züchteten Millionen von Setzlingen und Blumen, die sie in den letzten Wochen kompostieren mussten, weil sie ihre Pflanzen nicht rechtzeitig verkaufen konnten.
– Der Tourismus hält ein riesiges Angebot aufrecht, für das auf unabsehbare Zeit keine oder nur eine kleine Nachfrage besteht. So ist jede nicht genutzte Logiernacht ebenso unwiederbringlich verloren wie Fahrten mit Bergbahnen oder Besuche von Sehenswürdigkeiten.
– Die Ölindustrie pumpt weiterhin ein zu grosses Angebot aus dem Boden, das sie teuer einlagern oder zu Dumping- bis zu Negativpreisen absetzen muss.
– Die meisten Flugzeuge stehen still, und diejenigen, die es noch braucht, um den – nicht eingeschränkten – Warenverkehr zu bewältigen, fliegen mehrheitlich unproduktiv, weil der Personentransport wegfällt. Auch der Besetzungsgrad der Autos dürfte im Gefolge der Distanzregeln noch tiefer gefallen sein, als er ohnehin schon war.
Umsatz sinkt, aber was zählt ist die Produktivität
Der volkswirtschaftliche Umsatz, gemessen am teuerungsbereinigten Bruttoinland-Produkt (BIP), ist im März und April eingebrochen und dürfte auch nach den gelockerten staatlichen Einschränkungen tief bleiben. Die Weltwirtschaft werde 2020 gegenüber dem Vorjahr um drei Prozent, jene der Industriestaaten im Schnitt um sechs Prozent sinken, schreibt der Internationale Währungsfonds (IMF) in seiner Prognose von Mitte April. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) erwartet, dass das BIP der Schweiz im ganzen Jahr 2020 um 6,7 Prozent unter das Niveau des Vorjahres fallen wird.
Doch relevanter als der Umsatz ist die Produktivität einer Volkswirtschaft, also ein möglichst gutes Verhältnis zwischen tiefen Kosten und hohem Ertrag. Diese Produktivität dürfte 2020 nun noch stärker abnehmen als der Umsatz, also das BIP. Denn selbst wenn alle Geschäfte im In- und Ausland wieder öffnen, können sie aufgrund der Abstandsregeln pro Quadratmeter Verkaufsfläche weniger Kundinnen bedienen als früher Aus dem gleichen Grund lassen sich Flugzeuge oder Seilbahnen, wenn sie wieder fahren, weniger gut auslasten. Die tiefere Auslastung wiederum erhöht die Kosten pro Angebots-Einheit. So benötigen Anbieter höhere Kapazitäten oder mehr Fläche oder mehr natürliche Ressourcen, um gleich viel Umsatz zu erzielen. Oder sie müssen personalaufwendige Sonderregelungen treffen. In all diesen Fällen sinkt die Produktivität (sei es die Arbeitsproduktivität, Kapitalproduktivität, Ressourcenproduktiviät oder die Produktivität von allem zusammen).
Zusätzliche Verschuldung stützt das Angebot
Die Differenz zwischen sinkendem BIP und noch stärker sinkender wirtschaftlicher Produktivität zahlen zurzeit die Staaten mit wachsender Verschuldung. Beispiel: Die Schweiz und andere Länder unterstützen brach liegende Arbeitskräfte mit Kurzarbeits-Entschädigung. Oder: Banken gewähren zusätzlichen Kredit und der Staat bürgt dafür, damit stillgelegte Firmen nicht untergehen, ihre bisherige Produktionskapazität erhalten und/oder ihre Mieten zahlen können.
Für alle staatlichen Stützungsmassnahmen zusammen rechnet allein die Schweiz im laufenden Jahr mit einem Aufwand im Umfang von 60 bis 100 Milliarden Franken. Ohne diese gewaltige staatliche Stützung würde das BIP 2020 noch viel stärker sinken, als es der IMF und das Seco prophezeien. Allerdings droht damit eine massive Erhöhung der Staatsschulden. Diese zusätzliche Verschuldung kann die Schweiz, die in den Vorjahren Staatsschulden abgebaut hat, immerhin besser verkraften als andere Staaten wie etwa die USA oder Italien, die schon vor der Corona-Krise einen viel höheren Schuldenberg auftürmten.
Mit den genannten Stützungsmassnahmen verfolgen die Regierungen das Ziel, Arbeitsplätze zu erhalten und staatliche sowie private Unternehmen vor dem Untergang zu bewahren, damit sie ihre Kapazität aufrechterhalten und erneut mit voller Kraft produzieren können, sobald die Nachfrage wieder anzieht. Solche Staatshilfe lässt sich kurzfristig rechtfertigen, zumal dort, wo der Staat mit verordneten Betriebsschliessungen oder empfohlenem Hausarrest den Stillstand selber verursach hat.
Angebot abbauen statt Konsum ankurbeln
Problematisch wird die kurzfristig gerechtfertigte staatliche Stützung des Angebots , wenn sie längere Zeit beibehalten wird. Denn es besteht das Risiko, dass das Angebot noch längere Zeit grösser bleibt als die Nachfrage. Das rührt einerseits daher, dass der Staat mit seinen Notmassnahmen die Arbeit sowie alle weiteren Produktionsfaktoren viel weniger stark einschränkte als die Nachfrage. So läuft zurzeit ein Grossteil der Produktion (notfalls via Heimbüro) ohne grosse Einbussen weiter, während man in geschlossenen Läden oder Beizen nicht mehr konsumieren kann.
Andererseits könnten Bürgerinnen und Bürger, denen der Staat zwecks Eindämmung der Epidemie einen partiellen Konsumstopp aufbrummte, oder die aus Angst vor dem Virus freiwillig auf Einkäufe verzichteten, künftig auch aus freiem Willen weniger konsumieren. Ausgeschlossen ist nämlich nicht, dass Leute, die während der Epidemie die Freuden eines weniger konsumintensiven Lebens entdeckten, diesen neuen Lebenssteil beibehalten möchten.
In dieser Situation bleiben politisch zwei Wege offen:
1. Der Staat kann entweder versuchen, die Nachfrage und damit die Wirtschaft «anzukurbeln», sei es mit Steuererleichterungen, Konjunkturprogrammen oder Subventionen; dazu gehört zum Beispiel die Finanzierung von Werbekampagnen, wie es aktuell die Tourismusbranche fordert. Damit würde auch die Ausbeutung und Belastung der Natur ab 2021 wieder zunehmen.
2. Oder die Politik kann zulassen, dass die Wirtschaft ihr zu hohes Angebot der tieferen Nachfrage anpasst, indem sie zum Beispiel auf staatliche Unterstützung von Fluggesellschaften oder den Ausbau von Verkehrswegen verzichtet. Eine Anpassung des Angebots an den tieferen Konsum kann die Politik auch aktiv fördern, sei es mittels Verkürzung der Arbeitszeit, Förderung von Teilzeit-Pensen oder der Erhebung von Lenkungsabgaben auf umweltbelastenden Produkten.
Im Interesse von Menschen und Umwelt, so meine ich, ist der zweite Weg vorzuziehen. Denn er vermindert die Menge an Material sowie Energie, steigert damit die ökologische Produktivität in der Produktion und die Effizienz des Konsums in Form von weniger Verschwendung und mehr Lebensqualität.
Weitere Artikel zum Thema:
– «SBB: Der Bahnverkehr wächst auf Pump»
– DOSSIER: Führt Wachstum zum Glück oder Crash
– DOSSIER: Coronavirus: Information statt Panik
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Hanspeter Guggenbühl ist Mitautor des Buches: «Schluss mit dem Wachstumswahn», Somedia-Verlag, Edizion Rüegger 2010.
Mit der Steigerung der Effizienz des Konsums bekäme wohl auch die Kreislaufwirtschaft den notwendigen Auftrieb, was der Gesellschaft wie der Umwelt dienen kann.
Ja, das ist fatal. Denn in diesem unserem System ist Kostenminimierung, sprich Profitmaximierung das Allerheiligste. Und nicht etwa das Wohlergehen der Menschen und der Natur.
Ceterum censeo capitalismum esse delendum (frei nach Cato, dem Älteren)
Ich stimme völlig zu, dass die Krise eine notwendige Anpassung bedeuten könnte und der Staat nicht durch Stützung des Angebots Märkte aufpumpen sollte, die sich aus Sicht klimabewusster Konsumenten überlebt haben. Ich habe allerdings Probleme damit, dass man das unter unter dem Titel «Verminderung der Produktivität» abhandelt, das ist eine unter bestimmten ökonomischen Prämissen sehr negativ konnotierte Beschreibung, die sich am Ende auch noch als unvollständig erweist, wenn man die ökologischen «Produktivität» hinzunimmt. Ein Missverhältnis zwischen hoher Produktivität und Märkten, die sie aufnehmen, ist eigentlich noch keine verminderte Produktivität, sonst wäre eine solche Krise ja gleich zu behandeln wie ein Nachlassen der Produktivität aus demographischen oder technischen Gründen. Das Beispiel SBB ist besonders interessant, denn selbst die Klimaschützer rechneten bisher mit einem Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Dass die Mobilität insgesamt durch abnehmende Nachfrage zurückgehen könnte, war und ist weitgehend undenkbar. Eine Angebotsverknappung ausgerechnet im öffentlichen Verkehr, bevor sich das neue Normal herausgestellt hat, wäre aber sicher der falsche Weg. Da möchte ich doch lieber erst noch auf ein paar Autos verzichten. Dass die weiter ungehemmt unterwegs sein können, wenn auch faktisch weniger rumfahren, hat jetzt wirklich nur mit einer Nachfrageverzerrung durch die Ansteckungsvermeidung zu tun.