Billige Shirts und Textilien gibt es nicht ohne Sklavenarbeit
Red. Der Autor ist Gründer und Präsident der gemeinnützigen US-NGO Transparentem. Diese setzt sich ein gegen Menschenrechts- und Umweltverstösse in den globalen Lieferketten.
T-Shirts für 13 Dollar
Mode ist das wahre Opium der Massen. Während die Inflation den Wohlstand der Mittelschicht abschöpft, erhalten die Konsumentinnen und Konsumenten der USA einen Trostpreis: Kleider sind spottbillig. 1993 konnte man ein T-Shirt für 13 Dollar kaufen – damals der Betrag für eine mittelgrosse Tankfüllung. Heute würde diese mehr als dreimal so viel kosten. Doch das T-Shirt ist bloss noch 12,74 Dollar wert.
Der K-Tipp hat einige Einkaufspreise der Geschäfte herausgefunden:
Calvin Klein Poloshirt, Männer (jeweils in CHF) | 9.90 |
Gant Tank Top, Frauen | 6.67 |
Hugo Boss Businesshemd Stretch-Jersey, Männer | 11.57 |
Hugo Boss Sweatshirt mit Kettenkragen, Männer | 32.65 |
Nike Men’s Sportswear Jacket, Männer | 11.44 |
Tommy Hilfiger Knit Top, Frauen | 4.76 |
Tommy Hilfiger Extra Slim T-Shirt, Männer | 7.20 |
WE Fashion Regular Fit Hose, Frauen | 9.11 |
WE Fashion Blazer Marly, Frauen | 11.86 |
WE Blazer einreihig, Frauen | 10.50 |
Die Katastrophe in Bangladesch: ohne Konsequenzen für die Ausbeutung
Wir kennen die menschlichen Kosten für diese Spottpreise. An einem schwülen Tag vor zehn Jahren schlugen Arbeiterinnen und Arbeiter der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch wegen Rissen im Gebäude Alarm. Als Reaktion drohte man ihnen mit dem Einbehalten eines ganzen Monatslohns, wenn sie zu Hause blieben. Am nächsten Tag stürzte das Gebäude ein. 1134 Menschen kamen ums Leben und über 2500 wurden verletzt.
Ein rechtlich bindendes Abkommen zwischen Gewerkschaften und einigen Herstellern von Markenkleidern verbesserte in der Folge zwar die Gebäudesicherheit in Bangladesch. Während dieses eine Problem angegangen wurde, ergeht es jedoch den Menschen, die in dieser Branche arbeiten, noch schlechter als zuvor. In den letzten zehn Jahren wurden die weltweit über 75 Millionen schutzbedürftigen Arbeiterinnen und Arbeiter in der Textilindustrie immer weniger honoriert, analog der von ihnen hergestellten Produkte.
Die Textilindustrie als Motor der Industriellen Revolution
Das war nicht immer so. Von der Industriellen Revolution bis zum Ende des Kalten Krieges war die Textilindustrie weltweit der wichtigste Antrieb für die menschliche Entwicklung. Mitte des 19. Jahrhunderts ermöglichte der Textilhandel im englischen Manchester technologische Sprünge, die zu höheren Löhnen und niedrigeren Preisen für Konsumgüter führten.
Um 1900 bauten jüdische und andere Einwanderer aus Osteuropa das Textilviertel von Lower East Side nicht nur zu einer Quelle des Wohlstands, sondern auch zur Vorhut einer nationalen Bewegung für fortschrittliche Arbeitsrechte aus. In den 1960er Jahren bildete die Textilindustrie in Südkorea den Grundstein für den wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit und expandierte dann in andere asiatische Länder.
Nach den Wirtschaftsreformen von Deng Xiaoping löste die chinesische Textilindustrie ein unvergleichliches Wirtschaftswachstum aus und trug damit zur Befreiung eines grossen Teils der Menschheit aus der absoluten Armut bei. Für Milliarden von Menschen wurde die Textilindustrie zum Ausweg aus der landwirtschaftlichen Subsistenzwirtschaft.
Heute stottert dieser Motor allerdings schon im ersten Gang. Eine Arbeiterin oder ein Arbeiter in der Textilindustrie verdient durchschnittlich kaum die Hälfte des Lohns, der für ein würdiges Leben erforderlich ist. Der monatliche Mindestlohn in der Textilindustrie beträgt in Bangladesch fünfundsiebzig Dollar. Jemand verdient also weniger als drei Dollar pro Tag. Viele können sich Grundnahrungsmittel wie Fleisch nicht mehr leisten.
Fast Fashion als Hauptursache der Misere
Der offensichtliche Sündenbock für die miserablen Arbeitsbedingungen vieler Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter ist die Fast Fashion. Dieses Geschäftsmodell wurde vom Zara-Gründer Amancio Ortega (Nummer 14 auf der Milliardärsliste von Forbes) populär gemacht. Es reagiert auf Laufstegtrends mit einer schnellen Produktion. Allerdings sind Unternehmen wie Shein mit seinen unglaublichen Niedrigpreisen und undurchsichtigen Lieferketten bloss das Symptom, nicht aber die Ursache.
Ein Treiber für Fast Fashion sind die Kaufgewohnheiten der so genannten Millennials. Diese gehören zur ersten US-amerikanischen Generation, denen es im Alter von dreissig Jahren wirtschaftlich schlechter geht als ihren Eltern. Die Millennials wurden während der grossen Rezession unter hoher Verschuldung durch Studienkosten erwachsen. Die Inflation führte ausserdem dazu, dass alles, was man zum Leben braucht (Wohnen, Energie und Lebensmittel) für viele unerschwinglich geworden ist. Das hat zur Folge, dass viele junge US-Bürgerinnen und US-Bürger nicht ihrem sozialen Standard gemäss leben können.
Schuldknechtschaft und Sklavenarbeit
Dieser Abwärtsdruck hat in Verbindung mit der abnehmenden Arbeitskraft dazu geführt, dass die auf 1,5 Billionen Dollar bezifferte Textilindustrie in einen Zustand des weit verbreiteten Missbrauchs geraten ist. In den frühen Jahren der Industrialisierung wäre dies kaum aufgefallen. 2022 hat die Zollbehörde der USA Waren im Wert von 816.5 Millionen Dollar zurückgehalten, bei denen gegen das Gesetz gegen Zwangsarbeit verstossen worden war. 2020 waren es noch Waren im Wert von 55 Millionen Dollar gewesen, darunter auch Kleider. Die von mir gegründete NGO Transparentem hat zahlreiche Missstände in den Lieferketten von Dutzenden von Unternehmen aufgedeckt, darunter Zwangsarbeit, Kinderarbeit und stark verschmutzte Arbeitsumfelder.
In Malaysia und anderen von uns untersuchten Ländern, in denen Kleider hergestellt werden, berichteten Arbeiterinnen und Arbeiter, dass sie alle in derselben Falle stecken: Schuldknechtschaft nach der Zahlung exorbitanter Gebühren an skrupellose Anwerber.
Die Textilfirma stellt den Kontrolleur an
Die Textilindustrie leidet unter dem, was Ökonomen ein Zuständigkeitsproblem nennen. Die Hersteller von Markenkleidern verlassen sich auf Inspektionen, welche Verstösse in den Fabriken aufdecken, und verlangen dann oft von den Fabriken die Übernahme der Kosten für diese Inspektionen. Es überrascht nicht, dass die typischen Rechnungsprüfungen knapp und unzuverlässig sind. Zudem sind sie gemäss unseren Recherchen leicht zu umgehen. Die Zulieferer, die ohnehin mit sehr kleinen Gewinnmargen arbeiten, können es sich nicht leisten, Kundschaft zu verlieren. Das können auch die Inspektoren nicht, sodass diese ihre Auftraggeber nicht genau unter die Lupe nehmen…
Die Millennials als Hoffnungsträger
Jüngere Konsumentinnen und Konsumenten, die in der Regel fortschrittlich und gegenüber dem Schein skeptisch sind, bilden die Hoffnung für einen Wandel in der Welt. Sie machen sich Gedanken über ethischen Konsum und betrachten ihn als eine Frage der eigenen Identität. 2015 gaben 73 Prozent der Millennials weltweit an, dass sie für nachhaltige Produkte mehr bezahlen würden. Diese Zahl könnte noch wachsen, da die Einkommen der Millennials weiter steigen. Millionen von Nutzerinnen und Nutzern von Webseiten wie Poshmark und Depop sind Millennials und Angehörige der Generation Z. Diese Webseiten sind darauf spezialisiert, Menschen beim Kauf und Verkauf von Gebrauchtkleidung zu unterstützen. Viele suchen nach einer Möglichkeit, den Fast-Fashion-Konsum gänzlich zu vermeiden.
Viele junge Konsumentinnen und Konsumenten sind auch von der Wahrheit besessen und glauben nicht an das oberflächliche Greenwashing oder die fadenscheinigen Behauptungen einiger Markenhersteller über deren ethische Produktion. Das sollten sie auch nicht. Bislang versuchen nur wenige Unternehmen (Patagonia ist eine seltene Ausnahme), die wirklichen Arbeitsbedingungen in ihren Lieferketten nach aussen transparent zu machen. Obwohl junge Konsumierende bereit sind, für nachhaltige Produkte mehr zu bezahlen, fehlt den Markenherstellern für den Verkauf die nötige Transparenz.
Schrittweise zu besseren Arbeitsbedingungen
Hier liegt eine Chance. Den ethischen Konsumentinnen und Konsumenten ist es ein Anliegen, dass es den Herstellern ihrer Kleidung gut geht. Als ersten dringenden Schritt müssen Textilunternehmen vollständige und detaillierte Sozialaudits veröffentlichen, welche die Arbeitsbedingungen in der gesamten Lieferkette bewerten. Eine solche Offenlegung würde es allen Akteuren ermöglichen, die Inspektoren zu kontrollieren und schrittweise an einem umfassenderen Monitoring teilzunehmen.
Als zweiten Schritt sollen alle Textil- und Schuhunternehmen die Verpflichtung zur verantwortungsvollen Personalbeschaffung unterzeichnen. Die Unterzeichner verpflichten sich, dafür zu sorgen,
- dass keine Arbeitskraft in der Lieferkette für die Anwerbung bezahlt (was oft zu Zwangsarbeit führt):
- dass alle ihre Reisedokumente behalten und ihre Bewegungsfreiheit wahren können;
- dass Arbeitskräfte aus anderen Ländern in der eigenen Sprache über die wahren Arbeitsbedingungen informiert werden, bevor sie ihr Heimatland verlassen.
Echte Transparenz bedeutet auch, dass Unternehmen mehr Zeit und Geld investieren müssen, um den Menschen, die ihre Kleidung herstellen, zuzuhören und auf sie einzugehen. Für die Konsumentinnen und Konsumenten wird das T-Shirt zwar mehr als 12,74 Dollar kosten. Aber für Millionen von Arbeiterinnen und Arbeiter, deren Freiheit und Sicherheit tagtäglich bedroht sind, ist dies nicht mehr als ein erster Schritt hin zu einem würdigen Leben.
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Dieser Beitrag erschien als Gastbeitrag am 24. April in der New York Times. Übersetzung aus dem Englischen: Josef Estermann
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
E. Benjamin Skinner ist Gründer und Präsident der gemeinnützigen US-NGO Transparentem. Diese setzt sich ein gegen Menschenrechts- und Umweltverstösse in den globalen Lieferketten. Skinner ist Autor von «A crime so monstrous: Face-to-face with modern-day slavery» (2008).
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Das hat die Elite eingeführt….Globalisierung…
Zur Geschichte: einerseits ist es richtig, dass die Textilindustrie für Fortschritt und Wohlstand sorgte, andererseits war sie auch schon damals ein Mittel der Ausbeutung: Engländer bauten Baumwolle billig in Indien an, stellten damit teure Klamotten in England her, zwangen die Inder, das zu kaufen und machten ungeheure Profite – um darauf hinzuweisen, trug der Mahatma Selbstgesponnenes. Die Einführung automatisch-mechanischer Webstühle stürzte zehntausende Weber ins Elend und sorgte für eine brutale Arbeitswelt ohne Freizeit, ohne Wochenende, Kinderarbeit und eine Lebenserwartung von ca. 40 Jahren. Der europäische Textilarbeiter hatte im 19. Jhdt. eine Sklaverei zu erdulden, die um einiges schlimmer war als die Ausbeutung in Asien und Afrika heutzutage. Heute haben wir ein anderes Problem: bei uns sind die Abgaben auf Lohnarbeit viel zu hoch, als dass sich eine einheimische Textilindustrie wieder gewinnbringend betreiben ließe – da müsste man ran.
Auch bei uns gibt es Sklavenarbeit. Das Gefälle ist einfach anders. Doch das Verhältnis der Lebenshaltungskosten zu all denjenigen, welche für 1.50.- pro Stunde und einer IV-Rente in einer Behindertenwerkstatt arbeiten, oder zu denjenigen welche auf dem Existenzminimum leben durch eine Invalidenrente und noch ehrenamtliche Arbeit leisten, zertifiziert z.B. durch Benevol, diese haben das Existenzminimum. Zusatzleistungen müssen je nach Kanton und Diagnose hart erkämpft werden. Es ist nicht überall so, es ist nicht immer so, doch es kommt so oft vor, dass die Angst viele daran hindert, überhaupt eine Invalidenrente zu beantragen. (Ich empfehle das Buch: Das Geschäft mit der Angst von Alphons Silbermann und die Literatur von Jean Ziegler) Der Kapitalismus wird durch schamlose Vasallen zerstört, welche daraus mangels Kontrolle durch die Politik eine Diktatur machen. Wie tief muss die Schweiz noch sinken, bis das grosse Aufwachen kommt? Je länger es dauert, desto schmerzhafter wird es.