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Kinderarbeit: Schuhputzer im bolivianischen Santa Cruz. © Alberto/flickr/cc

Arbeitende Kinder verlangen mehr Schutz und Rechte

Jürg Lehmann /  Noch immer arbeiten Millionen Kinder und Jugendliche in der ganzen Welt unter miesen Bedingungen. Aber sie setzen sich zur Wehr.

Victor Chipani begann zu arbeiten als er 10-jährig war – jeden Tag akquirierte er Passagiere für die öffentlichen Mini-Busse in El Alto, ausserhalb der bolivianischen Hauptstadt La Paz. Jetzt ist er 15 und arbeitet in diesem Job von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends für weniger als ein Dollar pro Stunde. Und das von Montag bis Freitag. Sein Einkommen hilft mit, acht Geschwister zu ernähren und die Kosten für die Schule zu decken, die er nach der Arbeit besucht. Er will kein Mitleid. Er könne sich selber verteidigen – mit der Gewerkschaft. «Gemeinsam», sagte er der Website time.com, «können wir etwas erreichen».

Eine Bewegung setzt sich durch

Victor gehört zu einer Bewegung, die durch Lateinamerika schwappt. In Ländern wie Bolivien haben sich über 100 000 Kinder und Teenagers organisiert, um ein Recht auf Arbeit zu verteidigen und von den Regierungen mehr Schutz und bessere Job-Konditionen zu fordern. «Wir alle möchten in einer Welt leben, in der Kinder nicht arbeiten müssen», sagt die 17-jährige Noemi Gutiérrez von der bolivianischen Gewerkschaft für Kinder und Jugendliche, Unatsbo (Unión de Niños, Niñas y Adolescentes Trabajadores de Bolivia: sie vertritt 15 000 Kinder und Jugendliche zwischen 8 und 18). Aber die wirtschaftlichen Verhältnisse seien nun mal nicht so. Kinder müssten arbeiten, um ihre Familien zu unterstützen.

Die Internationale Arbeits-Organisation (ILO) in Genf schätzt, dass weltweit 216 Millionen Kinder und Jugendliche zwischen 5 und 17 Jahren in den Arbeitsprozess eingespannt sind, davon 14 Millionen allein in Lateinamerika. Sie arbeiten in der Landwirtschaft, in Haushalten, auf Märkten oder in Minen. 150 von 185 Mitgliedstaaten haben die ILO-Konventionen ratifiziert, die ein Arbeits-Mindestalter verlangen (13, 14 oder 15) und versprechen, die schlimmsten Formen von Kinderarbeit zur eliminieren.

Millionen im rechtlichen Vakuum

Dank den ILO-Konventionen müssen inzwischen Millionen von Kindern nicht mehr ihr Leben buchstäblich täglich aufs Spiel setzen. Andererseits arbeiten noch immer Millionen in einem rechtlichen Vakuum. In Bolivien sollen es allein rund eine Million sein. Sie arbeiten ein paar Stunden pro Tag in den Feldern, putzen in städtischen Strassen Schuhe, schleppen Waren oder werden in Kleinbetrieben beschäftigt.

»Wir werden diskriminiert und niemand fühlt sich für uns verantwortlich», sagt der 16-jährige Unatsbo-Präsident José Guillermo Mamani. Time. com zitiert Mabel Duran, die in Bolivien das Bundesbüro zur Bekämpfung von Kinderarbeit leitet. «Eine gesetzliche Regelung für Kinderarbeit würde bedeuten, sie zu akzeptieren und zu legitimieren», sagt sie: «Wir wollen nicht in diese Richtung gehen.» Ausserdem wolle man nicht, dass die international vereinbarten Alterslimiten unterschritten würden.

Der Schulbesuch ist Pflicht

Wenn Regierungen nicht handeln, müsse man sich halt selber helfen, sagen Unatsbo und andere Gewerkschaften. Die erste wurde in Peru vor 35 Jahren gegründet. Heute gibt es in Lateinamerika acht davon: Bolivien, Peru, Ecuador, Venezuela, Guatemala, Kolumbien, Paraguay und Nicaragua. Sie werden finanziell von NGOs unterstützt. Ihre Mitglieder müssen eine Schule besuchen und sich an Projekten zur Verbesserung der Arbeitssituation beteiligen. In Ecuador wurden Genossenschaften etabliert, die bessere Konditionen für Kinder und Jugendliche anbieten; in Venezuela haben sich Käufer verpflichtet, von Kindern gezogene Agrarprodukte zu fairen Preisen zu übernehmen.

Die Gruppierungen machen auch politisch Druck. Anstatt Kinderarbeit zu stigmatisieren, sagt Noemi Gutiérrez, sollten sich Politiker überlegen, wie man die Armut beseitige, die Kinderarbeit hervorbringt. Unatsbo hat darum einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der die Rechte und den Schutz der Kinder verankert. Im Gegensatz zu den ILO-Konventionen setzt der Entwurf kein Mindestalter für die Aufnahme einer Arbeit fest. Das Gesetz soll für alle Kinder und Jugendliche bis zum 18. Altersjahr gelten. Es wird wird lediglich unterschieden zwischen arbeitenden Kindern (bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres) und arbeitenden Jugendlichen (vom 12. bis 18. Lebensjahr). Das bolivianische Parlament muss über das Gesetz entscheiden, das braucht noch Überzeugungsarbeit.

Ein glitschiges Terrain, sagen die Gegner

Tatsächlich ist nicht so sehr die Frage, was akzeptable Kinderarbeit ist und was nicht, in Lateinamerika der Kern Debatte, die Lebensumstände sind es. Kevin Beque (11) begann auf dem Markt Kleider zu verkaufen, als er 7-jährig war. «Meine Mutter wollte nicht, dass ich arbeite», sagte er zu time.com, «aber ich bestand darauf». Er tat es, weil er um die Geldsorgen seiner Eltern wusste. Für die ILO ist Kevin einer von fünf Millionen Kinderarbeiter mit erhöhtem Gefahrenrisiko in Lateinamerika, weil er unter 14 ist.

Grundsätzliche Gegner von Kinderarbeit sagen, die gewerkschaftlichen Anstrengungen der Kinder seien zwar lobenswert, aber das Terrain sei glitschig. «Unser Ziel ist es, das Recht der Kinder zu schützen, Kinder sein zu dürfen», verteidigt María Elena Reyes, ILO-Beauftragte in Bolivien, den Kampf gegen Kinderarbeit. Andere befürchten, die explizite Unterstützung von Kinderarbeit könnte dazu führen, Firmen und Menschenschmuggler noch mehr zu animieren, Jagd auf Kinder als billige Arbeitskräfte zu machen und damit 20 Jahre Fortschritt in diesem Bereich aufs Spiel zu setzen.

ILO will bis 2016 Fortschritte sehen

Die ILO selber machte aus Anlass des Welttages gegen Kinderarbeit am 11. Juni darauf aufmerksam, dass zwischen Absichten und Praxis in den Ländern nach wie vor eine «grosse Lücke» bestehe. Bis 2016, so das Ziel, sollen die schlimmsten Formen der Kinderarbeit aber ausgerottet sein. Im Hinblick darauf bleibe «noch sehr viel zu tun» meldet die ILO. Die Weltorganisation hat jüngst mitgeteilt, das allein 5 Millionen Kinder heute noch Zwangsarbeit verrichten müssen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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