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Blick von Europa nach Kleinasien: Die Ortaköy-Moschee und die Brücke über den Bosporus. © Wajahat Mahmood/flickr/cc

Die Postkartenidylle am Bosporus trügt

Red. /  Der Bosporus ist eines der meisten verschmutzten Gewässer der Welt. Aber nicht der Müll, die Abwässer sind das grosse Problem.

In den letzten 70 Jahren ist die Bevölkerung von Istanbul um das 15-fache gestiegen. Rund 15 Millionen Menschen leben an der Meerenge zwischen Europa und Kleinasien. Dieser rapide Zuwachs hat, zusammen mit der Industrialisierung und ihren Folgen, einen hohen Preis: Der Bosporus ist so stark verschmutzt, dass der auf dem Gewässer treibende und vom Ufer aus sichtbare Abfall inzwischen zur Normalität gehört.

«Fast sämtlicher Abfall wird ins Wasser gekippt. Die Bevölkerung ist schlicht zu gross und sie nimmt noch immer ständig zu», sagt Tanla Silay von der Turkish Marine Environment Association (Turmepa) der Online-Plattform «The Ecologist». Turmepa wurde 1994 gegründet und war eine der ersten türkischen Umweltorganisationen, die den Schwerpunkt auf den Gewässerschutz legte. Eines ihrer ersten Projekte war die jährliche «Bosporus-Reinigung». Im laufenden Jahr bestanden bisher beispielsweise 80 Prozent der aus dem Gewässer gefischten Abfälle allein aus Plastik!

Ugenügend gereinigte Abwässer

Das Hauptproblem aber ist nicht der Abfall, der in die Meerenge zwischen Europa und Kleinasien gekippt wird, es sind die Abwässer, die hineingepumpt werden. Tanla Silay sagt: «80 Prozent der Abwässer werden nicht richtig behandelt. Die Stadtverwaltung macht nicht vorwärts, weil damit hohe Kosten verbunden sind.» Umweltspezialist Gürdal Kanat , Dozent an der Yildiz Technical University in Istanbul, stimmt Silay zu. «Die Abwässer werden lediglich vor-gereinigt und nicht biologisch so behandelt, wie es nötig wäre.» Dieses System werde künftig nicht mehr genügen.

Laut Kanat hat die Stadtverwaltung eine dänische Firma damit beauftragt, eine Variante zur Abwasser-Behandlung zu evaluieren, die nicht so hohe Kosten verursacht wie moderne Kläranlagen nach heutigem Standard. In ihrem Report schlugen die Dänen vor, die Strömungen in der Meerenge zu nutzen. «Das mag für die nahe Zukunft noch genügen», so Kanat. Aber die Belastung mit Nitraten und Phosphaten werde weiter steigen. Dann werde man kostspieligeren Varianten nicht mehr ausweichen können.

Die «Veralgung» schreitet fort

Der Bosporus hat eine Tiefe zwischen 36 und 124 Metern. Die Meerenge ist 30 Kilometer lang und und misst an ihrer breitesten Stelle 3’700 Meter. Bereits ist der Eintrag von Nitraten und Phosphate so markant, dass von einer Eutrophierung gesprochen werden muss. Das ist eine Überdüngung, die dem Wasser Sauerstoff entzieht und zur «Veralgung» führt – das Ökosystem im Wasser wird auf den Kopf gestellt.

Heute entledigt sich die Millionenstadt der Abwässer mittels «Deep-Sea-Discharge». Das Wasser fliesst im Bosporus auf drei Strömungsebenen. Aus dem Schwarzen Meer fliesst ein Oberstrom, in umgekehrter Richtung fliesst vom Marmarameer her ein langsamerer Unterstrom. Die dritte Strömung nochmals unterhalb ist die sogenannte «Deep Sea Discharge», die von den Einrichtungen zur Abwasser-Behandlung stammt.

Die Behörden, die mit dem Meereswasser beschäftigt sind, die Istanbul Water und Sewerage Administration (Iski) und die Istanbul Metropolitan Municipality Marine Services Directorate (Istac). Istac wurde 1994 gegründet, aber die Behörde sandte bis 2004 kein einziges Schiff zur Reinigung in die Meerenge mit dem Argument, die türkische Gesetzgebung habe den Einsatz solcher Schiffe nicht erlaubt.

Frisches Wasser über kilometerlangen Tunnel

Laut Hürrem Bayhan von der Yildiz Technical University kontrolliert Iski die Wasserqualität in der Meerenge einmal monatlich: «Sie fahren vom Schwarzen Meer Richtung Marmarameer, um den Nitrat- und Phosphat-Gehalt zu messen», sagt Bayhan. Die Überwachung zeige, dass einer der am meisten verschmutzten Stellen am Goldenen Horn liege, weil dort die Wasserströmung gering ist. Die Stadtverwaltung plant nun, täglich 26’000 Kubikmeter frisches Wasser durch einen 14 Kilometer langen Tunnel dorthin zu pumpen – ein Vorschlag, der in diesem Jahr zum ersten Mal getestet wurde. Dabei wird das Wasser aus einem anderen Teil des Bosporus gefasst und an die verschmutzte Region geführt.

Währenddessen sammelt die Umweltorganisation Turmepa jedes Jahr in türkischen Gewässern 18’000 Tonnen verschmutztes Wasser und 1’000 Tonnen Abfall. In den letzten 50 Jahren ist die Biodiversität in türkischen Gewässern dramatisch zurückgegangen, mehr als 120 Fischarten sind in dieser Zeitspanne verschwunden.

Schöne Bekenntnisse, zu wenig Taten

Nicht nur finanzielle Gründe sind ein Hindernis, Umweltfragen in der Türkei nachhaltig zu verankern, es ist auch die Art und Weise wie die Menschen in der Türkei darüber denken. «Es gibt ein Dilemma zwischen Industrialisierung und Umweltschutz», sagt Kanat: «Die Menschen wollen bessere Häuser und Autos.» Bei Turmepa sieht man das auch so: «Wenn Sie einen Türken fragen, ob er sich als umweltbewusst einschätzt, wird er zustimmen, aber in der Realität sieht es vermutlich ganz anders aus.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Aus dem Englischen übersetzt. Verfasst hat den Originaltext die freie Journalistin Alina Lehtinen. Sie lebt in Istanbul.

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