Das Politikum Great Barrier Reef
Vielgestaltige Fische und Meeresgewächse, unglaubliche Farben, filigrane Pflanzen, die sich sachte in der Strömung wiegen: Was man hierzulande nur im Zoo bewundern kann, gibt es am anderen Ende der Welt sehr viel grösser: Das 2300 Kilometer lange und etwa 350‘000 Quadratkilometer grosse Great Barrier Reef ist nicht ein Riff, es sind tausende.
Die Rifflandschaft vor der australischen Küste ist eines der grössten Biotope weltweit, vergleichbar mit dem tropischen Regenwald. Seit den 1980er-Jahren ist sie als UNESCO-Welterbe anerkannt.
Menschlicher Einfluss hat dem sensiblen Unterwassersystem seither stark zugesetzt. Besonders empfindlich reagieren die Riffkorallen auf die durch den Treibhauseffekt höhere Wassertemperatur. Umweltverschmutzung und die zunehmende Versauerung des Wassers schaden ihnen ebenfalls. Etwa die Hälfte des Riffs sei bereits zerstört, schätzen Experten.
Lobbying statt Wissenschaft
Grund genug, das Great Barrier Reef auf die Liste des «gefährdeten» Weltnaturerbes zu setzen, fand die UNESCO noch im Juni. Der Zustand der Rifflandschaft sowie Prognosen zur weiteren Entwicklung seien «sehr schlecht».
Australien reagierte entsetzt. Es folgte ein umfangreicher Lobbying-Feldzug. Das Land lud ganze 14 Botschafter zum Schnorcheln ein und zeigte intakte Natur, die australische Umweltministerin ging auf Europareise. Im UNESCO-Welterbe-Gremium sitzen Vertreter von 21 Ländern. Bei der Abstimmung über die Neubewertung im Juli wurde die Neueinstufung mit 12 zu 9 Stimmen abgelehnt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit reagierten mit Unverständnis. 2023 wird erneut abgestimmt.
Der Vorschlag, das Great Barrier Reef auf die Rote Liste zu setzen, sei eine Strafaktion Chinas gewesen, das derzeit den UNESCO-Vorsitz innehat, argumentierte Australien. China reagiere damit auf australische Kritik an Menschenrechtsverbrechen. Das Great Barrier Reef sei die am genauesten beobachtete Naturlandschaft der Welt. Die Prognose sei dazu einseitig, den Korallen gehe es gar nicht so schlecht. Die Korallenbleiche, von der ein Grossteil aller Riffe weltweit betroffen sind, ginge schon wieder zurück.
Natürliche Schwankung oder echte Erholung der Korallen?
Tatsächlich ist das Korallenwachstum von Jahr zu Jahr stark schwankend, vor der Küste Australiens werden auch immer noch neue Korallenriffe entdeckt. 2021 stellte das «Australian Institute of Marine Science» (AIMS) ein erfreulich grosses Korallenwachstum fest. Das Institut begutachtet jährlich mehr als hundert Riffe stichprobenartig nach Augenschein.
Der Korallenbestand sei so vital wie seit den 1980er-Jahren nicht mehr, ja besser sogar, schloss der Wissenschaftler Peter Ridd, der seit Jahrzehnten zum Great Barrier Reef forscht. Die Prognosen seien übermässig alarmistisch, fand Ridd, legte dazu diese Grafik zur Bedeckung der Riffe mit lebenden Korallen vor und bezog sich dabei auf den AIMS-Report:
Es folgte fast umgehend Kritik durch andere Forschende, sowohl an der Person wie an der Darstellung und erst recht an den Schlussfolgerungen. Das AIMS teilt das Great Barrier Reef in drei Teile auf und führt die Ergebnisse getrennt auf. Weder im südlichen noch im zentralen oder nördlichen Teil findet sich ein nie dagewesener «Rekordbestand» an Korallen. Stattdessen hat die Bedeckung seit 1986 durchschnittlich abgenommen:
Ridd hat ähnliche Schlussfolgerungen bereits mehrmals publiziert, der Faktencheck einer Publikation von 2020 fand, dass die Korallenbedeckung der gesamten Rifflandschaft zwischen 1986 und 2020 von 26 auf 18 Prozent abgenommen hat. Was dazu kommt: Ridd ist ehemaliger Professor der australischen James Cook University, die ihn 2018 wegen wiederholter Verstösse gegen die universitären Verhaltensrichtlinien entliess. Eine Klage ist offen. Terry Hughes, weltweit anerkannter Experte und einer der prominentesten Kritiker von Ridds Thesen, forscht ebenfalls an der Cook University. Ridd fühlt sich in seiner Meinungsäusserungsfreiheit eingeschränkt, andere Forschende werfen ihm vor, Unsinn zu verbreiten, Wendungen der Geschichte sind von grossem medialem Interesse.
Australien wiederrum steht international in der Kritik, weil es nur wenige Anstrengungen macht, das Klimaabkommen von Paris einzuhalten, das die Erderwärmung auf 1,5 Grad oder wenigstens zwei Grad begrenzen soll. Stattdessen fördert und exportiert das Land umfangreich Kohle und Erdgas. Würde das Great Barrier Reef als gefährdet eingestuft, müsste sich Australien dafür einmal mehr rechtfertigen oder mehr für die Bekämpfung der Klimakrise tun.
Wie nachsehen, ob im Amazonas etwas Grünes wächst
Ridd habe nicht einmal grundsätzlich recht, sagen zahlreiche andere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Der Zustand des Riffsystems habe sich seit den 1980er-Jahren zunehmend verschlechtert. Die Regenerationsfähigkeit des Great Barrier Reef sei zwar vorhanden, sie nehme aber ab. Die Korallenbedeckung sei nur ein Element im Gesamtzustand des ganzen Riff-Ökosystems.
Diversität und Zusammensetzung der Korallen seien damit nicht abgebildet, darauf weist auch das AIMS in seinem Bericht hin. Schnellwachsende Korallen, die nach der letzten Bleiche gehäuft auftreten, seien beispielsweise empfindlicher für neue Bleichen, Stürme oder einen speziellen Seestern, der sich von ihnen ernährt. Überspitzt gesagt, ist lebende Korallen zu zählen also so ähnlich wie auf Luftaufnahmen nachzusehen, ob im Amazonasgebiet etwas Grünes wächst, um den Zustand des Regenwalds zu beurteilen.
Korallen sind keine Unterwasserpflanzen, sondern kleine Tiere. Die im Great Barrier Reef vorherrschenden Steinkorallen filtern Kalk aus Meerwasser und vorbeischwimmendem Plankton und lagern ihn an ihrem Fuss ab. So entstehen über einen langen Zeitraum mächtige unterseeische Berge.
Die millimeter- bis zentimetergrossen Korallenpolypen leben in Symbiose mit bestimmten Algen, mit denen sie Nährstoffe austauschen. Wird diese Symbiose gestört, bleicht die Koralle aus. Die bunten Unterwasserlandschaften werden weiss, weil nur noch das Kalkskelett der Koralle übrigbleibt. Geschieht Korallenbleiche in kleinem Umfang, können sich Korallen regenerieren. Können sie das über einen längeren Zeitraum nicht, wird das Riff abgetragen.
Die Wasserqualität im Korallenwald ist schlecht
Ursache des Korallensterbens können veränderte Umweltbedingungen wie Hitze, mechanische Zerstörung oder auch Stürme sein. Starke Zyklone kommen im Bereich des Great Barrier Reef alle paar Jahre vor.
Auch Landwirtschaft und Siedlungsbau im Einzugsgebiet, Häfen, Industrie und Überfischung setzen die Riffe unter Stress. Neben erodierendem Boden gelangen Stickstoff, Phosphor und Pestizide in das Meeresbiotop. Die UNESCO geht davon aus, dass schlechte Wasserqualität neben dem Klimawandel eine wichtige Rolle spielt und Australien nicht genügend dagegen unternimmt.
«Wie Shakespeare ohne Hamlet»
Auch unvorsichtiger und übermässiger Tourismus schadet Korallen. Dass die australische Regierung nicht erpicht darauf ist, diese wesentlichen Wirtschaftsmotoren einzuschränken, ist nachvollziehbar. Dazu ging sie schon früher wenig zimperlich vor.
Schon 2015 wurde im UN-Welterbe-Komitee diskutiert, das Riff als «gefährdet» einzustufen. 2016 liess Australien aus einem Bericht der UNESCO zur Bedrohungslage von Welterbestätten durch den globalen Temperaturanstieg Teile zum Great Barrier Reef entfernen. Das Great Barrier Reef aus einem Bericht zur Klimakrise zu entfernen sei «wie über Ölbohrungen zu schreiben, ohne Deepwater Horizon zu erwähnen» oder wie «Shakespeares Werke ohne Hamlet», schrieb der «Guardian». Australien führte Befürchtungen an, der Report könnte Touristen abschrecken.
Vor sieben Jahren mahnte auch ein US-Präsident
Und China? Beobachter halten eine politisch motivierte Neueinstufung des Great Barrier Reef für wenig wahrscheinlich. Das die UNESCO beratende Gremium IUCN (International Union for Conservation of Nature and Natural Resources) ist jedenfalls nicht chinesisch dominiert. 2014 mahnte auch Barack Obama in einer Rede den Schutz des einzigartigen Riffsystems an – ohne nennenswerte Reaktion der australischen Regierung.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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Keine
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Weiterführende Informationen
«Annual Summary Report of Coral Reef Condition 2020/2021», Australian Institute of Marine Science (AIMS)
«Despite 2021 being a good year for coral health…», Faktencheck Peter Ridd 2021, Climate Feedback
«Trotz kritischem Zustand Great-Barrier-Reef kein «gefährdetes» Welterbe», tagesschau.de
«Australien will Milliarden-Flughafen in die Antarktis bauen», Infosperber im Januar 2021
Dazu fällt mir folgendes Zitat des deutschen Kabarettisten Marc-Uwe Kling ein (der mit den «Känguru-Büchern»): «Ja, wir könnten jetzt was gegen den Klimawandel tun, aber wenn wir dann in 50 Jahren feststellen würden, dass sich alle Wissenschaftler doch vertan haben und es gar keine Klimaerwärmung gibt, dann hätten wir völlig ohne Grund dafür gesorgt, dass man selbst in den Städten die Luft wieder atmen kann, dass die Flüsse nicht mehr giftig sind, dass Autos weder Krach machen noch stinken und dass wir nicht mehr abhängig sind von Diktatoren und deren Ölvorkommen. [Und dass das Great Barrier Reef sich erholt und erhalten hat. – Ergänzung von mir] Da würden wir uns schon ärgern!»
Zu Bernd Kulawiks Komikerzitat:
Es könne auch sein, dass in 50 Jahren Verbesserungen für die Umwelt und ds Klima stattgefunden haben, gerade weil die von den Wissenschaftern vorgeschlagenen Massnahmen durchgeführt wurden.