Wölfe bereichern unsere Heimat
Mitten durch die stockdunkle Nacht ertönt das schauerlich-schöne Geheul eines Wolfes. Dann ist es für einen Moment still – bis ihm ein Artgenosse aus der Ferne antwortet. Möglich wäre es beispielsweise im Gebiet vom Calanda in Graubünden, ein solch seltenes Hörspiel miterleben zu können. Denn dort hat sich 2012 erstmals wieder ein Wolfsrudel in der Schweiz gebildet, seit dieses faszinierende Raubtier bei uns von den Menschen ausgerottet wurde.
Mit diesen langgezogenen Rufen können sich die Wölfe über eine weite Distanz von mehreren Kilometern untereinander verständigen. Das Heulen im Chor soll vor allem den Zusammenhalt innerhalb des ganzen Rudels bekräftigen und widerspiegelt die Stimmungslage. Ausserdem werden so fremde Artgenossen davor gewarnt, in das eigene Revier einzudringen.
Überlebenswichtige Familienbande
Allein dieses Beispiel mit dem Heulen zeigt, dass Wölfe über ein ausgeprägtes Sozialverhalten verfügen wie kaum eine andere Tierart. Denn einzig die Gemeinschaft bietet ihnen gute Überlebenschancen. Bei den in Europa vorkommenden Wölfen umfasst ein Rudel meistens zwischen fünf und zehn Tiere. In der Regel handelt es sich um eine Grossfamilie, die vom Elternpaar angeführt wird. Die Jungwölfe bleiben etwa bis im Alter von knapp zwei Jahren bei den Eltern, bevor sie die Geschlechtsreife erlangen und das Rudel verlassen, um sich ein eigenes Revier zu suchen. Dabei kann ein Wolf enorme Distanzen von mehreren hundert Kilometern zurücklegen.
Vielfältiges Sozialverhalten
Innerhalb des Rudels herrscht eine klare Rangordnung, wo jedes Mitglied seinen Platz hat. Konflikte untereinander werden meistens auf friedlichem Weg beigelegt, bevor es überhaupt zu ernsten Raufereien kommt. Wölfe können auf vielfältige Weise miteinander kommunizieren: Neben ganz unterschiedlichen Lauten wie Knurren, Winseln, Bellen oder Fiepen verfügen sie auch über eine sehr differenzierte Körpersprache.
Schon allein durch die Haltung des Schwanzes, die Stellung der Ohren oder der Gesichtsmimik kann ein Wolf seinen momentanen Gemütszustand zum Ausdruck bringen. Will beispielsweise ein rangniedriger Wolf ein anderes Rudelmitglied beschwichtigen, so nimmt er eine geduckte Körperhaltung ein und wendet den Blick ab.
Babysitter für den Nachwuchs
Die Paarung der Leittiere findet jeweils zwischen Dezember und Februar statt. Nach einer Tragzeit zwischen 63 und 65 Tagen bringt das Weibchen in einem zuvor ausgegrabenen unterirdischen Bau im Frühling drei bis zehn Welpen zur Welt. Davon überlebt jedoch höchstens die Hälfte die ersten paar Monate.
Die Jungen sind typische sogenannte «Nesthocker»: Die hilflosen Winzlinge wiegen bei der Geburt bloss 300 bis 500 Gramm und ihre Augen und Ohren sind noch verschlossen. Während der ersten sechs Wochen werden die Welpen von der Mutter gesäugt. Nach drei Wochen beginnen sie zum ersten Mal damit, ihre Umgebung ausserhalb der Höhle zu erkunden. Von jetzt an kümmern sich auch andere Mitglieder des Rudels um die Erziehung des Nachwuchses. Von ihren «Tanten» und «Onkeln» lernen die Welpen beim Spielen allmählich alle Verhaltensweisen, die sie später zum Überleben brauchen. Die Kleinen wachsen schnell heran und bereits im Herbst dürfen sie mit dem Rudel als «Lehrlinge» gemeinsam auf die Jagd.
Strategische Jagd
Bei der Jagd, die vorwiegend nachts stattfindet, ist Teamarbeit gefragt. Denn ein einzelner Wolf wäre niemals fähig, ein grosses Beutetier, zum Beispiel einen Hirsch, allein zu erlegen. Alle Rudelmitglieder sind aufeinander angewiesen. Wenn sie erst einmal die Witterung eines Beutetiers aufgenommen haben, folgen sie dem Hirsch und versuchen ihn von allen Seiten zu umzingeln. Bei dieser Verfolgung kann ein Wolf für kurze Zeit eine Geschwindigkeit von bis zu 60 Stundenkilometern erreichen.
Nun hat das Opfer praktisch keine Chance mehr zu entfliehen. Mit gezielten Bissen in die Beine und das Hinterteil versuchen die Wölfe zunächst, den Hirsch zu Fall zu bringen. Sobald das Tier am Boden liegt, erfolgt der rasche, tödliche Biss in die Kehle. Nebst Hirschen gehören hierzulande vor allem Rehe und Gämsen zu den bevorzugten Beutetieren der Wölfe.
Beitrag zu ökologischem Gleichwicht
Vorwiegend ältere, kranke oder schwächliche Jungtiere fallen den Wölfen zum Opfer. Denn um sie zu jagen, müssen die Raubtiere weniger Energie aufwenden und tragen gleichzeitig zur Gesunderhaltung ihrer Beutetierbestände bei. Wölfe sorgen dafür, dass die Populationen von Rehen und Hirschen nicht zu gross werden (siehe dazu auf Infosperber «Wölfe gegen die Hirschplage»). Förster und Wildhüter bestätigen, dass in Gebieten, in denen Wölfe leben, deutlich weniger Verbissschäden in den Wäldern durch das Rotwild festzustellen sind. Somit spielen Wölfe eine wichtige Rolle für das ökologische Gleichgewicht. Besondere Bedeutung hat dieser Aspekt für die Erhaltung der Schutzwälder vor der Lawinengefahr in den Berggebieten.
Bereicherung für die Tierwelt
Für Menschen bedeutet der Wolf keine Gefahr – darin sind sich praktisch alle Experten einig. Trotzdem kursieren auch heute noch Schauermärchen vom Wolf als angeblich «blutrünstige Bestie». Eigentlich wirkt diese Abwehrhaltung etwas seltsam. Denn schliesslich ist doch der Wolf der Vorfahre des Haushundes, der gerne als «bester Freund» des Menschen bezeichnet wird. Nach Legenden von nordamerikanischen Indianern soll es ein Bündnis zwischen Menschen und Wölfen gegeben haben, in dem jeder versprach, die Familie und das Land des anderen zu respektieren.
Mehr Akzeptanz wäre dem Wolf auch hierzulande zu wünschen. Wenn es vereinzelt zu Problemen mit Wölfen kommt, betrifft dies meistens gerissene Schafe. Doch hier sind vor allem die Tierhalter gefordert. Sie müssen sich der neuen Situation stellen und mit gewissen Traditionen brechen: Schafe können nicht mehr länger einfach sich selber überlassen auf der Alpweide gehalten werden. Es braucht geeignete Schutzmassnahmen wie Elektrozäune, Herdenschutzhunde und Hirten, die vor Ort sind. Dann ist ein konfliktfreies Miteinander zwischen Mensch und Wolf möglich.
Denn so oder so: Fakt ist, dass der Wolf in der Schweiz wieder heimisch geworden ist. Weitere Einzeltiere werden aus dem Ausland einwandern und neue Rudel werden entstehen. Die Bergbevölkerung wird sich daran gewöhnen müssen, ihren Lebensraum mit dem Wolf zu teilen. Positiv betrachtet könnte die Präsenz dieses Grossraubtiers eine Chance für den angesichts des Klimawandels immer wichtigeren Sommertourismus sein: Mit von Fachleuten geführten Wolfbeobachtungen könnten neue Gäste gewonnen werden.
In der Schweiz wieder heimisch – und streng geschützt
Erstmals seit seiner Ausrottung wurde 1995 ein Wolf wieder in der Schweiz nachgewiesen. Er wanderte aus Italien ein. Heute leben etwa um die 30 Wölfe in unserem Land. Seit Inkrafttreten der sogenannten «Berner Konvention» im Jahre 1982 gilt der Wolf in 46 Ländern als streng geschützte Tierart. Die Schweiz hat dieses bedeutende Artenschutzabkommen ebenfalls mitunterzeichnet.
Es gibt unterschiedliche Wolfsarten
Der Wolf (Canis lupus) gehört zur Familie der Hundeartigen. Es existieren etwa 15 Unterarten des Wolfes. Das Verbreitungsgebiet reicht von Nordamerika über Europa bis nach Asien. Je nach Lebensraum unterscheiden sich die Fellfärbung und das Gewicht stark.
In der Schweiz kommt der Europäische Grauwolf (Canis lupus lupus) vor. Ein ausgewachsenes Tier erreicht eine Grösse von 60 bis 90 Zentimetern und ein Gewicht zwischen 30 und 50 Kilogramm. Das Fell ist graubraun mit helleren und dunkleren Abstufungen. Die Beine und der Bauch sind hell bis weiss. In freier Wildbahn erreicht ein Wolf ein Höchstalter von gut zehn Jahren.
Gute Informationen und wunderschöne Bilder des Wolfs von Christoph Bosch findet man auf der Website nabu.de. Dort kann man auch hören, wie es tönt, wenn die Wölfe heulen.
Und noch etwas …
Nicht alle Jäger haben Freude an den Wölfen. Sie möchten die Hirsche schiessen, nicht von den Wölfen fressen lassen. Nur: Im Kanton Graubünden hat die Bündner Regierung am 4. Juli 2017 neue – gelockerte! – Vorschriften für die Hirschjagd erlassen, weil es im Bündnerland zu viele Hirsche gibt. Auch Radio SRF hat darüber berichtet. Fremde Jäger sind ausdrücklich willkommen – und hoffentlich auch ein paar weitere Wölfe …
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Wölfe führen zu Herdenschutzhunden. Diese fallen Wanderer an. Ist man schon einmal von 6 Patous mit Risthöhe 1 Meter angefallen und gebissen worden (offizielle Stellungnahme der Behörde dazu: Es ist unmöglich, die Unversehrtheit von Wanderern in diesem Punkt in Frankreich zu gewährleisten), fällt es einem schwer, diesen grünen Lautenklängen zu lauschen, noch schwerer, ihnen zu trauen. (Ich selber bezeichne mich übrigens ansonsten durchaus als überzeugter Ökologe.)
Macht die Augen auf, ihr Schreibtischökologen!
Wir sind ‹part of nature›, ja. Aber nicht guests of nature›. Wer schützt UNSERE Bedürfnisse?