Lawinensprengung

Eine künstlich ausgelöste Lawinen donnert zu Tal. © srf

Das grosse Knallen: Wenn Frau Holle die Kissen schüttelt

Kurt Marti /  Lawinen werden immer häufiger durch Lawinensprengungen ausgelöst. Studien über deren Auswirkungen auf Flora und Fauna sind rar.

Am Schneehüenerstock auf dem Oberalppass sind – wie der Name sagt – die Schneehühner zu Hause. Nach ihnen ist nicht nur der Berg benannt, sondern auch der «Schneehüenerstock-Express», der seit Ende 2018 Skifahrerinnen und Skifahrer auf den Berg samt «Restaurant Schneehüenerstock» befördert. Viel Ehre also für die namensgebenden Vögel.

Weniger entzückt dürften die Schneehühner aber über die zahlreichen Lawinensprengungen sein, die zur Sicherung der Pisten notwendig sind, seit der Ägypter Samih Sawiris in das stark lawinengefährdete Skigebiet Andermatt-Sedrun investiert hat.


Schneehüenerstock-Express mit Schneehüenerstock Foto: ktm

Schneehühner ziehen sich zurück

Zum Beispiel am 15. Januar 2019 knallte es dort besonders oft. An diesem Tag gab es im ganzen Skigebiet Andermatt-Sedrun rund 220 Lawinensprengungen (alle 6,5 Minuten), wie Stefan Kern, der Mediensprecher von «Andermatt Swiss Alps AG», gegenüber dem Tagesanzeiger erklärte.

Was solche Lawinensprengungen für Auswirkungen auf die Schneehühner haben können, geht aus einem Bericht hervor, den das Umweltbüro Fornat 2017 im Auftrag der «Andermatt-Sedrun Sport AG» erstellt hat. Laut dem Gutachten «ist zu erwarten, dass die Schneehühner das durch Sprengungen betroffene Gebiet aufgrund des Lärms und der Lawinenabgänge entweder temporär oder bei häufiger Störung langfristig verlassen oder gänzlich verschüttet werden». Zudem könne «nicht ausgeschlossen werden, dass die hohe Anzahl der Sprengungen zu einem Rückgang oder längerfristig zu einer Verschiebung beziehungsweise zu einem lokalen Aussterben des Schneehühnerbestandes führen wird».


Alpenschneehuhn im Winterkleid Quelle: perhols/wikimedia commons

Nicht nur am Schneehüenerstock knallt es besonders heftig, wenn Frau Holle die Kissen schüttelt. Besonders sticht der schneereiche Januar 2018 heraus. Beispielsweise im Skigebiet von Crans-Montana kam es allein am 22. Januar 2018 zu rund 260 Explosionen, wie die Tagesschau von SRF berichtete. Schweizweit sei in der letzten Januar-Woche 5000 Mal gesprengt worden. Beeindruckt von der Zahl der Sprengungen gab die Tagesschau-Moderatorin die folgende Warnung durch: «Wer derzeit ruhige Winterferien sucht, sollte den Bergen besser fernbleiben. In den Skigebieten herrscht das grosse Knallen.»

160 Tonnen Sprengstoff

Nachdem sich im Extrem-Monat Januar 2018 die Staubwolken der Lawinensprengungen verzogen hatten, folgten die Beteuerungen der Verantwortlichen, wie wichtig solche Sprengungen für die Sicherung der Pisten und Verkehrswege seien. Beispielsweise Bruno Jelk, Chef des Lawinendienstes Mattertal (VS), schätzte in der «NZZ am Sonntag», dass die Zermatter Skianlagen ohne Lawinensprengungen noch tagelang stillgestanden hätten und Zermatt weitere drei Tage von der Aussenwelt abgeschnitten gewesen wäre.

Seit dem Lawinenwinter 1999 wurde vor allem in den Skigebieten massiv mit ferngesteuerten Sprenganlagen aufgerüstet, sodass im Lawinen-Winter 2017/2018 eine schlagkräftige Armada gegen den grossen Schnee zur Verfügung stand. Laut Schätzungen des Instituts für Schnee- und Lawinenforschung SLF wurden damals 160 Tonnen Sprengstoff eingesetzt.

Keine Statistiken zur Aufrüstung

Die meisten Lawinensprengungen werden laut SLF-Mitarbeiter Lukas Stoffel von den Bergbahnen durchgeführt. Dabei machen Sprengungen mittels Helikopter und Wurfladungen per Hand «den grössten Teil des Sprengstoffverbrauchs aus». Daneben kommen immer häufiger ferngesteuerte ortsfeste Anlagen zum Einsatz; also Sprengmasten, Lawinenwächter und gasgezündete Anlagen (siehe Kasten unten: Ferngesteuert oder per Helikopter).

Laut SLF-Bericht standen im Lawinenwinter 2017/2018 in den Schweizer Alpen rund 550 solcher ortsfester Anlagen, wovon rund 300 bis 350 zur Sicherung von Pisten und Skisport-Anlagen eingesetzt wurden, der Rest für die Sicherung von Verkehrswegen und Siedlungen. Zum Vergleich: Im Lawinenwinter 1999 gab es schweizweit nur rund 25 ortsfeste Anlagen zur künstlichen Lawinenauslösung. Laut Bafu-Mitarbeiter Reto Baumann haben die Lawinensprengungen «in den letzten 20 Jahren sicher zugenommen». Verlässliche schweizweite Statistiken zur Entwicklung der Sprengstoffmengen und der verschiedenen Methoden der Lawinensprengungen gibt es allerdings keine, wie das SLF, das Bundesamt für Umwelt (Bafu) und das Bundesamt für Zivilluftfahrt (Bazl) auf Anfrage unisono verlauten liessen.

Schäden an der Vegetation

Angesichts des Ausmasses der Lawinensprengungen könnte man annehmen, dass es zu den Auswirkungen auf die Tier-und Pflanzenwelt schweizweite wissenschaftliche Untersuchungen gibt. Doch weit gefehlt: Laut Auskunft des Bafu und des SLF gibt es keine solche nationale Studien. Einzig eine Pilotstudie «Lawinenabschüsse und Wild auf der linken Talseite in Samnaun» des Bündner Büros Fornat aus dem Jahr 2007 sei bekannt.

Diese knapp 17-seitige Pilotstudie dokumentiert einerseits die grossflächigen Schäden an der Vegetation, die durch Sprengungen mit Minenwerfern und aus dem Helikopter entstanden sind. Die Fotografien zeigen die Verletzungen der Grasnarben und die Bildung von Erosionsherden auf «eindrückliche Weise», wie es in der Studie heisst.


Erosionsschäden in Samnaun/Plauncas Foto: Fornat

Andererseits hält die Studie grundsätzlich fest, dass «der Helikopter als massiver Störfaktor für das Wild» bekannt sei und die Explosion «normalerweise Flucht» auslöse. Aber die direkten Reaktionen des Wildes auf Lawinensprengungen mittels Sprengmasten seien «nicht beobachtbar», weil die Sprengungen am Morgen früh bei schlechter Sicht (Schneefall und Nebel) stattfänden.

Fatale Wirkung möglich

Erstaunlich kritische Hinweise findet man in einem wildtierbiologischen Gutachten zu den Erweiterungsplänen der Bergbahnen Scuol, das Teil des regionalen Richtplans für das Unterengadin aus dem Jahr 2017 ist. Laut diesem Gutachten führen die Lawinensprengungen im Gebiet Laver-Trial bei Scuol zur Sicherung der geplanten Pisten «unweigerlich zu Lärmemissionen, welche – je nach Situation – auch für Wildtiere noch auf Distanzen von vielen Kilometern wahrnehmbar sind». Im unmittelbaren Sprengbereich sei «eine fatale Wirkung der herunterkommenden Schneemassen auf die vorkommenden kleineren Wildtiere wie Schneehuhn und Schneehase jedenfalls nicht auszuschliessen».

Zudem seien für Lawinensprengungen «voraussichtlich auch vermehrte Helikopterflüge notwendig, entweder fürs Sprengen selbst oder dann zum Wechseln der Magazine an den Sprengmasten». Und die Autoren des Gutachtens bedauern: «Leider fehlen unseres Wissens auch diesbezüglich fundierte wissenschaftliche Untersuchungen, welche den Einfluss von Lawinensprengungen auf Wildtiere systematisch untersuchen.»

Auch im Wallis gibt es laut Auskunft der kontaktierten kantonalen Dienststellen «keine wissenschaftlichen Studien zu den Auswirkungen der Lawinensprengungen auf die Wildtiere». Vor allem die Auswirkungen der fernauslösenden Sprenganlagen auf die Wildtiere und deren Lebensraum seien «nahezu unbekannt». Aktuell liefen aber im Wallis Bestrebungen, um die Auswirkungen von fernauslösenden Sprenganlagen auf die Wildtiere «näher zu untersuchen».

Bundesgericht anerkennt Folgen

Dass sich Lawinensprengungen negativ auf das Wild auswirken können, zeigt ein wegweisendes Urteil des Bundesgerichts aus dem Jahr 2008, das die Bergbahnen Engelberg-Trübsee-Titlis sowie die Regierung und das Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden zurückpfiff und den Umweltorganisationen Recht gab, die gegen eine Pistenerweiterung samt intensiven Lawinensprengungen in einem eidgenössischen Jagdbanngebiet Beschwerde erhoben hatten.

Das Bundesgericht stützte sich dabei auf die Einschätzungen des Bafu, welches festhielt, dass durch die Lawinensprengungen die Wintereinstände der Schneehasen, Schnee- und Birkhühner wie auch die Sommereinstände der Gämsen «grösstenteils zerstört» würden. Es liege «auf der Hand», dass durch die zahlreichen Sprengungen «der natürliche Lebensraum der im Gebiet vorkommenden Tierarten stark beeinträchtigt und gefährdet» würde. Folglich müsse «die Interessenabwägung des Verwaltungsgerichtes als unzureichend und im Ergebnis bundesrechtswidrig bezeichnet werden».

«Konfliktpotenzial besteht»

Sprengmasten kommen nicht nur in Skigebieten zum Einsatz, sondern auch zum Schutz von Verkehrswegen und Siedlungsgebieten. Die Kantonsstrasse zwischen Brail und Zernez im Engadin wird im Schnitt alle acht Jahre von der Tanterval-Lawine verschüttet. Deshalb hat die Bündner Regierung im Sommer 2019 die Baubewilligung für die Installation von vier Sprengmasten erteilt und dafür einen Kredit von 750 000 Franken gesprochen. Die Sprengmasten stehen teilweise in einem allgemeinen Wildschutzgebiet und rund 200 Meter unterhalb der Sprengmasten verläuft eine Wildruhezone mit Betretungsverbot vom 1. Januar bis 30. April. (Zum Bewilligungsverfahren siehe Kasten unten: Geringe Umweltauflagen)

Die Konflikte im Zusammenhang mit den Wildtieren werden im Projektbericht der kantonalen Verwaltung aufgelistet: Im Vergleich zu den bisherigen Lawinensprengungen per Helikopter oder Minenwerfer führten die häufigeren Sprengungen durch ortsfeste Sprengmasten zu häufigeren Störungen des Wildes. Zudem sei die Druckwelle intensiver. Der Radius der Wirkung betrage rund 130 Meter. Dadurch sei das Wild in der Nähe des Sprengpunktes «stärker gefährdet». Nachteilig sei auch, dass die Sprengungen zu jeder Tages- und Nachtzeit und bei jeder Witterung erfolgen.

Fazit des Berichts: «Es besteht prinzipiell Konfliktpotenzial.» Doch eine explizite Interessenabwägung wurde im Bericht nicht vorgenommen und es wurden auch keine konkreten Schutzmassnahmen gefordert. Laut Projektleiter Gian Cla Feuerstein vom Bündner «Amt für Wald und Naturgefahren» haben «die zur Stellungnahme eingeladenen Ämter keine Einwände zum Projekt geltend gemacht und keine Massnahmen vorgeschlagen».

Dies ist symptomatisch für die Lage in der gesamten Schweiz: Dass Lawinensprengungen deutliche Negativwirkungen auf Flora und Fauna haben, gilt als nahezu gesichert, doch eine Gesamtschau zu diesem heiklen Thema ist bis heute nicht erstellt worden.

Ferngesteuert oder per Helikopter

Laut der SLF-Publikation «Vergleich der Sprengmethoden» (2013) werden Helikoptersprengungen und Handwurfladungen am häufigsten angewendet. Viele Jahre wurden auch Armeewaffen (Raketenrohr, Minenwerfer) eingesetzt. Die Schweizer Armee stellt das Raketenrohr seit 2018 nicht mehr zur Verfügung, den Minenwerfer höchstwahrscheinlich noch bis 2021. Alle diese Sprengungen detonieren im Schnee.

Seit der Jahrtausendwende werden immer häufiger ortsfeste Sprenganlagen verwendet, die ferngesteuert gezündet werden. Den Sprengstoff liefert die Oberwalliser Sprengstoff- Fabrik «Société Suisse des Explosifs» (SSE). Laut SSE-Mitarbeiter Clo Gregori werden zwei Sprengstoffe verwendet, «die speziell für das Lawinensprengen produziert werden». Bei der Detonation des Sprengstoffes entstehen laut Gregori «vor allem Stickstoff, Wasser und Kohlendioxid. In kleinsten Mengen einzelne Salz- und Metallverbindungen. Diese Stoffe sind weder wasser- noch umweltgefährdend und kommen als natürliche Bestandteile in der Natur vor.»

Um Lawinensprengungen durchzuführen braucht es laut SLF-Mitarbeiter Lukas Stoffel einen Sprengausweis. Dieser Ausweis werde nach der Teilnahme am einwöchigen Lawinensprengkurs der Seilbahnen Schweiz und bestandener Prüfung abgegeben.

Geringe Umweltauflagen

Für Bewilligungen von Lawinensprenganlagen sind die Kantone zuständig. In Graubünden kommt bei ortsfesten Anlagen für Skigebiete das ordentliche Bewilligungsverfahren für Bauten und Anlagen ausserhalb von Bauzonen gemäss dem kantonalen Raumplanungsgesetz zur Anwendung. Bei Sprenganlagen für Kantonsstrassen, Eisenbahnen und Siedlungen gilt das Projektgenehmigungs-verfahren gemäss dem kantonalen Waldgesetz. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) ist in der Regel nicht erforderlich. Wenn die Sprenganlagen Teil eines UVP-pflichtigen Gesamtprojekts sind, müssen diese dort mitberücksichtigt werden.

Im Kanton Wallis werden Lawinensprengmasten generell durch den Staatsrat bewilligt, und zwar in einem Plangenehmigungsverfahren gemäss dem kantonalen Gesetz über den Wald und die Naturgefahren. Eine UVP für Sprengmasten allein ist grundsätzlich nicht erforderlich, hingegen ein Bericht (Umweltnotiz) über die Auswirkungen von Sprengmasten auf die Umwelt.

Die Bewilligung für Lawinensprengungen mit Helikoptereinsätzen läuft über das Bundesamt für Luftfahrt (Bazl). Die Helikopterunternehmen, die Flüge für Lawinensprengungen durchführen wollen, benötigen dafür vorgängig eine Bewilligung durch das Bazl. Danach kann das Heli-Unternehmen solche Lawinenspreng-Flüge ohne Einzelbewilligungen durchführen.

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Dieser Beitrag ist erstmals im Pro Natura-Magazin 2/2020 erschienen.


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Eine Meinung zu

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 20.03.2020 um 16:45 Uhr
    Permalink

    Dank Corona werden die Hühner in diesen Tälern wenigstens ein paar Wochen geschützt. Zum Glück gibt es auch noch ein paar Täler ohne Heliko-Bombardierung. Die FA-18 können das wohl hier übernehmen. Wenigstens in der Stadt — also wo es wohl keine Schneehühner gibt — machen diese Flieger genügend Lärm, um jeden Morgen zu erkennen, dass der Staat für unsere Sicherheit einsteht.

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