Ecuador: Verfassung verhindert Bau einer Goldmine durch China
«Die Natur oder Pacha Mama, wo das Leben reproduziert und realisiert wird, hat das Recht darauf, ganzheitlich respektiert zu werden; selbes gilt für die Aufrechterhaltung und Regeneration ihrer Lebenszyklen, Struktur, Funktionen und evolutionären Prozesse.»
Als Artikel 71 der ecuadorianischen Verfassung vor rund zehn Jahren in der Öffentlichkeit des Anden-Staates diskutiert wurde, griffen sich die Juristen an den Kopf. «Ihr seid verrückt», spotteten viele. «Ein Rechtsträger hat Rechte und Pflichten. Worin bestehen also die Pflichten der Natur?» Ganz anders die Reaktion eines Vertreters der Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors. Kaum hatte er von den Diskussionen um die neue Verfassung erfahren, fragte er spontan: «Ach, die Natur hat bei euch noch gar keine Rechte?»
Nein, hatte sie nicht. Es gab zwar Gesetze zum Schutz der Umwelt wie in anderen Ländern, aber die Natur galt nicht als eigenständiger Rechtsträger. Sie sollte künftig vom Staat nicht mehr als Objekt, sondern als Subjekt behandelt werden und über Rechte verfügen, die bisher BürgerInnen, Unternehmen und anderen Institutionen vorbehalten waren. Knapp 64 Prozent der Stimmenden folgten im September 2008 dem Vorschlag der verfassungsgebenden Versammlung und sorgten damit für ein kleineres Erdbeben. Ecuador war weltweit der erste Nationalstaat, der die Rechte der Natur in der Verfassung verankerte.
Geplant war nur eine Diskussion
Die Idee, den Horizont der westlichen Jurisprudenz zu erweitern und der Natur Rechte einzuräumen, stammte nicht etwa von den Indigenen Ecuadors wie allgemein angenommen wird, sondern sie kam aus einem Land, an dem sich diverse lateinamerikanische Staaten seit langem orientieren: den USA. Der Bezirk Tamaqua im Bundesstaat Pennsylvania hatte die Natur bereits 2006 als Rechtssubjekt anerkannt – und zwar als Reaktion auf die Klärschlammablagerungen in den Gruben, die die Braunkohle-Industrie im 20. Jahrhundert zurückgelassen hatte. Und das in einer von Republikanern dominierten Region.
«Die Initiative kam nicht aus dem linken Lager, sondern wurde von den Konservativen ergriffen», sagt Natalia Greene. Sie koordiniert diverse Gruppen zur Verteidigung von Natur und Umwelt in Ecuador und ist Mitinhaberin eines Bio-Food-Restaurants am Stadtrand von Quito. Die Politologin, die sich intensiv mit dem Klimawandel beschäftigt, stand den ParlamentarierInnen bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung vor zehn Jahren beratend zur Seite. «Eigentlich wollten wir das Thema nur auf die politische Agenda bringen», erinnert sich Greene, die damals für eine NGO arbeitete. «Niemand rechnete damit, dass die Rechte der Natur in die Verfassung kommen.» Aber das Timing habe gepasst, zudem sah man die Möglichkeit, «die Gesellschaft zu demokratisieren und den Stimmen der Indigenen Rechnung zu tragen». Das kam bei den ParlamentarierInnen gut an.
Die Natur kann sich nicht selbst verteidigen
Seither wurden im ganzen Land über 25 Gerichtsfälle verhandelt, bei denen die Rechte der Natur verletzt wurden. Es gab Verfahren wegen des Tötens von Jaguaren und Condoren – beides Tiere, die vom Aussterben bedroht sind. Zudem wurden die Verantwortlichen eines chinesischen Schiffs zur Rechenschaft gezogen, das 2017 vor den Galapagos-Inseln gestoppt wurde mit über 6000 getöteten Haifischen an Bord.
Auch beim kürzlich gesprochenen Urteil zur Goldmine Rio Blanco spielte China eine Rolle. Dort hatte die chinesische Ecuagoldmining mit dem Aushub begonnen, ohne zuvor die Bevölkerung konsultiert zu haben. Diese wandte sich an die Judikative und erhielt Recht. Der Richter befand, dass es für solche Projekte zwingend eine Volksbefragung brauche; Ecuagoldmining durfte nicht weitergraben. Dieses Urteil ist deshalb bemerkenswert, weil die Regierung in Quito Rio Blanco als eines von fünf «strategisch wichtigen» Minenbau-Projekten auf dem Plan hatte. Die vom zuständigen Ministerium eingereichte Berufung wurde vom Provinz-Gericht ebenfalls abgelehnt.
Weniger konfliktträchtig war dagegen der erste Gerichtsfall zu den Naturrechten 2011. Damals wurden beim Verbreitern einer Strasse im Süden des Landes Geröll und Aushubmaterial direkt in den Fluss Vilcabamba geschüttet. Zwei AnwohnerInnen klagten darauf gegen die verantwortliche Regionalregierung. Mit Erfolg. Das zuständige Gericht schrieb in seinem Urteil, «dass es sich bei den (der Natur) zugefügten Schäden um Generationenschäden handelt, die aufgrund ihrer Grösse nicht nur Auswirkungen auf die gegenwärtige, sondern auch auf künftige Generationen haben werden».
Natalia Greene erklärt, bei der Natur sei es wie bei Kindern: «Beide haben keine eigene Stimme und sind deshalb auf die Unterstützung von Erwachsenen angewiesen.»
Ex-Präsident pfeift auf die Verfasssung
Im Fall Rio Blanco zeigt sich jedoch exemplarisch ein gravierendes Problem der ecuadorianischen Verfassung. Dort heisst es zwar:
«Wir haben uns entschieden, eine neue Form des Zusammenlebens der BürgerInnen, in Vielfalt und Harmonie mit der Natur aufzubauen, um das gute Leben (Buen Vivir), das Sumak Kawsay, zu erreichen.»
Doch in einem Staat wie Ecuador, dessen Wirtschaftsmodell auf dem Export von Rohstoffen basiert, lassen sich die Prinzipien des Sumak Kawsay (Buen Vivir) indigener Kommunen nicht so einfach in die Praxis umsetzen. Häufig tritt im politischen Handeln die Diskrepanz zwischen indigener Kultur und kolonialem Selbstverständnis der europäischen Machthaber offen zutage. So wurde nur wenige Monate nachdem die neue Verfassung in Kraft trat ein Minenbau-Gesetz verabschiedet, das den Bau riesiger Metall-Minen (wie jene in Rio Blanco) erlaubt. Das entspricht ganz dem kolonialen Staats- und Marktmodell, das auf Ausbeutung der Natur, Wachstum und materiellem Wohlstand basiert.
Ex-Präsident Rafael Correa, der sich während seiner zehnjährigen Präsidentschaft (2007-2017) selber als Führer der Revolución Ciudadana (Bürgerrevolution) bezeichnete, sagte damals an die Adresse der Minenbau-GegnerInnen: «Ich habe immer gesagt, dass die grösste Gefahr für unser politisches Projekt (…) Linksismus, Ökologismus und infantiler Indigenismus war und ist.»
Die Natur als Teil des Rechtsverständnisses
Die Rechtsgelehrten des Landes haben die neue Gesetzeslage inzwischen mehrheitlich akzeptiert. «Bei der neuen Generation an Anwälten», sagt Greene, «ist die Natur bereits Teil des Rechtsverständnisses.» Schwierigkeiten gäbe es am ehesten bei der Koordination zwischen Anwälten, Biologen und anderen Experten. Auch seien die Richter zu wenig ausgebildet und es fehle noch an Gerichtsfällen, auf die sie Bezug nehmen könnten.
Allerdings gibt es immer noch Anwälte, die weiterhin darauf pochen, dass sich die Natur auch über das Umweltrecht verteidigen lasse. Dagegen wehrt sich Greene und zieht einen mutigen Vergleich: Im Umweltgesetz werde der Einsatz von Arsen nicht verboten, sondern lediglich mit Höchstwerten belegt, sagt die zweifache Mutter. «Das ist so, als hätten wir die Sklaverei beibehalten, aber den Sklaventreibern erlaubt man nur noch drei statt zehn Peitschenhiebe pro Tag.»
Andere Staaten ziehen nach
International hat Ecuador für seine Verfassung sowohl Beifall erhalten als auch Nachahmer gefunden. In Neuseeland und Indien gibt es heute Flüsse, die als Rechtssubjekt eingestuft werden; in Nepal wurde eine Initiative lanciert, um die Rechte der Natur durch eine Verfassungsänderung anzuerkennen. Und in den USA haben nach Tamaqua knapp vierzig weitere Gemeinden die Naturrechte in ihre kommunale Verordnung aufgenommen.
Auf nationalstaatlicher Ebene ist dem Beispiel vom Äquator bisher erst Bolivien (2009) gefolgt. Aber selbst Ecuador als Vorreiter ist noch auf der Suche nach Kohärenz, siehe Rio Blanco. «Noch hat sich der Staat nicht eingehend mit der Frage beschäftigt, was ‹Rechte der Natur› eigentlich bedeuten», sagt Natalia Greene. Auch fänden keine Anstrengungen statt, die Natur bei den grossen Bau-Projekten des Landes zu berücksichtigen. «Dabei sollte sie bei sämtlichen Verhandlungen mit am Tisch sitzen.»
Womit wir beim springenden Punkt der ecuadorianischen Verfassung sind: Sie mag ein Werkzeug westlicher Zivilisationen sein und die Prinzipien des Buen Vivir indigener Kommunen übernommen, ja diese vielleicht sogar verwässert haben; dass sich Indigene fragen, ob die Natur in westlichen Zivilisationen keine Rechte habe, ist naheliegend und erschreckend zugleich. Doch gerade weil in hochindustrialisierten Ländern der Kontakt zur Natur und damit das Verständnis für deren Zyklen verlorengegangen ist, könnte ein entsprechender Verfassungartikel zu einem Umdenken führen. «Wenn du die Rechte der Natur gesetzlich verankerst», ist Natalia Greene überzeugt, «ändert sich der Chip der Wahrnehmung.»
Mensch und Natur gehören zusammen
Als sich vor einigen Monaten NaturrechtsvertreterInnen aus der ganzen Welt für das zehnjährige Bestehen der ecuadorianischen Verfassung zu einem Symposium in Quito trafen, befanden die anwesenden JuristInnen, dass Ecuador seit 2008 einiges erreicht habe. Zur Beschwichtigung – der Regenwald wird für die Rohstoffausbeutung nach wie vor arg beansprucht – erwähnte man die internationalen Menschenrechte, die seit 1948 existieren, vielerorts aber noch immer nicht eingehalten würden. «Eigentlich sollten wir die Rechtssprechung ohnehin nicht getrennt wahrnehmen», meinte einer der Exponenten, «schliesslich gehören Mensch und Natur zusammen.»
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Dieser Beitrag ist zuerst auf mutantia.ch erschienen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor lebt in Lateinamerika und betreibt von dort aus unter anderem die Website mutantia.ch.
Das wäre
ein erfolgversprechender Ansatz für die globale Klimastreik-Bewegung!
Die Rechte der Natur / der Luft / des Bodens / des Wassers könnten gesetzlich in der Verfassung aller Länder verankert werden, womit die Natur zu einer juristische Person würde, wie jeder Konzern und jede Firma.
Dann könnten Natur und Wirtschaft auf Augenhöhe argumentieren bzw. man könnte die Natur sogar als klar höheres Rechtsgut anerkennen, was für unser langfristiges Überleben unabdingbar wäre … das wäre eine sinnvolle Forderung an die Politik und die Gesellschaft.
Paul Steinmann, Co-Präsident
https://www.friedenskraft.ch/