Tempo-Durcheinander spielt Tempo-30-Gegnern in die Hände
Eben hat die Stadt Bern im Hochfeld-Quartier ihre sechste grossflächige Begegnungszone realisiert. Sie schreibt in einer Medienmitteilung: «Mit den Massnahmen soll unter anderem der Schulweg für die Kinder und die Jugendlichen im Quartier sicherer werden.» Neben den grossen existieren in der Stadt Bern 150 weitere kleine Begegnungszonen.
Tempo 20
Doch was ist eine Begegnungszone überhaupt? Es gilt eine Höchstgeschwindigkeit von 20 Kilometern pro Stunde. Fussgänger haben immer Vortritt. «In der Begegnungszone darf man sich auf der Fahrbahn aufhalten und spielen», schreibt die Stadt in einem Informationsschreiben.
Aber: «Der Verkehr darf nicht unnötig behindert werden. Deshalb dürfen keine festen Installationen wie Schach- oder Mühlespiele die Fahrbahn versperren. Erlaubt sind mobile Spiele wie Gummitwist, Seilspringen oder Skaten.»
Mal mit, mal ohne Vortritt
Tempo 20 und Fussgängervortritt – das klingt nach einem Beitrag zur Verkehrssicherheit. Doch so einfach ist die Sache nicht. Denn im Quartier gibt es neben der Begegnungszone mit Tempo 20 auch Strassen mit Tempo 30, mit Tempo 40 und mit Tempo 50. Das bedeutet:
- Tempo 20: In Begegnungszonen gibt es keine Fussgängerstreifen. Fussgänger haben – wie erwähnt – immer Vortritt.
- Tempo 30: Auch in den Tempo-30-Zonen gibt es keine Fussgängerstreifen. Aber hier haben Fussgänger nie Vortritt.
- Tempo 30: Anders sieht es auf Tempo-30-Strecken aus. Hier gibt es Fussgängerstreifen. Fussgänger haben nur da Vortritt.
- Tempo 40: Wo Tempo 40 gilt, hat es ebenfalls Fussgängerstreifen. Auch auf diesen Strassen gilt der Vortritt für Fussgänger nur auf den gelben Streifen.
- Tempo 50: Es gelten die gleichen Regeln wie bei Tempo 40.
Vier Tempi auf 500 Metern
Das Problem dabei: In der Stadt Bern gibt es Strecken, auf denen auf 500 Metern vier verschiedene Höchstgeschwindigkeiten gelten – und auch unterschiedliche Regelungen für den Fussgängervortritt. Das verwirrt Autofahrer und Fussgänger gleichermassen. Sofern sie die Regeln überhaupt kennen. Und sofern sie realisieren, auf was für einem Strassenabschnitt sie sich gerade befinden. Ob dieses Durcheinander ein Beitrag zur Verkehrssicherheit ist?
«Tempo 30 als Norm»
Kommt hinzu: Die Stadt Bern fällt mit ihrem Vorgehen dem Städteverband in den Rücken. Dieser hatte Ende letzten Jahres in einem Positionspapier gefordert, «dass Tempo 30 in den Städten zur Norm wird». Und er schlug vor, die Verkehrsregelnverordnung entsprechend zu ändern. Hauptargumente des Städteverbandes: Der Schutz der Menschen vor Lärm sowie Vereinfachungen beim Planen und Bauen. Denn: «Viele Projekte werden wegen Lärmeinsprachen blockiert.»
Der Aufschrei
Nachdem der Städteverband seine Forderungen veröffentlicht hatte, gab es einen lauten Aufschrei. Der Gewerbeverband bezeichnete flächendeckendes Tempo 30 als «KMU-feindlich». Der TCS sagte Ausweichverkehr in die Quartiere voraus. Und sogar der Verband Öffentlicher Verkehr (VÖV) opponierte wegen angeblich längerer Fahrzeiten von Bus und Tram. Infosperber zeigt allerdings auf, dass diese Befürchtungen unbegründet sind.
Und jetzt torpediert also auch die Stadt Bern – wenn auch aus anderen Gründen – die Bemühungen des Städteverbandes für «Tempo 30 als Norm». Mit dem Durcheinander an Höchstgeschwindigkeiten und Vortrittsregeln liefert sie den Gegnern von Verkehrsberuhigungsmassnahmen erstklassige Munition.
Fernziel: Tempo 20 und Tempo 30
Bei der Stadt Bern lässt man das nicht gelten. Tempo 20 sei ein Wunsch aus dem Quartier gewesen. Das vom Infosperber kritisierte Flickwerk sei entstanden, weil die Stadt «Stück für Stück» vorgehen wolle. Mehr sei angesichts der vorhandenen personellen Ressourcen und der finanziellen Mittel im Moment nicht möglich. Das Ziel sei aber Tempo 20 auf den Quartierstrassen sowie Tempo 30 auf den Hauptachsen, welche die Quartiere durchziehen.
Weiterführende Informationen:
Infosperber: Kurioser Streit um ein paar Sekunden
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Was ist denn eigentlich so schwer daran zu verstehen das auf einer Strasse Fahrzeuge fahren und diese in der Stadt 50 km/h schnell sind?
Generationen haben damit gelebt und sind damit umgegangen, warum muss das jetzt geändert werden? Und wenn ändern, warum werden die Strassen dann nicht zurück gebaut in Begenungsflächen auf denen grilliert, gespielt und sonstwas veranstaltet wird aber eben auch kein lärmender gefährlicher Strassenverkehr stattfindet?
Allein die Vorstellung in einer grösseren Stadt mit 30 km/h Höchstgeschwindigkeit als Lieferant oder Servicetechniker seine Arbeit leisten zu müssen finde ich grauenvoll, wer soll das bezahlen?
Mir stellt sich einfach die Frage, warum muss etwas geändert werden wenn jemand weiss das man da hingeht wo Lärm und Gefahr ist, sich bewusst dort hinein begibt aber meint, man könne sich darüber beschweren?
Herr Schlomm, es gibt gute Gründe für Tempo 30 innerorts. Aus https://tempo30steffisburg.ch :
1) Weil sich damit mindestens ein Drittel der schweren Unfälle verhindern lässt. Die Sterbewahrscheinlichkeit von Fussgängern ist bei einer Kollision mit einem Motorfahrzeug mit T50 rund sechsfach höher als bei eine mit T 30.
2) T30 verhindert einen erheblichen Teil der Unfälle gänzlich, nämlich dann, wenn eine Kollision gar nicht stattfindet. Der Anhalteweg ist rund die Hälfte als bei T50.
3) Bei T30 wird weniger beschleunigt und gebremst (Verstetigung), wodurch neben dem Lärm
auch Treibstoffverbrauch, Schadstoffe und Feinstaub reduziert werden. Dies steigert Gesundheit und Lebensqualität der Verkehrsteilnehmenden und Anwohnenden.
Ihre Gründe gegen T30 sind nicht stichhaltig, die zeitliche Verzögerung ist minim. Es gibt nur einen gewichtigen rein subjektiven Grund gegen Geschwindigkeitsbegrenzungen aller Art: das Gefühl der Einschränkung oder Bevormundung.
Vielen Dank Herr Schmidt,
Leider stimmt der Umweltaspekt nicht so ganz. Der Treibstoffverbrauch ist nachweislich höher und somit auch die Umweltbelastung. Man müsste zunächst Fahrzeuge so konstruieren das sie bei Tempo 30 ein Getriebe-Übersetzungsverhältnis haben um in einem niedrigeren Drehzahlband bei gleichzeitig bessererem Wirkungsgrad fahren zu können. Die Feinstaubbelastung ändert sich dabei nur minimalst nach unten.
Das andere leuchtet mir zwar ein, nur stellt sich mir die Frage ob es nicht besser wäre dann komplett auf Fahrzeuge zu verzichten?
Das es da wo sich etwas dreht und bewegt gefährlich ist, bekommt man eigentlich als Kind schon beigebracht. Also liegt es in der Natur der Sache das dann da auch was passiert. Insofern ist Tempo 30 nur ein fauler Kompromiss zu der potentiellen Gefahr.
Ausser acht gelassen wird dabei ebenfalls, das Unfallursachen in den meisten Fällen durch unachtsamkeit verursacht wird.
Den Lieferanten oder Techniker möchte ich kennenlernen, der unter Befolgung des StvG in Städten regelmässig mit 50 km/h unterwegs ist!
Sorry, ich zum Beispiel!
Wissen Sie wie teuer das wäre jeden Tag 2-4 mal geblitzt zu werden?
Sie würden es sich ganz schnell abgewöhnen schneller als 50 zu fahren, ausser Sie wollen für die bezahlung der Bussen arbeiten…
Im übrigen, meine Kollegen halten es genau so…
Danke für die Zusammenstellung. Die Ortsparteien Grüne, GLP und SP versuchen auch in unserer Gemeinde innerorts eine einzige Zone Tempo 30 zu bekommen. Die Gemeinde hat innerorts gegenwärtig sowohl Tempo 30 Zonen als auch Strecken mit Tempo 50 dazwischen, die wie in der Stadt Bern manchmal sehr kurz und verwirrend sind.
Ich bin nicht einverstanden, dass Tempo 20 Begnungszonen dem Ansinnen von generellen Tempo 30 Zonen torpedieren, genau wie heute Tempo 30 Zonen nicht generelle Tempo 50 Zonen torpedieren. Die Strasse, an der ich wohne, ist eng und unübersichtlich und wird von sehr vielen Schulkindern, Fussgehenden, Trottis und Velos frequentiert, aber auch von Traktoren, Autos und Lastwagen. Alles über Tempo 20 ist dort zu schnell.
Eine wichtige, schöne Regel, dass in der 20er-Zone Fussgänger immer Vortritt haben. Aber wer setzt sie durch? In Chur erlebte ich, wie der Stadtbus in die 20er-Zone einbiegen wollte, und seine markerschütternde, hochpotente Hupe betätigte, zwischen seinem Standort und der 20er-Zone einzig das Trottoir, das eh den Fussgängern gehört. Also mit Hup-Gewalt Fussgänger «wegfegen»? Sobald ich per Velo daheim war, mailte ich churbus.ch Ich wurde dort aber ebenso unfreundlich abgewimmelt wie die Jahre zuvor, wo ich mich über das Hupen dieser Busse beklagte, die seit Jahren in der Innenstadt immer wieder an einer Haltestelle (wo kurz darauf Fussgängerstreifen und Kreisel folgen) einem Fahrzeug (einmal einer Velofahrerin) hinterherhupen, das den Bus überholte. Das jeweilige Fahrzeug befindet sich dann bereits eh vor dem Bus, das ist kein Warn-, sondern ein Rachehupen, zulasten Passanten und Anwohnern. NZZ schrieb über Lärm: «akustische Gewalt», ein Rechtsanwalt nannte es «Körperverletzung».