Schweizer Top-Winzerin erringt Teilerfolg gegen Strassenbauer
Für den pensionierten Polizisten Ronald Wüthrich ist eine Welt zusammen gebrochen. Mit Unterstützung seiner Pensionskasse konnte er vor 14 Jahren ein kleines Häuschen direkt am Bielersee kaufen – und wollte dort mit seiner Frau den Lebensabend verbringen. Seit kurzem weiss er: Daraus wird wohl nichts, er muss eine neue Bleibe suchen. Das Bundesamt für Strassen (Astra) will sein Heim abreissen, um dort für ein paar Jahre einen Bauinstallationsplatz für den geplanten Autobahntunnel zur Umfahrung von Twann zu errichten. Das Bundesverwaltungsgericht hat Wüthrichs Einsprache kürzlich vollumfänglich abgewiesen. Jetzt zweifelt der einst treue Staatsdiener am Staat.
Wüthrich ist einer von sechs direkt betroffenen Einspracheberechtigten, die sich seit vier Jahren juristisch gegen den Autobahnbau mitten in der geschützten Reblandschaft zwischen Twann und Wingreis wehren. Eine von ihnen, die Schweizer Spitzenwinzerin Anne-Claire Schott, hat nun in mehreren Punkten einen beachtlichen Teilerfolg erzielt: Die Richter haben ihre Beschwerde teilweise gut geheissen. Sie haben in ihrem 86 Seiten starken Urteil gegen den Willen von Astra und Tiefbauamt weitere Schutzmassnahmen für ihre biodynamisch kultivierten Rebberge verfügt und zusätzliche Entschädigungen festgelegt. Weitere Forderungen nach einer Prüfung von alternativen Streckenvarianten und einer Verkleinerung der Baustelleninstallation mit einer 800 Meter langen betonierten Zufahrtsstrasse mitten durch den Rebberg haben sie abgewiesen.
Baustart soll schon in vier Jahren erfolgen
Und doch wird auch Schott ihren Entscheid schweren Herzens nicht ans Bundesgericht weiterziehen, wie sie gegenüber Infosperber bestätigt: Rechtlich sei sie an Grenzen gestossen, die Erfolgschancen seien zu gering, der Druck auf die kleine Oppositionsgruppe gross. Ethisch-moralisch fühlt sie sich unrecht behandelt: «Es ist nicht richtig, dass meine Generation den Netzbeschluss aus den 60er Jahren ausbaden muss», sagt Schott: «Beim Entscheid zur Linienführung waren wir Kinder oder Teenager und hätten damals einsprechen müssen – das ist unfair.»
Recht haben und Recht bekommen sind eben zweierlei. Das Bundesverwaltungsgericht argumentiert in allen Fällen, dass «Interesse der Allgemeinheit» sei höher zu gewichten als die privaten Interessen und teils auch die Wirtschaftsfreiheit der Einsprechenden. Am Grundsatzentscheid ändert sich also nichts, nachdem das Urteil in diesen Tagen rechtskräftig geworden ist: Der Twanntunnel dürfte gebaut werden, nachdem das Bundesverwaltungsgericht bereits in zwei früheren Entscheiden Bund und Kanton gezwungen hatte, das Tunnelportal zu verlegen und umweltfreundlicher zu gestalten (Infosperber berichtete vor vier Jahren). Laut Astra braucht es nun noch zwei Schritte bis zum offiziellen Baustart: die Ausschreibung und Wahl eines Ingenieurbüros sowie die Vergabe der Bauarbeiten: «Im besten Fall können die Bauarbeiten in vier Jahren starten», hofft Astra-Sprecher Olivier Floc’hic.
Twanntunnel erhöht Verkehrsdruck aufs ganze Bielerseeufer
Das freut die Interessengemeinschaft «Twann kann», die sich seit kurzem für den Autobahntunnel engagiert, der einen Teil des Dorfes entlasten soll. Das Winzerdorf Twann und die umliegenden Weiler sind gespalten: Jene, die in der ersten Reihe zum See direkt an der offenen Autobahn wohnen und heute vom Lärm und Abgasen geplagt sind, befürworten vielfach den Tunnelbau, den andere mit Verve bekämpfen: weil sie wie die Wingreiser vom Bau des Portals und dessen 800 Meter langer Zufahrt stark betroffen sind, da das Verkehrsproblem sich vor ihre Haustür verlagert wird; und weil sie über die eigene Betroffenheit hinaus gegen die Zerstörung der Reblandschaft engagieren wie das Komitee «N5 Bielersee so nicht!». Dieses ruft zur Rettung des ganzen Bielerseeufers auf, weil es befürchtet, dass die N5 nun etappenweise ausgebaut und damit attraktiver wird; und dass die Lärmbelastung für alle Dörfer am See entlang bis nach Biel damit immer grösser wird.
Braucht es den Twanntunnel überhaupt? Der Entscheid, die N5 entlang des linken Bielerseeufers zu bauen, fiel in den 60er Jahren, das generelle Projekt wurde 1991 vom Bundesrat bewilligt und 2010 in einem Ausführungsprojekt konkretisiert – in einer Zeit, als das kantonale Tiefbauamt noch mit rasant steigenden Verkehrszahlen rechnete, die sich bereits im Fall der Bieler Ostumfahrung als falsch erwiesen, wie Infosperber dokumentiert hat. Bis heute hat der Ostast über ein Fünftel weniger Verkehr als für die Eröffnung 2017 prognostiziert. Die N5 entlang dem Bielersee ist keine Hauptverkehrsachse, wie auch diese Grafik des Astra belegt:
Das Bundesverwaltungsgericht rechnete für sein neues Urteil mit einem durchschnittlichen Tagesverkehr von 13’186 Fahrten (Zählung von 2016) beziehungsweise mit 15’775 prognostizierten Fahrten im Jahr 2040. Auch eine im Nachgang zum Bieler Westast-Dialog im letzten September durchgeführte offizielle Verkehrszählung ergab, dass entlang dem linken Bielerseeufer täglich 14’000 Fahrzeuge verkehren. Zum Vergleich: St. Gallen plant aktuell eine Tunnelumfahrung, um die Wohnquartiere von 76‘500 Durchfahrten pro Tag zu entlasten, und in der Stadt Zürich hätte der Rosengartentunnel 56‘000 Fahrzeuge pro Tag aufnehmen sollen – wurde aber in einer Abstimmung abgelehnt.
Doch am Bielersee werden Vekehrszahlen anders interpretiert. Das Gericht schreibt in seinem Urteil, das Dorf Twann würde durch den Tunnel dereinst zu 85 Prozent vom Verkehr entlastet, weshalb das Interesse der Allgemeinheit höher als die privaten Interessen zu gewichten sei. Bekannte Verkehrsexperten der Region dagegen bezeichnen das örtliche Verkehrsaufkommen als «lausig wenig» (so der national bekannte Tunnelbauexperte Martin Gysel); und auch der ehemalige Seeländer Oberkreisingenieur Fritz Kobi hat in den «Forums»-Folgesitzungen zum Westastdialog mehrfach klar gestellt, dass das Verkehrsaufkommen einen Ausbau der N5 entlang des linken Bielerseeufers in keiner Weise rechtfertige.
227-Millionen-Projekt für 14’000 Autofahrten pro Tag
Kobi hatte vorgeschlagen, dass vor einem Baustart in Twann zumindest die Resultate der Gesamtmobilitätsstudie abzuwarten seien, welche das regionale Verkehrssteuerungsgremium «Espace Biel.Bienne Nidau» im März just für den Perimeter Biel West beschlossen hat und deren Resultate bis Mitte 2025 vorliegen müssen. Wer den Perimeter noch weiter fasst, kann sich fragen: Macht es Sinn, die N1 bei Bern auf bis zu acht Spuren zu erweitern, wie die eidgenössischen Räte in der laufenden Session soeben beschlossen haben – und parallel dazu die N5 am 25 Kilometer entfernten Bielersee ebenfalls weiter auszubauen? Ist es verhältnismässig, wegen 14’000 Autofahrten eine geschützte Reblandschaft dauerhaft zu zerstören – mit Baukosten von ursprünglich 227 Millionen Franken, die wahrscheinlich überschritten werden?
Für die Twanner Winzerin Anne-Claire Schott geht es in den nächsten Jahren nun primär darum, ihre Rebberge zu retten. Und dafür hat sie die Rückendeckung der Richter erhalten, auch bei Anliegen, die eigentlich selbstverständlich sind, aber von den Behörden bestritten wurden:
- Sie müssen ihr während der elf Jahre dauernden Bauarbeiten den Zugang zu ihren Rebgrundstücken «jederzeit gewährleisten».
- Der Kanton Bern muss ein Bodenschutzkonzept erstellen, das den biodynamischen Rebbau berücksichtigt – und sie müssen Schott dazu anhören; das ist zentral, da die Bauarbeiten auch die Rebberge im Umkreis durch Staub, Dreck und Lärm schädigen – ein grossen Problem für Insekten und Mikroklima. Das Astra rechnet für den Bau mit über 36’000 Lastwagenfahrten.
- Asphaltierungsarbeiten müssen vor dem Reifebeginn der Trauben ausgeführt werden – sonst müssen die Trauben auf Kosten des Bundes vor Immissionen geschützt werden.
- Die Winzerin erhält nach Abschluss der Bauarbeiten – also nach rund elf Jahren – immerhin ihre beschädigten Grundstücke zurück und kann sie neu bepflanzen. Sie wird jedoch während mindestens 15 Jahren nichts mehr ernten können, bis sie wieder Naturwein anbauen kann, dürfte es nach Angaben von Schott Jahrzehnte dauern.
- Die Verfahrenskosten und eine Parteientschädigung müssen vom Kanton Bern übernommen werden.
Das Grundsatzurteil ist wichtig, weil nun auch benachbarte Weinbaubetriebe besser vor Schäden geschützt werden. Doch obwohl sie nun einen Teilsieg errungen haben, wollen die Einsprecher:innen nicht klein beigeben. Sie werden ihren Kampf gegen Strassenlärm und Autoabgase auf politischer Ebene weiterführen, wie das «Komitee N5 Bielersee so nicht» bestätigt: etwa mit der Forderung nach einer durchgehenden Tempobeschränkung auf 60 Stundenkilometer. Absurd: Seit der Belag der N5 am Bielersee im letzten Jahr für rund 100 Millionen Franken erneuert und die Betonmauern erhöht wurden, ist der Lärm entlang der weiterhin offen verlaufenden Hauptstrecke an mehreren Stellen noch schlimmer geworden. Das wollen die Betroffenen nicht hinnehmen – und planen Aktionen. Affaire à suivre.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Die Autorin war Mitglied der Kerngruppe, welche im Dialogprozess zum Bieler Westast vor drei Jahren 60 Massnahmen zur Lösung der Verkehrsprobleme ohne Autobahnanschlüsse im Stadtzentrum vereinbart hat. Die Behörden wollten damals den Bau des nahen Twanntunnel nicht mehr zur Diskussion stellen und hatten das «Komitee N5 Bielersee so nicht» beim Dialog nicht zugelassen.
___________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Die Baulobby ist offensichtlich kräftig am Werken. Wie lange noch, werden wir dem noch zuschauen müssen? Wie war es damals mit der Gewalttrennung? Davon scheint nichts viel übrig zu sein. Noch habe ich die Hoffnung / Illusion, dass bei den nächsten Wahlen, endlich wieder genügend neue, weniger korrupte Leute in die Räte kommen.
Ich war als Vertreter der Aargauer Umweltorganisation an der Projektentwicklung des Ausbaus des Baregg Tunnels beteiligt.
Wir haben damals recht erfolgreich und hatten die Unterstützung von bürgerlichen Vertretern wie Thomas Pfisterer.
Wir wussten alle, dass mehr Strassen mehr Verkehr bringen und der Ausbau des Baregg Tunnels die Staus nur zum Gubrist Tunnel verlagerte.
Es ist uns damlas gelungen einen Dialog über das Thema Verkehr zu lancieren und zahlreiche gute Lösungen auf den Weg zu bringen.
Nicht gelungen ist es uns, die Probleme eines ständig zunehmen Verkehrs der Bevölkerung näher zu bringen. Besonders tragisch war, dass wir dabei von den eigenen Organisationen, meinem Fall der WWF nicht unterstützt wurden.
Mein Eindruck ist, und dieser wird durch das Lesen dieses Beitrags wiederum bestärkt, man liebt den Knatsch, definiert Schuldige und vergisst dabei, wie kommen wir über Dialog zu Lösungen.
In den Worten von Gandi: «Auge um Auge und die ganze Welt wird blind sein.»
@Herr Forrer: Als korrupt würde ich die Räte jetzt nicht bezeichnen. Aber als hoffnungslos aus der Zeit gefallen. Man müsste doch meinen, die Betoniererei und Strassenneubauerei sei langsam aus der Mode?
Interessant ist die durchaus der gängigen Praxis entsprechende Interpretation des «öffentlichen Interesses». Sie ist auffallend vergangenheitsorientiert (Nationalstrassenplanung der 60er-Jahre), räumlich begrenzt (auf Twann beschränkt) und – indem sie im Grossen und Ganzen die von den Behörden verfolgte Verkehrspolitik bestätigt – unterstützt sie ein Vorgehen, das sich darauf beschränkt, ausgetretene Pfade in die Zukunft zu verlängern. Das Gericht wirkt deshalb konservierend und zukunftsblind. Das deutsche Bundesverfassungsgericht sieht seine Rolle etwas umfassender (vgl. Klima-Entscheid) – wiewohl mir bewusst ist, dass sich das Bundesverwaltungsgericht nicht unbedingt mit dem deutschen Bundesverfassungsgericht vergleichen lässt.
Auch ich schätze die Weine von Anne-Claire Schott sehr, denke jedoch, dass sie kaum im Veloanhänger nach Zürich geliefert werden. Vielmehr erstaunt mich die naive Grundhaltung vieler LinksGrüner, die denken eine jährliche Nettozuwanderung von 80000 Menschen sei ohne infrakstrukturelle Ausbauten zu meistern. Gesundschrumpfen à la Japan wäre angeagt!
Naiv ist die Grundhaltung, es gehe ohne Verzicht. Und es sei gottgegeben, dass wir unsere Infrastrukturen auf eine Benutzung, welche so ineffizient wie überhaupt möglich ist, auslegen. Aber wir sind ja auf dem besten Weg zur Gesundschrumpfung: Zunehmende Überalterung, abnehmende Mobilität, schrumpfende Bevölkerung. Auch in Japan sehr direkt zu beobachten.
Aber ja, man kann natürlich auch sagen, wir Autochthonen hätten sozusagen ein Naturrecht, unsere beschränkte Infrastruktur weiterhin so zu belasten, wie wir das halt machen. Aber da schenkt dann Anne-Claire Schotts Wein halt nicht wirklich ein, dafür das dritte Stehzeug im Haushalt, damit deren durchschnittliche Auslastung endlich auf unter 1 fällt.