snapshot

Ausweichverkehr auf der Hauptstrasse im Kanton Uri. © SRF

Navis sorgen für noch mehr Stau

Marco Diener /  Navigationssysteme machen bei Stau mitunter unsinnige Vorschläge. Viele Autofahrer befolgen sie. Das Resultat: Noch mehr Stau.

Sonntag für Sonntag das gleiche Bild auf der Umfahrungstrasse, der Nationalsstrasse 6, bei Frutigen im Berner Oberland: Am Nachmittag staut sich der Verkehr auf der N6 talauswärts. Denn auf der Höhe von Frutigen mündet die Strasse aus Adelboden in die Strasse aus Kandersteg. Das Verkehrsaufkommen ist zu gross. Die Einmündung ist ein Flaschenhals.

Die «Lösung»

Manche Navigationssysteme kennen aber eine «Lösung». Sie schlagen den Autofahrern und Autofahrerinnen vor, die Umfahrungsstrasse bei Frutigen kurz zu verlassen und in Reichenbach wieder einzubiegen. Dabei gibt es zwei Varianten: Der eine Schleichweg führt mitten durch den Dorfkern von Frutigen und auf Nebenstrassen durch Weiler wie Wengi und Buchholz. Der andere Schleichweg führt – ebenfalls auf Nebenstrassen – durch die Industriezone von Frutigen und das Dorf Kien.

kandertal1
Die Empfehlung des Navigationssystems (in Blau): In Frutigen (unten) kurz weg von der Nationalstrasse N6 und in Reichenbach (oben) wieder drauf. Die Folge: Der Verkehr staut sich auf der N6 von Reichenbach bis zurück nach Frutigen (schwach in Rot und Orange).

Das Resultat: Der Verkehr staut sich nicht nur in Frutigen, sondern zwei weitere Male bei den Einmündungen in Reichenbach. Die Navigationssysteme sorgen also für zusätzlichen Stau.

Durch Urdorf statt auf der Autobahn

Das Kandertal ist kein Einzelfall. Navigationssysteme funktionieren in der ganzen Schweiz so. Etwa in der Region Zürich. So gut wie jeden Morgen bildet sich südlich des Limmattaler Kreuzes ein Stau in Richtung Norden. Navigationssysteme schlagen den Automobilisten vor, die Autobahn zwischen Uitikon und Urdorf-Nord kurz zu verlassen.

24 Navi Google Maps Obfelden nach Regensdorf
Bei Stau auf der A3 empfiehlt das Navi die Fahrt durch die Birmensdorferstrasse in Urdorf.

Die Leidtragenden sind einerseits die Bewohner von Urdorf, durch das sich der Ausweichverkehr ergiesst. Und andererseits die Fahrzeuglenker auf der Autobahn. Denn weil sich der Ausweichverkehr bei der Einfahrt Urdorf-Nord wieder auf die Autobahn zwängen muss, verursacht er einen neuerlichen Stau.

Den Rathausstutz hinunter in die Hintere Gasse

Doch Navigationssysteme empfehlen ihren Benützern nicht nur, mal kurz die Autobahn zu verlassen, um einen Stau zu umfahren. Sie machen auch innerorts Empfehlungen. Zum Beispiel in Davos GR.

Darunter leiden die Anwohner. Wenn nämlich die Talstrasse verstopft ist, dann schlagen Navigationssysteme einen Schleichweg durch Quartiersträsschen wie den Rathausstutz oder die Hintere Gasse vor. Stellenweise können nicht einmal zwei Autos kreuzen.

24 Navi Google Maps Davos-Frauenkirch nach Davos-Wolfgang
Navi-Empfehlung bei Stau in Davos. Zuerst durch enge Quartiersträsschen und anschliessend über Flurstrassen, die mit Tempo 30 belegt sind.
Navi Google Maps Bild2
Hintere Gasse in Davos: Bei Stau auf der Talstrasse schlägt das Navi diesen Schleichweg vor. Kreuzen unmöglich.

Zuerst durch die Agglomeration, dann durch die Rebberge

Besser ist es auch am Genfersee nicht. Häufig sind die Autobahnen A1 und A9, die um Lausanne herumführen, verstopft. Dann schlagen Navigationssysteme den Autofahrern vor, die Autobahn in Crissier zu verlassen und in Morges-West wieder einzumünden. Der Zehn-Kilometer-Schleichweg führt durch die Agglomerationsgemeinde Bussigny, die Dörfer Echandens, Denges und Préverenges sowie das Städtchen Morges.

24 Navi Google Maps Montreux nach Bardonnex
Stau auf der A1 Richtung Genf: Zunächst empfiehlt das Navi den Schleichweg über Bussigny. Doch sobald auch dieser verstopft ist…

Und wenn es auch auf diesem Schleichweg kein Durchkommen mehr gibt, dann wissen Navigationssysteme trotzdem Rat. Sie empfehlen die Fahrt durch die Waadtländer Rebberge, über die verkehrsberuhigten Strassen im kleinen Dorf Bremblens und – obwohl sich der Verkehr dort längst staut – ebenfalls hinunter ins Städtchen Morges. Bei der Einfahrt Morges-West provozieren dann all jene, die den Stau umfahren haben und wieder auf die Autobahn drängen, einen neuerlichen Stau.

24 Navi Google Maps Montreux nach Bardonnex 2
…geht es durch die Rebberge bei Bremblens.

Da und dort scheint der Leidensdruck ziemlich gross zu sein. Die Gemeinde Urdorf teilt mit, sie sei «mit der Hauptachse Birmensdorferstrasse, die parallel zur Autobahn führt, seit Jahren durch massiven Durchgangs- und Schleichverkehr geplagt». Sie würde es begrüssen, wenn Navigationssysteme keine solchen Vorschläge machen würden.

Aber Einfluss auf die Anbieter von Navigationssystemen hat die Gemeinde nicht. Dafür versuche sie, bei Bund und Kanton Einfluss zu nehmen: «Wir tun dies beharrlich.» Und: «Auch die Moral der Automobilisten ist angesprochen: Angesichts der negativen Auswirkungen von Durchgangs- und Schleichverkehr für die Gemeinde sind sie angehalten – trotz Stau –, Urdorf auf der Autobahn zu umfahren.»

Die Gemeinde Reichenbach im Kandertal sperrt seit einiger Zeit einen der beiden Schleichwege für alle Nicht-Zubringer – aber nur an acht Tagen pro Jahr. Für mehr Sperrungen bräuchte es eine Bewilligung des Kantons. Die Gemeinde teilt mit: «Dieser temporäre Zubringerdienst wird jeweils im Winter und im Frühling an Schönwetter-Wochenenden eingesetzt.»

Der Appell des Astra

Vor Weihnachten lancierte das Bundesamt für Strassen (Astra) einen Appell an die Autofahrer und Autofahrerinnen unter dem Titel: «Ortschaften entlasten – bei Stau auf der Autobahn bleiben.» Es schrieb von «unerwünschtem Ausweichverkehr». Und weiter: «Dieser belastet die Menschen in den Ortschaften entlang der Nationalstrassen und führt zum Verkehrskollaps in den betreffenden Regionen.» Private und Gewerbler, Busse und Postauto, Fussgänger und Velofahrer auf Kantons- und Gemeindestrassen würden behindert, und das Unfallrisiko steige.

Um Durchgangsverkehr zu verhindern, schliesst das Astra bei Bedarf die Autobahneinfahrten in Göschenen und Wassen UR. Damit lässt sich Ausweichverkehr durch die Dörfer zwischen Amsteg und Göschenen verhindern oder zumindest reduzieren. Auch die Autobahneinfahrt in Airolo TI bleibt oft geschlossen. Einfluss auf die Anbieter von Navigationssystemen hat aber auch das Astra nicht.

Keine Antworten von Google

Infosperber fragte Google:

  • Finden Sie eine Ausweichroute durch enge Quartierstrassen in Davos sinnvoll?
  • Finden Sie eine Ausweichroute durch Rebberge und kleine Dörfer rund um Lausanne sinnvoll?
  • Finden Sie eine Ausweichroute durch staugeplage Orte wie Urdorf sinnvoll?
  • Warum schlagen Sie Ausweichrouten vor, die bei der Einmündung in die Hauptroute zu zusätzlichem Stau führt?

Doch Google beantwortete die Fragen nicht. Stattdessen erhielt Infosperber einen Link zu einem Google-Blog und die Standardantwort: «Wir berücksichtigen eine Vielzahl von Faktoren, um die beste Fahrtroute zu liefern, einschliesslich Strassenbreite, Direktheit, geschätzte Reisezeit und Kraftstoffeffizienz.»

Viele fahren noch immer durch Wilderswil

Im August hat der Kanton Bern die Umfahrungsstrasse in Wilderswil eröffnet. Das Dorf bei Interlaken ist verkehrsgeplagt, weil es am Tor zu den Lütschinentälern mit den Tourismusorten Grindelwald, Mürren und Wengen liegt. Trotz der Umfahrungsstrasse fahren an Spitzentagen immer noch 5000 Autos durchs Dorf. Der Grund: Die Anbieter von Navigationssystemen haben zwar die Umfahrungsstrasse in ihre Karten aufgenommen. Aber viele Autofahrer haben noch kein Update gemacht. Und sie vertrauen offenbar eher dem veralteten Navigationssystem als den neuen Wegweisern.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

2 Meinungen

  • am 13.02.2024 um 11:45 Uhr
    Permalink

    Für dieses Problem gibt es keine Lösung. Wenn eine Hauptverkehrsstrasse überlastet ist und damit für die Automobilisten zu einem Zeitverlust führt, erhalten diese vom Navigationsgerät eine Empfehlung zur Umfahrung auf einer Route mit weniger Kapazität. Da in praktisch allen Autos Navigationsgeräte mit praktisch identischem Programm installiert sind, führt dies zu noch mehr Stau und noch mehr Zeitverlust.
    Vielleicht gibt es doch eine Lösung: Das Navigationsgerät ausschalten und hoffen, dass alle anderen das nicht auch tun. Wenn alle diesen Lösungsvorschlag befolgen, sind wir wieder bei der Erkenntnis: Es gibt keine Lösung.

  • am 13.02.2024 um 12:37 Uhr
    Permalink

    I.d.R. funktionieren solche Stauumfahrungen nur für kurze Zeit, dann ist auch die nicht schneller.
    Lernende Systeme (sogenannte KI) könnten entsprechend anders steuern, wenn zB. diese Bypass-Straßen gesondert «nur für Anlieger» gekennzeichnet bzw. im System hinterlegt werden. Irgendwann werden wir in unseren Autos auch nicht anders unterwegs sein wie in den Massenverkehrsmitteln, schließlich sind wir als Masse unterwegs – allein diese unbezahlte Tätigkeit, selbst am Steuer zu sitzen und seine Mitfahrer als Amateur ohne Pausenregel zu gefährden. Irgendwann setzt sich die Vernunft durch, aber wahrscheinlich erst, wenn der Mensch entmündigt ist. Die Chinesen arbeiten daran, aber sie sind noch nicht weit.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...