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Unser Autor fiel durch eine Glasscheibe und musste auf geplante Reisen verzichten. © tt

Anders Reisen: Das Wohnzimmer als Ferienziel

Tobias Tscherrig /  Trotz Umweltbelastung wollte unser Autor verreisen. Es kam anders: Er blieb zuhause und reduzierte seinen ökologischen Fussabdruck.

Mit der Serie «Anders Reisen» weist Infosperber auf die Konflikte zwischen wachsendem Reisekonsum und Umweltbelastung hin und zeigt, wie sich diese Konflikte entschärfen lassen. Heute: Ferien im Wohnzimmer statt im Ausland. Eine selbstironische Betrachtung.

Es war ein Tag wie jeder andere, als sich die Buchstaben vor meinen Augen in eine zähe Suppe verwandelten. Ähnlich den Plastikfetzen, die auf dem Mittelmeer treiben, wirbelten sie umher und wollten sich so gar nicht einfangen lassen. Schreibblockade. Ein Phänomen, das wohl alle kennen, die regelmässig Texte verfassen. Aber ein Berufsjournalist weiss, wie er damit umzugehen hat: Abschalten, Abstand gewinnen, tief durchatmen.

Nichts half. Egal was ich unternahm, das Alphabet liess sich nicht zähmen. 26 Feinde, die sich gegen mich verschworen hatten und mich zwangen, schwere Geschütze aufzufahren.

Umweltbelastung? Drauf gepfiffen!
Der zweimonatige unbezahlte Urlaub war rasch organisiert, ich hatte grosse Pläne: Ferien in Spanien. Diverse Festival- und Konzert-Besuche im Ausland. Und da die «Gelben Westen» in Frankreich fleissig an ihrer Revolution strickten und nebenbei tausende Flüchtlinge im Dreck der europäischen Grossmacht vegetier(t)en: Eine Reportagereise durch Frankreich.

Natürlich weiss ich von der Umweltbelastung, die durch Flugreisen entstehen. Auch vom Klimawandel hatte ich gehört. Immerhin ist die menschengemachte Erderwärmung nicht erst seit Greta Thunberg und ihren «Friday for Future»-Demonstrationen ein Problem, die wissenschaftlichen Fakten kennen wir seit Jahrzehnten. Aber was soll’s: Ich wollte hinaus in die Welt – und zwar so schnell und bequem wie möglich. Für Umweltgedanken war da kein Platz. Wozu auch? Ich kann die Welt nicht im Alleingang retten. Und überhaupt, das Umweltengagement der grossen Masse endet noch immer da, wo es den eigenen Lebensstandard beschneidet.

Mein schlechtes Gewissen beruhigte ich mit Informationen aus dem Internet. Das ist eine feine Sache: Hier findet jede und jeder, was er sucht. Egal, ob es stimmt oder nicht. Ich las die Ergüsse von selbsternannten Klima- und Umwelt-Experten, von faktenresistenten Politikerinnen und Politikern und von Menschen, die alle «Grünen» in unflätigen Kommentaren dahin wünschen, wo der Pfeffer wächst. Von ihnen liess ich mir bestätigen, dass der menschengemachte Klimawandel gar nicht existiert. Die Informationen, die nicht in mein Bild passten, blendete ich aus. Gewissen beruhigt, die Ferien können kommen.

Vom Umweltsünder zum vermeintlichen Umweltschützer
Meine selbstsüchtigen Gedanken blieben nicht ohne Folge. Das Karma schlug zu, es hatte nicht den Anstand, mit der Vergeltung bis zu einem allfälligen nächsten Leben zu warten. Die Quittung erhielt ich in Form einer Glasscheibe, durch die ich fiel. Oberschenkelmuskel zerschnitten, Operation, dreiwöchige Bettruhe. Die Ferien? Gestrichen.

In den nächsten drei Wochen blieb ich zuhause, las Bücher und schaute fern. Jeder Schritt war einer zu viel. Ich hielt die Wege kurz und stand nur selten auf. Mein Universum: Zusammengeschrumpft auf die Grösse des Wohnzimmers.

Neben den körperlichen Schmerzen belastete mich mein Fernweh. Wiederum fand ich Trost im Internet: Ich las wissenschaftliche Fakten und Abhandlungen zum menschengemachten Klimawandel, erschrak über die Folgen der Erderwärmung, bedauerte die Auswirkungen auf die Artenvielfalt, auf die Ozeane und die Binnengewässer – um nur einige wenige zu nennen. Nun fühlte ich mich bestätigt: Zum Glück war ich gezwungen, meine Flugreisen zu stornieren. Damit hatte ich tonnenweise CO2-Emissionen vermieden und meinen ökologischen Fussabdruck verringert. Oder genauer: Nicht weiter vergrössert.

Für meine Seele war das Balsam. Es war ein gutes Gefühl, das Richtige getan respektive unterlassen zu haben. Ich bauchpinselte mich selber, fühlte mich erhaben: Ja, ich! Ich schütze unseren Planeten. Effizient und mit Nachdruck. Dass ich es nur tat, weil mich eine Glasscheibe dazu zwang, ignorierte ich.

Helft uns!
Wozu sich auch mit Details herumplagen? Immerhin bin ich nicht der Einzige, der die Augen vor der Wahrheit verschliesst. Der ausblendet, dass unser rücksichtsloses Verhalten den Planeten Erde in den Untergang treibt. Der ihn nur schützt, wenn es in die eigene Agenda passt. Der allen Warnungen, wissenschaftlichen Fakten und Katastrophen zum Trotz, an seinem Lebensstil und Verhalten festhält. Der die Thematik missbraucht. Der polemisiert, politisiert und schwadroniert. Und der sich aus der Verantwortung stiehlt.

Die Weltuntergangsuhr steht seit dem 24. Januar 2019 auf zwei Minuten vor Zwölf. Da uns alle wissenschaftlichen Fakten und Warnungen egal scheinen und weder Politik, noch Wirtschaft und Gesellschaft in der Lage sind, wirksame Veränderungen herbeizuführen, appelliere ich an alle Glasscheiben auf unserem Planeten: Helft uns, bremst uns, brecht!

Weiterführende Informationen:
Dossier: Anders Reisen – Umwelt schonen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Velofahrer

Anders Reisen – Umwelt schonen

Wie sich der Konflikt zwischen Reiselust und Klimafrust entschärfen lässt: Alternativen im Tourismus.

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