Handy am Steuer – von der Polizei droht kaum Ungemach
Seit 2022 testet das deutsche Bundesland Rheinland-Pfalz so genannte Handy-Blitzer. Das berichtete verkehrsmonitor.ch (Bezahlschranke) kürzlich. Kameras, die zum Beispiel an Autobahnbrücken angebracht sind, lösen aus, sobald sie erkennen, dass der Fahrer oder die Fahrerin ein Handy nutzen könnte.
Rheinland-Pfalz arbeitet nun daran, eine gesetzliche Grundlage dafür zu schaffen, dass Kontrollen auch ohne konkreten Verdacht stattfinden dürfen. Weiter sind diesbezüglich Holland und Australien. Dort gibt es bereits solche automatisierten Überwachungssysteme.
Keine Pläne in der Schweiz
Und in der Schweiz? Das Tamedia-Portal verkehrsmonitor.ch schreibt, laut Bundesamt für Strassen (Astra) gebe es keine entsprechenden Pläne. Dabei spielen natürlich Datenschutz-Überlegungen eine wichtige Rolle. Möglicherweise aber auch, dass das Handy-Problem in der Schweiz unterschätzt wird.
Vor fünf Jahren zählte die Konsumentenzeitschrift K-Tipp (Bezahlschranke) in den Städten Basel, Bern und Zürich, wie viele Automobilisten sich neben dem Fahren auch noch anderweitig beschäftigten. Am schlimmsten war die Situation am Seilergraben im Stadtzentrum von Zürich:
- Während einer guten Stunde zählte der K-Tipp insgesamt 596 Fahrzeuge.
- 97 Fahrer hatten das Handy in der Hand.
- 10 assen oder tranken.
- 6 hatten das Handy am Ohr.
- Ebenfalls 6 studierten Lieferscheine.
- 5 bedienten das Navigationsgerät.
- 20,8 Prozent fuhren also unaufmerksam.
- Nicht eingerechnet sind all jene, die das Handy griffbereit auf dem Schoss oder auf dem Beifahrersitz platziert hatten.
Schlimmer als Alkohol
Dabei weiss jeder Fahrschüler, dass die Aufmerksamkeit beim Fahren ausschliesslich der Strasse gelten müsste. Schon vor 20 Jahren hielt eine britische Versicherung in einer Studie fest, dass ein Lenker, der telefoniere, langsamer reagiere, als einer, der 0,8 Promille Alkohol intus habe. Mit dem Handy am Ohr verlängere sich die Reaktionszeit um fast 50 Prozent, mit Freisprechanlage immerhin um gut 30 Prozent.
Lange nahm das Astra das Problem nicht besonders ernst. 2003 schrieb es noch, Telefonieren mit Freisprechanlage lenke «nicht stärker ab als ein Gespräch mit einem Fahrzeuginsassen». Aber das war ein Irrtum. Denn der Beifahrer schweigt, wenn es brenzlig wird. Der Gesprächspartner am Telefon spricht munter weiter.
Über zehn Jahre brauchte das Astra, um zur Einsicht zu kommen: «Unabhängig davon, ob eine Freisprechanlage verwendet wird, führt die Nutzung eines Telefons zu einem erhöhten Unfallrisiko.» Trotzdem ist das Telefonieren mit Freisprechanlage in der Schweiz noch immer erlaubt.
Mehr Unfälle
Wer telefoniert, fährt manchmal zu schnell, manchmal zu langsam, übersieht Signale und schneidet Kurven. Wer telefoniert, missachtet auch den Vortritt, vor allem am Fussgängerstreifen. Und wer telefoniert, verursacht mehr Unfälle.
Das schrieb die St. Galler Kantonspolizei schon vor Jahren. In der Unfallstatistik stand: «Hauptunfallursache ist Ablenkung durch Handy, Navi und Unterhaltungselektronik.» Und: «Erschreckend ist zu sehen, dass unaufmerksame Fahrzeugführer gleichgeartete Unfälle verursachen wie jene, welche unter Alkohol- oder Betäubungsmitteleinfluss fahren.»
Kaum Zahlen
Gesamtschweizerisch zählt niemand die Unfälle, die auf den Gebrauch von elektronischen Geräten zurückzuführen sind. Das Bundesamt für Statistik (BfS) führt in seiner Statistik «Strassenverkehrsunfälle: mutmassliche Ursachen» nur die Rubrik «Unaufmerksamkeit und Ablenkung». Dazu gehören beispielsweise auch Essen und Trinken.
Trotzdem interessant:
- «Unaufmerksamkeit und Ablenkung» war 2022 die insgesamt häufigste Unfallursache.
- Bei Unfällen mit Getöteten die dritthäufigste Ursache.
- Bei Unfällen mit Schwerverletzten die häufigste Ursache.
- Und bei Unfällen mit Leichtverletzten ebenfalls die häufigste Ursache.
Die Polizei büsst Handy-Sünder hierzulande nur, wenn sie einen Verstoss direkt beobachtet oder auf einem Foto einer Radaranlage erkennt. Ausserdem wenn sie nach einem Unfall oder nach einem Verkehrsvergehen vermutet, ein Handy könnte im Spiel gewesen sein.
«Aus noch zu klärenden Gründen»
Die Polizei schreibt in den Unfallmeldungen, die sie den Medienunternehmen zur Weiterverbreitung zukommen lässt, häufig, dass es «aus noch zu klärenden Gründen» zu einem Unfall gekommen sei. Ob ein medizinisches Problem vorlag, ob sich der Lenker eine Zigarette anzündete, ob er betrunken war, ob er sich von Smartphone, Bordcomputer oder anderem technischen Gerät ablenken liess, bleibt offen. Und zwar für immer. Denn die Polizei reicht die Informationen auch nach Abschluss der Untersuchungen in den allerseltensten Fällen nach. Infosperber hat das schon vor einem Jahr kritisiert.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Das Problem ist nicht neu, aber scheint akut zu werden. Vor ein paar Jahren war ich in Neuchâtel vorne in einem vollgepackten ÖV-Bus. Als der Fahrer in einem Kreisel am Handy fummelte, habe ich ihn höflich hingewiesen, dass dieses Verhalten vielleicht gefährlich sei und er dabei seinen Job riskiere. Er hat es sofort auf die Seite gelegt und hat sich für meine Intervention drei Mal bedankt. Das Handy hat teilweise zur Gehirn- und Hand-Verlängerung mutiert und dessen Gebrauch findet manchmal halb unbewusst statt. Ich fände es aber schade, wenn das Problem einmal mehr, nur mit Blitz und budgetierten Bussen angegangen wird. Ein sofortiger Ausweisentzug mit exponentieller Dauer wäre vielleicht wirksamer und würde zugleich den ÖV fördern, solang der Bussfahrer nicht selber auf das Handy schaut.
Die polizeiliche Untätigkeit wird seit neuerem auch höchstrichterlich legitmiert. Das Bundesgericht hob im Mai 2023 einen Bussenentscheid gegen eine Automobilistin auf, die während der Fahrt ihr Smartphone checkte, Das Bundesgericht kommt in seinem Urteil zum Schluss, dass ein kurzer Blick auf ein Telefon, das auf Höhe des Lenkrads gehalten wird, keine grössere Ablenkung darstelle als ein Blick in die Rückspiegel, der in vielen Situationen vorgeschrieben sei oder auf das Armaturenbrett (Urteil 6B_27/2023).
Ich habe lieber 20,8 % zeitweise unaufmerksame Fahrer als immer mehr totale Überwachung.
Merke! Absolute Sicherheit ist absolute Unfreiheit! Dazu müsste alles gefährliche Verboten werden und lückenlos automatisch überwacht werden.
Keine Zigaretten, kein Alkohol, keine langen Fest wenig Schlaf ist ungesund und führt zu unkonzentriertem Fahren, keine Unterhatung mehr am Steuer, überall Kameras…
Wer will so eine Welt?
Dann können sie nur beten Herr Happel, dass sie nicht diesen 20,8% «Unaufmerksame» in die Quere kommen,, so wie es dem Jugendlichen eines Nachbarn von uns passiert ist, der nun auf dem Friedhof lieg. Der hat nach ihrer Meinung offensichtlich halt Pech gehabt.
Oh je.
Was ab und zu auch zu sehen ist, dass gewisse «Gesetzeshüter» im Dienstwagen selbst am Handy gesichtet wurden und das auch als Fahrer. Beim Dienst-Einsatz haben sie ja ihren Funk im Wagen, es ist aber anzunehmen (und wurde mir auch schon bestätigt) dass einige doch ihre privaten Gespräche wärmend dem Dienst am Handy führen. Schlechte Vorbilder.
Natürlich unterschätzen die Behörden das Problem, jedoch sind Lösungen in unserer super-pseudoliberalen Gesellschaft schwierig. Schlimmer als die Smartphones finde ich manche Geräte im Auto, die legal sind, weil fest eingebaut. Ganz früher hatte ein Autoradio z.B. zwei wesentliche Knöpfe, die man leicht bedienen konnte, ohne hinzuschauen: Lautstärke und Sender. Spätere, aber noch analoge Radios, waren praktisch nicht mehr zu bedienen als Fahrer: Multifunktionsknöpfe mit LCD-Display, kleine unlesbare Schriften, usw. Wie es heute ist, weiss ich nicht, jedoch wohl nicht viel besser und dazu kommen ja Navis und die Bedienung des Autos selber. Eine Überforderung für mehr als 20,8%, behördlich sanktioniert und sogar gefördert mit der «Hurrah-Digitalisierung».