Wie sich der schwindende Atomstrom ersetzen lässt
In einem Punkt waren sich Gegner und Befürworter der abgelehnten Atomausstiegs-Initiative einig: Mehr Import von Atom- und Kohlestrom ist unerwünscht. Doch die unerwünschte Einfuhr nimmt schon im laufenden Jahr zu, weil seit August mit Beznau I und Leibstadt gleich zwei inländische Atomreaktoren ungeplant stillstehen. Damit wird die Schweiz 2016 den höchsten Import-Überschuss seit dem Spezialjahr 2005 verbuchen (2005 stand das AKW Leibstadt ebenfalls lange still und die Produktion der Wasserkraft lag weit unter dem Durchschnitt).
Produktion von Atomstrom schwindet
Schon seit 2000 schrumpft der Anteil der Atomkraft, gemessen am Schweizer Stromverbrauch (siehe Grafik).
Quelle: BFE Elektrizitätsstatistik, Berechnung: Guggenbühl, (*2006 Schätzung), Grafik: «Südostschweiz»
Grössere Darstellung hier.
Selbst wenn die Aufsichtsbehörde Ensi den Betrieb von Beznau I und Leibstadt bald wieder erlaubt, wird die Produktion von Atomstrom – bei jährlichen Schwankungen – wohl weiter abnehmen. Denn 2019 schalten die Berner BKW ihr AKW in Mühleberg endgültig ab. Zudem nimmt die Verfügbarkeit von Atomkraftwerken mit zunehmendem Alter tendenziell ab, sei es wegen Defekten oder Nachrüstungen.
Auch die AKW in Frankreich, an denen sich Schweizer Stromunternehmen in den 1980er- und 1990er-Jahren beteiligten (Cattenom, Bugey, Fessenheim) nähern sich dem Pensionsalter und fallen öfter aus. Im November 2016 etwa konnte Frankreich nur 66 Prozent seiner AKW-Kapazität nutzen – und importierte in Spitzenzeiten zu hohen Preisen Strom aus Schweizer Speicherkraftwerken.
Atomstrom ersetzen, aber wie?
Damit stellt sich die Frage: Wie kann und soll die Schweiz den – irgendwann sicheren und jederzeit möglichen – Wegfall des inländischen Atomstroms ersetzen? Drei Wege stehen offen:
● Markt und Import: Die «Avenir Suisse» entwickelte 2013 die Strategie «Energiesicherheit ohne Autarkie». Demnach soll die Schweiz ihren Strommarkt vollständig öffnen, noch stärker in den europäischen Markt integrieren und jegliche Regulierung der Stromversorgung verzichten. Ihre Begründung: Import von Strom sei ökonomisch vorteilhafter als die Produktion in inländischen Wind, Solar- oder Gaskraftwerken. Damit nimmt die Denkfabrik der Schweizer Wirtschaft einen stark wachsenden Überschuss an Importstrom in Kauf, wenn inländische AKW aussteigen. Nachteil: Der Grossteil dieses Importstroms wird heute in Kohle-, Gas- und Atomkraftwerken erzeugt und auf einem durch Subventionen und Öko-Dumping verfälschten Markt gehandelt.
● Vollständig erneuerbar: Die Schweizer Umweltverbände wollen den Stromverbrauch in der Schweiz «stabilisieren oder senken». Der verbleibende Bedarf soll «ab 2035 zu hundert Prozent aus einheimischen und erneuerbaren Stromquellen gedeckt werden». Gestützt wird diese Forderung durch Szenarien, die der Ingenieur Anton Gunzinger in seinem Buch «Kraftwerk Schweiz» publizierte. Das Problem: Diese Strategie basiert auf einer massiven Erhöhung der heutigen Fotovoltaik-Leistung und erfordert zusätzliche Speicherkapazität, um den solaren Stromüberschuss aus sonnigen Sommertagen ins sonnenarme Winterhalbjahr umzulagern.
● Erneuerbar, fossil, Import: Einen Mittelweg weist die Vorlage zur Energiestrategie des Bundes, über die das Volk voraussichtlich nächstes Jahr abstimmt. Sie setzt primär auf höhere Stromeffizienz mit dem Ziel, den Stromkonsum pro Kopf in der Schweiz bis 2035 um 13 Prozent unter das Niveau im Jahr 2000 zu senken. Bei einem mittleren Wachstum der Bevölkerung bliebe der gesamte Stromverbrauch in der Schweiz 2035 etwa auf dem heutigen Niveau von 62 Milliarden Kilowattstunden (Mrd. kWh).
Um diesen Bedarf ohne Atomstrom zu decken, setzt die Energiestrategie fürs Jahr 2035 im Inland folgende Produktionsziele: 37,4 Mrd. kWh Strom aus Wasserkraft und 11,5 Mrd. kWh aus andern erneuerbaren Energieträgern. Dazu kommt Strom aus Abfall und fossiler Produktion, heute 2,0 Mrd. kWh. Um die verbleibende Lücke von rund 11 Mrd. kWh zu stopfen, sehen die Szenarien zur Energiestrategie vor allem im Winterhalbjahr eine Zunahme der fossilen Stromproduktion im Inland vor, bevorzugt durch dezentrale Wärmekraft-Kopplungs-Anlagen, die Ölheizungen ersetzen. Oder einen entsprechenden Überschuss an Importstrom. Oder eine Mischung aus beidem.
Atomausstieg als Unbekannte
Szenarien sind stets offen, weil sie von Voraussetzungen ausgehen, die sich ändern können. Die Szenarien der Energiestrategie setzen voraus, dass alle Schweizer AKW nach fünfzig Betriebsjahren stillgelegt werden. Die Vorlage zur Energiestrategie lässt die Lebensdauer aber offen. Geht es nach den Plänen des Stromkonzerns Axpo, so sollen die Schweizer Atommeiler sechzig Jahre oder noch länger laufen. Damit könnten Gösgen und Leibstadt 2035 immer noch Strom liefern. In diesem Fall resultiert 2035 ein Exportüberschuss. Falls aber ein grosses AKW aus Sicherheits- oder Rentabilitätsgründen früher ausfällt, steigt der Importüberschuss stärker. Diese Unsicherheit erschwert eine zuverlässige Prognose – und Planung.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.