GASTBEITRAG Zum Sarkophag für das AKW Tschernobyl
Red. Der Infosperber-Bericht über die im Bau befindliche Riesenhülle für das radioaktives Wrack des explodierten AKWs ist auf grosses Interesse gestossen. Tina Berg von der «Schweizerischen Energie-Stiftung» SES hat noch mehr Details dazu recherchiert.
—
Lage seit der Krise in der Ukraine unklar
Nach dem Super-GAU 1986 wurde in höchster Eile und unter Lebensgefahr der Beteiligten ein Betonschutzmantel über die Reaktorruine gebaut. Die von Anfang an notdürftige Konstruktion ist unterdessen alt, rostig und hat teils riesige Löcher. Seit 2010 wird deshalb am ukrainischen Unglücksort ein neuer Sarkophag gebaut. Bezahlt wird das Riesenprojekt hauptsächlich von der EU, auch die Schweiz ist finanziell daran beteiligt. Ob die Krise in der Ukraine für die Fertigstellung der Schutzhülle zum Problem wird, ist derzeit noch unklar.
Explosion 1986
Bei einer Explosion wurden am 26. April 1986 der Reaktor 4 und das Reaktorgebäude des AKW-Komplexes in Tschernobyl vollständig zerstört – zum ersten Mal in der Geschichte des Atomzeitalters war ein katastrophaler Unfall der höchsten Stufe auf der INES-Skala (1) eingetreten. «Die Detonation wirbelte über Tage radioaktive Teilchen in die Luft, die Strahlung war 400 Mal so stark wie beim US-Atombombenabwurf auf Hiroshima 1945», schrieb die «Welt». (2)
Rund 200’000 Menschen mussten in Folge des Unfalls umgesiedelt werden. Ungeklärt ist bis heute, wie viele Todesopfer einschliesslich der späteren Strahlenopfer der Super-GAU forderte. Die Schätzungen liegen bei mehreren Zehntausend. Dazu kommen einige Hunderttausend gesundheitlich Geschädigte [vgl. «Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl» der Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs].
Baufälliger Schutzmantel
Der Unfall in Tschernobyl jährt sich heuer zum 28. Mal. Es scheint, es sei Gras über die Sache gewachsen – zumal der Super-GAU kaum mehr für Schlagzeilen sorgt. Doch eine grüne Wiese ist dort mitnichten zu finden. Im Gegenteil: Der nach der Katastrophe notdürftig errichtete Betonsarkophag ist rostig, alt und undicht. Der Sarkophag war von Anfang an eine schlechte Lösung: Er wurde in höchster Eile und unter Lebensgefahr aller Beteiligten aufgebaut und die extreme Strahlenbelastung verunmöglichte es schlichtweg, Baustandards einzuhalten. So entweicht nach wie vor radioaktiver Staub durch Risse und Spalten, die Konstruktion ist nicht erdbebensicher und schon schwere Stürme könnten den Sarkophag beschädigen.
Ein Gebäude drei Mal so schwer wie der Eiffelturm
Viele Pläne zur Verbesserung der Situation wurden über die Jahre vorgelegt. Aufgrund der Unsicherheit, wie es um den zerstörten Reaktor im Innern des Sarkophags bestellt war, konnte jedoch keine valable Lösung präsentiert werden. Ende der 1990er-Jahre machte man schliesslich Nägel mit Köpfen: Über den alten soll ein neuer Sarkophag gestülpt werden, eine Schutzhülle von immensem Ausmass: 257 Meter breit, 164 Meter lang, 110 Meter hoch und 29’000 Tonnen schwer. Schon der Metallrahmen, mit 23’000 Tonnen Gewicht, ist fast drei Mal so schwer wie der Eiffelturm. (3) Das «New Safe Confinement», kurz NSC, wird einst das grösste bewegliche Gebäude der Welt sein und soll 100 Jahre halten. Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit wird seit 2010 wenige hundert Meter neben dem Unfallreaktor am NSC gebaut. Die neue Schutzhülle soll nach der Fertigstellung auf Schienen über den Unglücksreaktor geschoben und an den Stirnseiten verschlossen werden.
Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) gründete dafür 1997 den Chernobyl Shelter Fund (CSF), um der Ukraine bei der Realisierung des New Safe Confinements zu helfen. Der Fonds stellt Gelder für den Bau der neuen Schutzhülle bereit und soll längerfristig die Bedingungen für eine komplette Stilllegung und Dekontaminierung von Reaktor 4 schaffen. (4) Mehr als 40 Staaten, darunter auch die Schweiz, unterstützen das Vorhaben finanziell. Der neue Sarkophag ist teuer: «Die Gesamtkosten nur
für die Stabilisierung und Abdichtung des zerstörten Blocks mit dem NSC werden auf mindestens 1,56 Milliarden Euro veranschlagt. Grösster Geldgeber ist […] die EU.» (5) Die Schweiz beteiligt sich mit 9,3 Millionen Euro am Chernobyl Shelter Fund (CSF). (6)
Erste Etappe geschafft
Vor Ort wird derweil unter Hochdruck gearbeitet. Die riesige bewegliche Halle wird in zwei Teilen montiert. Am 2. April 2014 wurde die östliche 12’600 Tonnen schwere Halle bereits fertiggestellt und 112 Meter weit in ein Warteareal vor den Reaktor 4 geschoben.(7) Die neue Schutzhülle ist äusserst wichtig und das Riesenprojekt eilt: Im Februar 2013 nämlich stürzte das marode, alte «Dach» teilweise ein. Etwa 600 Quadratmeter der Deckenkonstruktion brachen in sich zusammen. Die Bauarbeiten am neuen Sarkophag wurden dadurch allerdings nicht tangiert, wie Sven Dokter, Pressesprecher der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit GRS, erklärte. (8)
Allerdings sorgen andere Probleme für Verzögerungen. Ursprünglich war die Fertigstellung des Projekts für Ende 2015 geplant. Laut der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) kann dieser Zeitplan aber unmöglich eingehalten werden. Die EBRD geht derzeit davon aus, dass es noch bis mindestens 2017 dauern wird, bis die neue Schutzhülle fertig ist. Hauptursache dafür sind Unsicherheiten bei der Planung – vieles sei komplizierter umzusetzen als ursprünglich gedacht. «Das ist eine Enttäuschung für uns, insbesondere weil durch die Verzögerungen auch alles teurer wird», erklärt Vince Novak, Direktor für Nukleare Sicherheit bei der EBRD. «Das Geld reicht nur noch für dieses Jahr, deshalb bedarf es einer raschen politischen Entscheidung aller Beteiligten, wie mit dem Projekt weiterverfahren werden soll.»
Das New Safe Confinement soll verhindern, dass in Zukunft kontaminiertes Material aus dem alten Sarkophag in die Umwelt gelangt. Gleichzeitig wird die Konstruktion den zerstörten Reaktor vor externen Einflüssen wie extremen Wetterbedingungen schützen (9). Nie zuvor ist ein solch gigantisches Projekt unter vergleichbaren Bedingungen entstanden. Am Bau sind IngenieurInnen und Spezialisten aus aller Welt beteiligt. Den Zuschlag für das Projekt bekam 2007 das Baukonsortium Novarka, zu dem sich die französischen Baufirmen Vinci und Bouygues zusammengeschlossen hatten. Novarka arbeitet dabei sowohl mit lokalen Sub-Unternehmen zusammen als auch mit beispielsweise italienischen und US-amerikanischen Firmen.
Instabile politische Lage
Über den Einfluss der politischen Instabilität in der Ukraine auf die Fertigstellung des New Safe Confinement ist man sich uneins. Sven Dokter von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit GRS relativiert die Bedeutung der Krise: «Es würde mich wundern, wenn in der Bevölkerung, egal ob russisch oder ukrainisch, unterschiedliche Meinungen zur Wichtigkeit dieses Projekts bestehen würden. Die aktuelle politische Lage hat deshalb meines Wissens keinen Einfluss darauf.» Anderer Meinung ist hingegen Vince Novak, Direktor für Nukleare Sicherheit beim EBRD: «Natürlich sind wir sehr nervös angesichts der aktuellen Lage, insbesondere bei einer weiteren Destabilisierung der Ukraine. Bislang sind die Arbeiten vor Ort von den Ereignissen verschont geblieben. Allerdings könnten auch die involvierten Bauunternehmen zunehmend beunruhigt werden.»
Noch lange eine Atom-Ruine
Die Arbeiten an der neuen Tschernobyl-Schutzhülle werden voraussichtlich in den nächsten Jahren abgeschlossen sein. Allerdings stehen noch viele weitere Arbeiten an: Der letzte Reaktor des Atomkraftwerks Tschernobyl wurde erst im Jahr 2000 abgeschaltet. Nun gilt es, die von der Katastrophe nicht beschädigten Reaktoren in den nächsten Jahrzehnten stillzulegen. Zu einem späteren Zeitpunkt soll auf dem Areal dann ein Lager für Atommüll entstehen. Eine Baustelle und Atom-Ruine bleibt das Atomkraftwerk also noch lange.
—
(1) Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse
(2) Die ersten 5000 Tonnen Strahlenschutz sind fertig, 27.11.2012, www.welt.de
(3) www.vinci-construction-projects.com > Know-How > Type of works > Energy > Nuclear
(4) www.ebrd.com > Sectors > Nuclear safety > Chernobyl Shelter Fund
(5) Dagmar Röhrlich: Der neue 29’000-Tonnen-Sarg für Tschernobyl, 18.1.2013, www.welt.de
(6) www.ebrd.com/downloads/research/factsheets/chernobyl25.pdf
(7) www.chnpp.gov.ua > News > 2.4.2014
(8) Die GRS unterstützte bis vor kurzem die ukrainischen Behörden als Gutachter für das Projekt.
(9) www.ebrd.com > Sectors > Nuclear safety > Chernobyl’s New Safe Confinement
—
Dieser Beitrag ist in «Energie und Umwelt» der «Schweizerischen Energiestiftung» erschienen.
—
Zum ersten Bericht auf Infosperber über den Bau des Sarkophags
—
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Tina Berg arbeitet für die Schweizerische Energiestiftung SES.