Deutschland: Das Märchen vom Atomausstieg
In Deutschland sollen bis zum Jahr 2022 alle Atomkraftwerke stillgelegt werden. Doch der einhellig beschlossene «Atomausstieg» wird nur teilweise vollzogen. Laut einem Bericht des ARD-Wirtschaftsmagazins «Plusminus» dürfen die Urananreicherungsanlage im westfälischen Gronau und die Brennelemente-Fabrik im niedersächsischen Lingen ihren Betrieb unbefristet weiterführen. Nach Ansicht der Bundesregierung ist «eine generelle Stilllegung aller kerntechnischer Anlagen in Deutschland nicht angezeigt». Nur: Davon hat kaum ein Politiker gesprochen – schon gar nicht vor den Wahlen.
Konkret bedeutet das: Auch wenn in Deutschland kein AKW mehr läuft, produzieren deutsche Atomfabriken weiterhin angereichertes Uran und Brennelemente für ausländische Kernkraftwerke. Auch die Schweiz gehört zu den Abnehmern, ebenso Frankreich, Schweden, Finnland, Belgien, Niederlande, Spanien und China. Für den Atomexperten Sebastian Pflugbeil ein absurdes Phänomen: «Wenn die Bundesregierung tatsächlich aus der Atomkraft aussteigen will und sich wünscht, dass auch andere Staaten folgen, ist es doch das letzte, wenn man sie mit Brennstoff versorgt.»
Gefährliche Transporte
Auch die Bevölkerung hat sich den Atomausstieg wohl anders vorgestellt. Denn solange die Atomfabriken weiter produzieren, sind auch die regelmässigen Transporte von hochgefährlicher Fracht auf dem Schienen- und Autobahnnetz quer durch Deutschland nicht zu stoppen.
Das Ausgangsmaterial für die Urananreicherung ist Uranhexafluorid (UF6), eine chemische Umwandlung von natürlichem Uran. Uranhexafluorid ist eine leicht flüchtige, äusserst giftige, radioaktive Verbindung. Bereits bei einer Temperatur von 56,5 Grad wird Uranhexafluorid gasförmig. Gelangt es in die Umwelt, entsteht beim Kontakt mit Flüssigkeit – zum Beispiel Luftfeuchtigkeit oder Löschwasser – die gefürchtete Flusssäure, die sogar Glas zersetzen kann.
Uran lagert unter freiem Himmel
Das gefährliche Uranhexafluorid wird regelmässig durch die Bundesrepublik transportiert. Durchschnittlich ein bis zwei Zugtransporte gibt es pro Monat. Bilder von «Plusminus» zeigen zudem: Ungeachtet des Gefahrenpotenzials, lagern die Rückstände aus der Anlage Gronau in Behältern unter freiem Himmel. Derzeit sind es an die 9000 Tonnen abgereichertes Uranhexafluorid. Bewilligt ist eine zeitlich unbegrenzte Lagerung von insgesamt 38’100 Tonnen. Naturkatastrophen, Anschläge, ein Flugzeugabsturz, technisches oder menschliches Versagen könnten verheerende Folgen haben.
Der Betreiber der Anlage, das Unternehmen Urenco, vertraut auf die betriebseigenen Sicherheitssysteme, doch Anwohner kritisieren die Lagerung dieses gefährlichen Stoffes in ihrer Nachbarschaft und die regelmässigen Transporte auf dem normalen Bahnnetz. Bei einem schweren Unfall in einem Bahnhof oder auf freier Strecke sei eine Katastrophe nicht zu verhindern, fürchten sie.
Beinahe-Katastrophe im Hamburger Hafen
Dass diese Angst begründet ist, zeigte sich am 1. Mai 2013. Im Hamburger Hafen fing der Frachter Atlantic Cartier Feuer – an Bord befand sich Uranhexafluorid. Nur 500 Meter davon entfernt wurde gerade der Kirchentag mit zehntausenden Besuchern eröffnet. Per Kran konnten Behälter mit Uranhexafluorid aus dem brennenden Frachter entfernt werden. Die Öffentlichkeit erfuhr erst nach dem Vorfall, dass man nur knapp an einer Katastrophe vorbeigeschrammt war.
Uran-Transporte per Schiff sind keine Ausnahme. Recherchen von «Plusminus» ergaben, dass allein im März 2013 neun Mal radioaktives Material durch den Hamburger Hafen transportiert wurde.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Ein Bericht mit dem Charakter wirklich interessanter Informationen.