Das Elektrovelo zwischen Verachtung und Vernunft
«Jeder muss bei sich selber beginnen.» Also beginne ich bei mir, genauer, in meiner Eigenschaft als Reisender auf einem leichten Fahrrad mit schmalen Reifen. Unterwegs fällt mir auf, dass es immer mehr Elektrobikes gibt. Wenn ich eines dieser Fahrzeuge, deren Geschwindigkeit auf 25 km/h limitiert ist, in der Ebene überhole, tröste ich den Fahrer spöttisch: «Wenn ich einen schweren Motor samt Batterie mitschleppen müsste, wäre ich auch so langsam.» Saust bergauf ein Velo mit grossem Kontrollschild im 35-Kilometertempo an mir vorbei, rufe ich ihm empört nach: «Aha, ein Elektrotöff!» Ähnlich mag es Bergfahrern ergehen, wenn sie von einem Mountainbike mit Elektroschub überholt werden; nach Bergbahnen und Skiliften brandet jetzt eine weitere Elektrisierungswelle über die Alpweiden.
Wer sich selbstgerecht mit eigener Muskelkraft voran bewegt, begegnet Velofahrenden auf elektrischen Krücken mit Verachtung. Das Gleiche gilt für Ästheten, die das Velo als Kult(urgut) betrachten und und die klobigen Stromer als Fremdkörper empfinden. Das haben inzwischen auch Designer und Hersteller bemerkt. Sie integrieren Batterie und Elektromotor inzwischen derart diskret in die Velorahmen, dass man den Unterschied zwischen Muskel- und Stromantrieb kaum mehr sieht.
Muskelapparat mit tiefem Wirkungsgrad
Der verächtliche Blick auf die mit Strom gedopten Biker vernachlässigt indes einen wesentlichen Aspekt: Die energetische Vernunft. Denn Elektromotoren sind effizienter als der menschliche Muskelapparat. So wandelt ein Elektromotor über 90 Prozent des eingesetzten Stroms in (Antriebs-)Kraft um. Selbst wenn man den Speicherverlust in der Batterie mitberücksichtigt, bleibt beim Elektroantrieb ein Wirkungsgrad von 70 Prozent. Der energetische Wirkungsgrad des menschlichen Körpers hingegen beträgt im Schnitt 20, auf dem Velo maximal 25 Prozent. Das heisst: Nur ein Viertel der in der Nahrung gespeicherten Energie drückt als Muskelkraft auf die Pedale; drei Viertel verpuffen als Wärme.
Der Wirkungsgrad wiederum beeinflusst den Verbrauch von Endenergie: Wer mit einem Elektrovelo in vier Stunden hundert Kilometer zurücklegt, benötigt dafür rund eine Kilowattstunde (kWh) Strom (immer exklusive Tramp-Hilfe). Wer die gleiche Strecke mit gleichem Tempo allein mit Muskelkraft abspult, verbrennt drei kWh Energie in Form von Nahrung. Je nach Gewicht gibt es deutliche Abweichungen von diesen Mittelwerten. Denn entscheidender als der Antrieb ist die beförderte Masse. Darum verbraucht ein zwei Tonnen schweres Elektroauto trotz hohem motorischem Wirkungsgrad zwanzig Mal mehr Strom als ein 25 Kilo schweres Elektrovelo mit 75 Kilo schwerem Fahrer. Sogar 50 Mal mehr Energie wandelt ein benzinbetriebenes Mittelklasse-Auto in CO2 um.
Verluste bei der Umwandlung
In diesen Vergleichen nicht enthalten sind die Verluste, die bei der Umwandlung von Primär- in Endenergie entstehen. Ein Atomkraftwerk etwa produziert aus der Energie, die im Uran steckt, nur einen Drittel Strom, während zwei Drittel als Dampffahne in die Luft entweichen (oder als «Abwärme» in die Aare. Red.). Auch in Gas- und Kohlekraftwerken beträgt der Umwandlungsverlust der Primärenergie 40 bis 60, bei Photovoltaik-Anlagen sogar 80 Prozent. Berücksichtigt man den weiten Weg von Uran- oder Kohleminen über das Kraftwerk bis zum Motor, so sinkt der Wirkungsgrad des Elektrovelos auf 20 Prozent.
Noch grösser ist der Verlust, den die heutige Agrar- und Nahrungsindustrie hinterlässt: Um eine Nahrungskalorie auf den Schweizer Teller zu bringen, so hat der Schreibende aus diversen Studien errechnet, braucht es im Schnitt 15 Kalorien in Form von rohen Pflanzen, Tierfutter plus nicht erneuerbarer Primärenergie (vom Erdöl für Dünger und Landmaschinen bis zum Strom für Lebensmittelindustrie und Kochherd). Auf dem gesamten Weg vom Feld über den Teller und Körper bis zum Druck auf die Pedale schrumpft der energetische Wirkungsgrad des muskelbetriebenen Fahrrads im Schnitt auf zwei Prozent.
Auf den Speisezettel kommt es an
Dabei ist aber zu unterscheiden: In tierischer Nahrung steckt ein viel grösserer Kalorienverlust als in pflanzlicher. Velofahrer, die ihre Muskelkraft aus Fleisch schöpfen, verschwenden ein Mehrfaches an Energie gegenüber Velofahrerinnen, die sich mit Spaghetti oder Kartoffeln ernähren.
Ebenso wichtig wie die Menge ist die Qualität der eingesetzten Energie: Wer das bisschen Strom fürs Elektrovelo aus Sonnenenergie erzeugt, belastet die Umwelt weniger als Elektrobiker, die mit Kohlestrom herumkurven. Der Speisezettel des Fahrers beeinflusst die Öko-Bilanz des Velos stärker als die Frage, ob Strom oder Muskeln die Kurbel antreiben. Was den zuvor errechneten Effizienzvorteil des Elektroantriebs wieder relativiert. So kann eine Vegetarierin auf einem leichten Rennvelo den Fleischesser auf einem mit Atomstrom betriebenen Elektrobike auch energetisch hinter sich lassen.
Muskeln stählen – mobil und immobil
Die gleichen Wechselwirkungen gelten für andere körperliche Tätigkeiten. Womit wir zu einem weiteren Widerspruch kommen: Während die einen ihre Muskeln entlasten, indem sie vom Velo aufs boomende Elektrobike* umsteigen, stählen immer mehr Personen ihre Muskeln an immobilen Kraft- und Tretmaschinen. Dazu verbrennen sie nicht nur körpereigene Energie, sondern beanspruchen obendrein fremdenergie-verzehrende Fitnesszentren. Vor diesen Trimm-Dich-Buden parkieren kaum Fahrräder, aber viele Autos. Im Vergleich dazu ist die Energiebilanz von allen Leuten, die ihre Transportwege auf einem Velo abspulen und damit gleichzeitig ihre Muskeln an der frischen Luft trainieren, immer noch vorbildlich.
* Die Zahl der in der Schweiz verkauften Elektrovelos stieg in den letzten zehn Jahren auf das Zwanzigfache. Im Jahr 2015 verkauften die Händler 66 300 Elektrobikes; jedes fünfte verkaufte Velo besass damit einen Elektroantrieb. 30 Prozent dieser 2015 verkauften Elektrovelos gehören zur Kategorie Mountainbikes, also zu den – vermeintlichen – Sportgeräten.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Ein interessanter Aspekt, der meistens vergessen geht! Ich würde jedoch noch mehr differenzieren. Es kommt auch auf das Verhältnis der benötigten Leistung zum Grundumsatz an. Das ist die minimale Energie pro Tag, welche der Körper bei völliger Ruhe zum Leben benötigt, ohne Schwitzen und Verdauen. Z.B. auf https://jumk.de/bmi/grundumsatz.php kann dieser berechnet werden: Ein 80 kg / 180 cm Mann von 60 Jahren benötigt z.B. 6926 kJ pro 24 h. Als Leistung ausgedrückt, sind dies 80 Watt. Zum mittleren Velofahren werden auch 80 W mechanischer Leistung benötigt, bei 25 % Wirkungsgrad also 320 W in der Form von Nahrung. Aber z.B. ein Pendler fährt vielleicht 1-2 Stunden pro Tag, also wird dafür nur ein Bruchteil der täglichen Nahrung benötigt und es ist fraglich, ob so ein Velopendler wirklich mehr isst als sonst jemand. Die Website gibt das 1.4-fache des Grundumsatzes für normale Tätigkeit an.
Der Elektrovelofahrer wird bei gleicher Leistung schneller ankommen oder bei gleicher Zeit weniger leisten, aber dazu kommt die grössere graue Energie von E-Velo und Akku. Intuitiv würde ich sagen: «ghupft wie grschprunge"! Auf jeden Fall *viel* effizienter als jedes andere Motorfahrzeug. Es ist schon erstaunlich, dass das innerorts durchschnittlich schnellste Fahrzeug auch das effizienteste (und gesundeste) ist!
Bei langen Distanzen, z.B. bei Rennfahrern oder Velokurieren werden die Überlegungen des Artikels wichtiger, da eine sehr aktive Person ein Mehrfaches ihres Grundumsatzes benötgt.
Lieber Hanspeter, deine Ausführungen sind sehr interessant. Aus energieeffizienter Sicht ist deine Betrachtung vollkommen richtig.
Als «dipl. Velofahrer» achte ich hier jedoch nur auf meine eigene Energieeffizienz ohne Fremdhilfe – egal wieviele Kohlenhydrate ich verbrate. Einzig auf eine möglichst ökonomische Fahrweise achte ich um die geplante Strecke so hinter mich zu bringen dass ich das abschliessende Bier noch geniessen kann. Das war früher anders: da hiess es nur möglichst schnell ankommen.
Eine leichte Verachtung gegenüber Strom-Töffli kann ich jedoch nicht verhehlen – auch nicht eine leichte Schadenfreude, wenn ein Strömler mit leerer Batterie einen Hügel hinauf würgt oder seinen schweren Göppel – wegen fehlendem Waden-Pfupf – gar schieben muss.
In diesem Sinne wünsche ich dir und allen GümmelerInnen eine schöne, plattfreie Rädlisaison.
Ganz am Schluss streift Hanspeter Guggenbühl einen wichtigen Punkt, aber nur so halb: Der Mensch braucht, um gesund zu bleiben, ein gewisses Mass an Bewegung. Dieses lässt sich sehr gut auf dem Velo oder zu Fuss (da ist der Energieverbrauch noch höher als auf dem Velo!) in den Alltag einbauen.
Wer diese Bewegung nun, aus Gründen der Energieeffizienz, nicht mehr zulassen will, gleitet in meinen Augen schon etwas ins Sektiererische, Menschenfeindliche ab. Ein paar Schritte weiter auf diesem Weg, und man müsste allen empfehlen, sich aus ökologischen Überlegungen doch lieber sofort umzubringen.
Ich bin übrigens überhaupt kein fundamentaler Gegner von Elektro-Mofas. Für den Nahverkehr finde ich diese absolut genial. Bloss sollten sie als Ersatz für andere Motorfahrzeuge eingesetzt werden. Dies ist auch, wie im Artikel sehr schön dargelegt, vom energetischen Standpunkt sehr vorteilhaft.
In der Realität beobachtet man Elektro-Mofas aber auch häufig im Freizeitbereich. Es werden damit Fahrten gemacht, die in keiner Weise notwendig sind. Das ist immer noch viel besser als ein «Blueschtfährtli» mit dem Auto, aber energieeffizient ist es nicht.
Einen wichtigen energetischen Vorteil des Fahrrades gegenüber motorisierten Gefährten kann man grundsätzlich nicht mit Wirkungsgrad-Berechnungen erfassen: Wer selbst treten muss, hält bezüglich der gefahrenen Kilometer besser Mass. Man überlegt vielleicht einmal mehr, welche Fahrt nötig ist, und welche man genauso gut bleiben lassen könnte.
Aprilscherz? Wer sich gesund und fleischarm ernähren will, tut das hoffentlich nicht, weil der Wirkungsgrad seines Organismus neuerdings in Konkurrenz zu jenem des Elektromotors gesetzt wird.
Die Sache mit dem Velo ist ohnehin viel einfacher: Der Elektromotor am Velo ist ein entscheidender Beitrag dazu, dass Kurzstreckenfahrer ihr Auto stehen lassen und aufs Velo umsteigen. Meinen Arbeitsweg mit 350 m Höhendifferenz würde ich mit einem Normalvelo nicht täglich unter die Räder nehmen. Tu ich aber mit dem E-Velo. Auch wenn ich als Fleischesser meine Velobatterie – nehmen wir mal an – mit Kohlestrom lade, fällt die Energiebilanz immer noch günstiger aus als jene des Wädli-Fetischisten, der – nehmen wir mal an – sein Sportgerät am Sonntagabend bis zum nächsten Schönwetterwochenende in die Garage hängt und voll krass im Auto zur Arbeit fährt.