Bild5

Alltag in Freiburg: Chaos im Zubringerverkehr. © Christoph Schütz

Tempo 30 in Freiburg – viel Marketing und viel Fehlinformation

Christoph Schütz /  Wer sich in den Medien informiert, könnte meinen, die Stadt Freiburg sei eine Schweizer Pionierstadt. Eine Richtigstellung.

Der Kanton Freiburg ist ein ausgesprochener Autokanton: Einzig im Kanton Jura pendeln noch mehr Menschen mit dem privaten Motorfahrzeug zur Arbeit. 67,2 Prozent sind es im Kanton Freiburg. Der nationale Durchschnitt liegt bei 52 Prozent. Und die Zuwachsrate bei den eingelösten Fahrzeugen lag 2023 mit 1,8 Prozent wesentlich über dem schweizerischen Durchschnitt von 1,1 Prozent. Das heisst: Der ÖV-Anteil im Kanton Freiburg liegt schon auf sehr bescheidenem Niveau und wächst trotzdem nur unterdurchschnittlich. Der Rückstand auf den Landesdurchschnitt wird dadurch immer grösser.

Bild1
«Früherziehung» nach Freiburger Art: Fortbewegung möglichst auf vier Rädern.

Immer längere Staus

Es erstaunt deshalb wenig, dass auch in der Kantonshauptstadt immer längere Staus für Ärger sorgen. Von allen Seiten drängen die Autopendler am Morgen in die Kleinstadt am Saaneufer und am Abend wieder hinaus. Mehr als 120’000 Zu- und Wegfahrten sind es täglich. Gewerbetreibende, die in der Stadt mit dem Auto unterwegs sein müssen, brauchen zu den Stosszeiten oft mehr als eine halbe Stunde, um von einem Ende der Stadt ans andere zu gelangen. Dies bei einer Fahrdistanz von weniger als drei Kilometern. Weil der ÖV nur an wenigen Orten über eine eigene Fahrspur verfügt, bleiben auch die Busse in den Staus stecken. Die städtische Verkehrspolitik ist seit Jahren ein Dauerbrenner in den Leserbriefspalten.

«Wegschauen und weiterfahren»

Bereits vor 13 Jahren empfahlen die Verkehrsplaner des Büros Metron Bern den Freiburger Behörden ein Dosierungskonzept für den in die Stadt drängenden motorisierten Privatverkehr. Der damalige Mobilitätsdirektor Thierry Steiert (SP) wollte davon jedoch nichts wissen. Sein Vorgänger im Gemeinderat, Charles de Reyff (Mitte), wurde nämlich abgewählt, nachdem er mit einer Einbahnstrasse vor dem Bahnhof eine unpopuläre Verkehrsbeschränkungsmassnahme umgesetzt hatte. Und die Freiburger «Agglo» kündigte zwar vor acht Jahren die Umsetzung eines Dosierungskonzepts für die Kantonshauptstadt an, doch dieses Projekt scheint ebenso schubladisiert wie jene nie publizierte Verkehrsstudie aus dem Jahr 2019, die der Agy-Ebene (zwischen der Autobahnausfahrt Freiburg-Nord und dem Stadtzentrum) den Verkehrskollaps prognostizierte. «Wegschauen und weiterfahren wie bisher», scheint die Devise zu lauten.

Bundesbern interessiert es nicht

Auf Thierry Steiert folgte Pierre-Olivier Nobs (CSP) als städtischer Mobilitätsdirektor. Der Bijoutier hat sich als Sekretär der lokalen VCS-Sektion über die Jahre die Kompetenzen in der Mobilitätspolitik erarbeitet und sich vehement dafür eingesetzt, dass trotz Neubau der verkehrsfördernden Poyabrücke die betroffenen Quartiere vor Mehrverkehr verschont bleiben würden. Stadt und Kanton haben einen entsprechenden Richtplan unterzeichnet. Im Gegenzug hat der Bund das Poya-Projekt mit 83 Millionen Franken subventioniert. Dass die Bedingungen für diese Subventionen nie eingehalten worden sind, hat in Bundesbern bis heute niemanden interessiert (Infosperber berichtete).

Nach seiner Wahl in den Gemeinderat wollte Mobilitätsdirektor Pierre-Olivier Nobs von Verkehrsreduktionen in den vom Mehrverkehr betroffenen Quartieren nichts mehr wissen: Die Stadt hat den Richtplan aufgehoben, der motorisierte Privatverkehr soll ungehindert in die Stadt fliessen können, entsprechend wachsen die Verkehrsmengen und die Staus munter weiter – obwohl die Bevölkerung seit Jahren stagniert.

Bild1
Auto reiht sich an Auto. Zu Fuss wäre man oft schneller.

Grenzwerte überschritten

Mit den steigenden Verkehrsmengen wurden die Lärmschutz-Grenzwerte in immer mehr Wohngebieten überschritten. Die unzumutbaren und bundesrechtswidrigen Lärmbelastungen bei 7000 Bewohnern der Stadt war denn auch der wahre Grund für die seit gut einem halben Jahr geltenden Temporeduktionen auf etlichen Hauptstrassen, wie Stadtpräsident Steiert in der Tageszeitung La Liberté vom 23. September 2023 eingestehen musste.

Entsprechend werden auch die letzte Woche eingereichten Petitionen gegen Tempo 30 nichts nützen: Die Behörden stehen aufgrund der Lärmvorschriften mit dem Rücken zur Wand: Den Verkehr dosieren wollen sie nicht, Lärmschutzbelag ist ihnen zu teuer. Also bleibt ihnen zur Einhaltung der Lärmvorschriften nur noch Tempo 30.

Tempo 30 auf Hauptstrassen, Tempo 50 in Quartieren

Mit 30 Stundenkilometern auf vielen Hauptstrassen schleichen, dafür weiterhin mit 50 durch viele Quartiere brausen, das ist die aktuelle Situation. Freiburg sei eben eine «linke Pionierstadt», so hat der Freiburger Stadtpräsident einem Journalisten des Tages-Anzeigers dieses abstruse Verkehrsregime begründet.

Doch nicht nur der Tages-Anzeiger hat schweizweit über Tempo 30 in Freiburg berichtet und ein falsches Gesamtbild der Situation vermittelt. Fernsehen und Radio SRF sowie die Sonntagszeitung haben mitgezogen und sind mit den ihnen untergejubelten Falschinformationen und ungenügender Recherche aufgefallen.

Falschmeldung Nr. 1 und fehlende Transparenz von SRF

Das Schweizer Fernsehen thematisierte in der Sendung Schweiz aktuell vom 26. Januar 2024 die in Freiburg neu eingeführte Temporeduktion. Es fokussierte auf die durch Tempo 30 seit Oktober 2023 verbesserte Sicherheit und informierte, dass sich – gemäss Kantonspolizei – auf Freiburgs Strassen zwischen Oktober und November 2022 sechs schwere Unfälle ereignet hätten. In den entsprechenden Monaten im Jahr 2023 «kein einziger». Am 31. Oktober 2023 wurde in der Stadt Freiburg aber ein fünfjähriger Knabe auf einem Fussgängerstreifen totgefahren. Wie schnell der Autofahrer unterwegs war, ist nicht bekannt. Die Strecke darf mit 50 Stundenkilometern befahren werden.

In derselben Sendung kam Gil Vassaux zu Wort, er wurde, velofahrend und mit Kindersitz, als Quartierpräsident des Freiburger Jura-Quartiers vorgestellt, wo eine Hauptstrasse neu mit Tempo 30 signalisiert ist. «Die Menschen fühlen sich jetzt wohler auf der Strasse mit ihren Kindern», lobte er die städtische Massnahme. Es ist SRF nicht übel zu nehmen, dass nicht transparent gemacht worden ist, was der zuständige Redaktor vermutlich auch nicht gewusst hat: Gil Vassaux leitet die Marketingabteilung der Stadt Freiburg.

Falschmeldung Nr. 2 vom Tages-Anzeiger

Der Westschweiz-Korrespondent des Tages-Anzeigers, Philippe Reichen, unterhielt sich mit Freiburgs Stadtpräsident Thierry Steiert zu den Themen Menstruations-Urlaub und Tempo 30 (Tages-Anzeiger vom 16. Februar 2024). Als erste Schweizer Stadt habe Freiburg am 1. Oktober 2023 die Höchstgeschwindigkeit «auf all seinen Hauptverkehrsachsen» auf 30 Stundenkilometer gedrosselt. Das ist eine bemerkenswerte Fehlinformation: Die Temporeduktion erfolgte lediglich auf rund 60 Prozent der Hauptverkehrsachsen.

Das weiss auch Steiert genau. Denn die Höchstgeschwindigkeit wurde vor allem dort auf Tempo 30 reduziert, wo die Stadt aufgrund der Lärmschutzverordnung gezwungen war; zudem gab es auf jenen Hauptstrassen der Stadt, für die der Kanton zuständig ist, keine Temporeduktion.Vorsteher des kantonalen Mobilitätsamts ist übrigens SP-Staatsrat Jean-François Steiert, Thierry Steierts Bruder und früher einmal Präsident von Pro Velo Schweiz. In Freiburg setzt sich der Kanton gegenwärtig für neue Umfahrungsstrassen ein. Das autofreundliche Parlament hat hierfür vor acht Jahren eine halbe Milliarde Franken bewilligt – und den VCS gegen den Strassen bauenden Jean-François Steiert aufgebracht.

Bild4
Tempo 30 auf manchen Hauptverkehrsachsen. Aber in den Wohnquartieren gilt vielerorts Tempo 50.

Im selben Artikel des Tages-Anzeigers war zur städtischen Mobilitätspolitik ausserdem zu lesen: «Dazu werden seit Jahren Parkplätze aufgehoben und allerorts Bäume gepflanzt.» Das ist nicht falsch. Ebenso zutreffend hätte Philippe Reichen aber auch schreiben können: «Dazu werden seit Jahren allerorts Parkplätze gebaut und Bäume gefällt.» Denn die Stadt hat zwar in den letzten Jahren etliche Parkplätze im öffentlichen Raum aufgehoben und damit mehr Platz für den Langsamverkehr geschaffen. Dieselbe Stadt hat jedoch kürzlich im Sportzentrum St-Léonard ein neues Parking mit mehr als 230 neuen Plätzen eröffnet und wird im Stadtzentrum ein weiteres mit 200 Plätzen mitfinanzieren. Zudem hat sie allein in den letzten drei Jahren in Neubauten hunderte von neuen Parkplätzen von privaten Investoren bauen lassen oder bewilligt. Wie viele das genau sind, haben trotz mehrfacher Nachfragen leider weder das städtische Bau- noch das Mobilitätsamt sagen können oder wollen. Das heisst: Per saldo steigt die Zahl der Parkplätze in der Stadt unablässig.

In Freiburg gab es (Stand 2021) pro 1000 Einwohner sagenhafte 850 Parkplätze, jedoch auf dieselbe Einwohnerzahl lediglich 375 eingelöste Fahrzeuge. Deshalb vermieten private Parkplatzbesitzer ihre überzähligen Plätze an Pendler. Seit kurzem gibt es für die Stadt Freiburg hierfür sogar eine App. Die seit Jahren von den Mobilitätsdirektoren verkündete Strategie, man würde mit der Reduktion von Parkplätzen den Verkehr reduzieren, bleibt ein leeres Versprechen, solange mehr neue Parkplätze gebaut, als bestehende aufgehoben werden.

Falschmeldung Nr. 3 von Radio SRF

Im Echo der Zeit vom 23. Februar 2024 lautete die Anmoderation zu einem Beitrag zu Tempo 30: «Jüngst gilt etwa in Freiburg als erster Schweizer Stadt generell eine Höchstgeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern.» Leider schon wieder falsch, in Freiburg gilt «generell 50». Der zuständige Redaktor hat sich für den Fehler entschuldigt, er habe sich für seinen Beitrag auf den Artikel im Tages-Anzeiger gestützt …

Falschmeldung Nr. 4 in der Sonntagszeitung

In der Ausgabe vom 3. März 2024 schrieb Fabienne Riklin: «In Freiburg hat es die Bevölkerung bereits beschlossen, in anderen Gemeinden wird dieses Wochenende über Tempo 30 auf Hauptstrassen abgestimmt.» Tempo 30 auf diversen Hauptstrassen hat der Freiburger Gemeinderat im Alleingang beschlossen. Weder die Bevölkerung noch das Stadtparlament hatten hierzu etwas zu sagen. Der Freiburger Generalrat Bernhard Altermatt (Mitte) hat die eigenmächtige Einführung von Tempo 30 wie folgt kritisiert: «La commune l’impose de façon autoritaire.» Also : «Die Gemeinde erzwingt sie auf autoritäre Weise.»

Eines haben die Behörden geschafft …

Eines muss man der Stadt Freiburg lassen: Dank dem Zusammenspiel von ungenauer journalistischer Recherche und der Schönwetterrhetorik der Behörden hat es die Stadt Freiburg geschafft, in diversen nationalen Medien als fortschrittlicher Musterschüler in Mobilitätsfragen präsentiert zu werden. Die desaströse, in Tat und Wahrheit primär auf das Auto ausgerichtete Verkehrspolitik ist so unter dem Radar der medialen Aufmerksamkeit geblieben. Wo die Probleme hingehen, wenn man sie wegkommuniziert, kann man täglich auf Freiburgs Strassen beobachten …


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

Eine Meinung zu

  • am 5.04.2024 um 14:56 Uhr
    Permalink

    Beginnen wir mit einer Tatsache: Die Stadt Fribourg ist zu Stosszeiten eine Autofalle. Termine in der Stadt mache ich nicht vor 9 Uhr und versuche die Stadt vor 16 Uhr zu verlassen.
    Tatenlos war man in Fribourg auch nicht. An der Rue de Romont wurden Seitenstrassen zur Fussgängerzonen umgezont. Das Gleiche am Boulevard de Pérolles. Weiter wurde auf der einen Seite die Parkplätze aufgehoben und eine Fahrradspur eingerichtet. In Stadtrichtung wurde eine Fahrspur als Busspur umgestaltet. In der Route des Arsenaux das Gleiche.
    Die Poyabrücke hat nur den Stau in der Altstadt an den Stadtrand verlagert.
    Einige Strassenabschnitte (Route de Morat) hätte ich nicht in die 30-Zone eingestuft, da es kein Wohnquartier ist.
    Alle öffentliche Parkplätze sind heute gebührenpflichtig. Die Parkplätze in den Einkaufszentren sind teilweise günstiger.
    Zusammengefasst:
    In den letzten 20 Jahren wurde viel für die Fussgänger getan und den Privatverkehr hat man benachteiligt.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...