Milano

Der Mailander Stadtrat will mit einfachen Massnahmnen den Verkehrskollaps verhindern. © PR

Mit dem Velo aus dem Lockdown

Felix Schindler /  Internationale Grossstädte erstellen in den nächsten Wochen provisorische Fuss- und Radwege gegen den drohenden Verkehrskollaps.

Mailand bereitet sich auf eine Lockerung der Epidemie-bedingten Einschränkungen vor – zu den Massnahmen gehört auch ein Eingriff in die Verkehrspolitik. Die Stadtbehörden kündigten an, mehr Platz für Fussgänger und Velofahrer zu schaffen. 35 Kilometer Autostrassen werden sie in den nächsten Wochen für Fussgänger und Velofahrer umnutzen. Die Massnahmen umfassen provisorische Radwege, neue und breitere Trottoirs, Tempo-30-Zonen und Strassen mit Vortritt für Fussgänger und Velofahrer. Kostengünstig, schnell umsetzbar und reversibel.

Mailand, Barcelona, Paris, New York


Ab sofort wird der Corso Buenos Aires in Mailand nach diesem Schema umgestaltet. (pd)

Mit seinem Sommer-Plan namens «Strade Aperte» ist Mailand nicht alleine: Barcelona hat am vergangenen Freitag angekündigt, in kurzer Zeit immerhin 21 Kilometer Radwege und 30’000 Quadratmeter Platz für Fussgänger zu schaffen, um das Einhalten der Abstandsregeln zu erleichtern (La Vanguardia). Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, kündigte an, bis am 11. Mai temporäre Radwege einzurichten, insgesamt sollen 650 Kilometer Radwege entstehen. Der ohnehin geplanten Ausbau eines flächendeckenden Veloroutennetzes soll beschleunigt werden (Forbes). Ausserdem wird die 3 Kilometer lange Rue de Rivoli, an der der Louvre steht, für den Autoverkehr gesperrt werden (Forbes).

Budapest, Glasgow, Moskau, Stuttgart und etwa 20 amerikanische Städte bieten kostenlose Velos zum Ausleihen an. In Berlin, Brüssel, Edinburgh und Glasgow pinseln Bauarbeiter punktuell temporäre Radwege auf den Asphalt. Und die Stadt New York realisiert ein ganzes Netz von sogenannten Notfall-Radwegen (Reuters). Über 60 Kilometer davon sollen bereits bis Ende Mai zur Verfügung stehen, weitere 100 Kilometer sollen folgen.

Die amerikanische «National Association of City Transportation Officials» führt eine ständig aktualisierte Liste mit Projekten dieser Art. Am 1. Mai waren dort 257 Massnahmen erfasst.

Diese Projekte zur Förderung der aktiven Mobilität erfolgen in einem Tempo, das bisher schlicht undenkbar war. Zum Vergleich: In Zürich werkeln die Behörden seit 2012 am sogenannten Masterplan Velo. Dieser sollte innert 13 Jahren die Lücken des Velonetzes schliessen und die Qualität der Wege verbessern – und wird sein Ziel aller Voraussicht nach grosszügig verfehlen.

Die verkehrspolitischen Massnahmen stossen durchaus auf Kritik. Der Tenor: Die Städte würden die Notsituation ausnützen, um ihre verkehrspolitischen Ideologien durchzuwürgen. In einem Video, das der stellvertretende Bürgermeister von Mailand Marco Granelli gestern Mittwochmorgen veröffentlicht hat, erklärt er es hingegen so: «In den kommenden Wochen werden wir uns wieder mehr bewegen, aber wir werden nicht die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen können wie bisher, weil wir genügend Abstand einhalten müssen.» Nicht jeder könne das Auto benützen, denn sonst entstehe mehr Verkehr und mehr Umweltverschmutzung. Deshalb wolle die Stadt die Mailänder dazu motivieren, mit dem Motorrad, dem Elektroscooter oder eben mit dem Velo in die Stadt zu fahren.

«Wir möchten uns nicht vorstellen, dass sie alle mit dem Auto in die Stadt kommen»: Marco Granelli, stellvertretender Bürgermeister von Mailand.

Tatsächlich stellt die Zeit nach der Ausgangssperre für die Hauptstadt der Lombardei eine besondere Herausforderung dar. Einerseits ist Mailand stark von der Pandemie betroffen – 13’000 Personen mit einer bestätigten Covid-19-Infektion sind dort gestorben; das sind knapp die Hälfte aller Todesfälle in Italien. Andererseits ist Mailand eine dicht gebaute Stadt, knapp 1,4 Millionen Menschen leben auf der Fläche von 182 Quadratkilometern. Die Bevölkerungsdichte ist in Mailand so hoch wie in Basel – aber die Stadt ist acht Mal so gross. Ähnlich ist die Situation in anderen Städten wie Paris und Barcelona: Abstand halten wird nicht nur besonders wichtig, sondern auch besonders schwierig.

Warum aber sollen ausgerechnet Trottoirs und Velostreifen das Abstandhalten vereinfachen? Mehr als die Hälfte der Wege in Mailand wurden bisher in Metro, Tram und Bus zurückgelegt. Gleichzeitig ist der Autoverkehr am Limit: Die Menschen stehen in Mailand durchschnittlich 98 Stunden pro Jahr im Stau, wie der Anbieter von Verkehrsdaten Inrix in seinem jährlichen «Global Traffic Score» ausweist. Granelli rechnet damit, dass die Nutzung des öffentlichen Verkehrs um rund eine Million Passagiere pro Tag zurückgehen wird, wie er dem Magazin Abitare sagte. «Wir möchten uns nicht vorstellen, dass sie alle mit dem Auto in die Stadt kommen.»

NO2-Belastung sank um bis zu 70%

Zu ähnlichen Schlüssen kommt, wer die Luftverschmutzung betrachtet. Laut den Daten der Europäischen Umweltagentur EEA war die Stickstoffdioxid-Belastung (NO2) in Mailand in den Wochen vor dem Lockdown immer deutlich über dem Jahresmittel-Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter (µg/m3). In der letzten Januarwoche betrug die Stickstoffdioxid-Belastung sogar 76 Mikrogramm. Sie war damit rund doppelt so hoch wie in Zürich oder Basel. Nach dem Lockdown gingen die Luftschadstoffe aber um bis zu 70 Prozent zurück. Sollten nun alle, die nicht mehr mit dem Bus zur Arbeit fahren können, in ein Auto steigen, dürften die Januar-Werte in Kürze bei Weitem übertroffen werden.

Mit anderen Worten: Der Autoverkehr wäre schlicht nicht in der Lage, die Ausfälle der ÖV-Kapazität aufzunehmen. Wenn Mailand und andere dicht gebaute Städte den Kollaps verhindern wollen, müssen gute Bedingungen für platzsparende und umweltfreundliche Verkehrsträger geschaffen werden.


Das temporäre Veloroutennetz (rote Linien) schafft Verbindungen ins Stadtzentrum von Mailand. (pd)

Dass günstige Bedingungen für Velofahrer tatsächlich dazu führen, dass mehr Velo gefahren wird, klingt zwar plausibel. Doch dieser naheliegende Schluss wird von bürgerlichen und rechten Politikern ausdauernd bestritten. Allerdings liefert die Corona-Pandemie in diesem Fall mindestens ein starkes Indiz dafür, dass auch bei der aktiven Mobilität ein kausaler Zusammenhang zwischen Angebot und Nachfrage besteht.

Seit den Einschränkungen gegen die Corona-Epidemie legen die Schweizer mehr als die doppelte Distanz mit dem Fahrrad zurück als noch im Herbst 2019. Gleichzeitig ist die Auto- und ÖV-Nutzung um über 50 Prozent eingebrochen. Das ermittelte das Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme der ETH Zürich; der «Tages-Anzeiger» berichtete kürzlich über das Forschungsprojekt. Forschungsleiter Kay von Axhausen wollte sich damals noch nicht festlegen, was die Gründe für diese Verlagerung sind. Doch fest steht: Tram und Bus sind wegen Corona eine unattraktive Option geworden – und gleichzeitig sind die Bedingungen für das Velo deutlich besser geworden, seit nur noch halb so viele Autos auf den Strassen fahren.

Die Umverteilung von Verkehrsfläche vom Auto zum Velo stösst in der Schweiz allerdings auf erbitterten Widerstand. Hierzulande hat eine Logik autofreundlicher Verkehrspolitiker noch immer enormes Gewicht: Für Radwege gebe es in den engen Schweizer Städten eben nicht genügend Platz. Genau umgekehrt beurteilen jetzt die Behörden Mailand, Barcelona, Paris und New York die Sache: Gerade in engen Städten muss man den Platz jenen überlassen, die ihn am effizientesten nutzen.


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2 Meinungen

  • am 1.05.2020 um 12:23 Uhr
    Permalink

    Grundsätzlich dürfte niemand widersprechen, dass eine per Velo ausgeführte Fahrt, für die Umwelt und Natur besser ist, als motorisierte Fahrten.

    Ideal geht sowas aber nur, wenn gleich 3 Dinge zusammenkommen. Erstens der Velofahrer oder die Velofahrerin ist genügend sportlich und nicht etwa körperlich behindert, wie der Schreiber dieser Zeilen (GdB 100). Zweitens die zu fahrende Strecke ist eben oder zumindest nur leicht wellig aber nicht steil ansteigend oder stark abfallend. Drittens das Wetter am Ort ist «angenehm» also weder zu heiß, noch zu kalt, keine Glätte, kein Schnee und kein Starkregen.

    Dazu kommen noch weitere Kriterien. Hat man Kinder/Enkel/Grosseltern mit dabei oder Gepäck/Einkauf/Getränke usw. weil all dies die individuellen Möglichkeiten einer Velo-Bewegung beeinflussen.

    Über all diese Bedingungen und Einschränkungen, liest man selten bis gar nichts, wenn es um das Thema Radwege «Radwege/Velowege» geht. Es sollte aber nach meiner Meinung, zumindest mitberücksichtig werden. Auch in der Schweiz, gibt es nicht allzuviele Städte, mit so ideal flacher Radfahrereignung, wie z.B. Münster in Westfalen/D. Vielmehr findet man sehrt oft Strassensteigungen, bei denen auch kein E-Bike mehr hochkommt und lebensgefährliche Steilgefälle.

    Dies alles sollte dabei nur eben mal berechtigt und sinnvoll mitberücksichtigt werden, anstatt zu grosse und oft unrealistische Erwartungen in Velos anstatt Autos/Bus zu setzen. Dann ist das Ganze auch sinnvoll und positiv zu sehen.

  • am 18.05.2020 um 23:45 Uhr
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    Der Begriff «Velo» umfasst heute etwas mehr als nur der gute alte «Drahtesel». Heutige Elektrovelos und gute Bremsen eliminieren die Mühsal oder den Schrecken von Steigungen und Gefälle. Kinder/Enkel/Gepäck/Getränke lassen sich besser als im Auto in speziellen Anhängern oder Lastvelos transportieren, in einige Fällen auch Grosseltern oder Behinderte. Für viele Behinderte gibt es auch tolle Dreiräder. Zu heiss oder zu kalt kann es zum Velofahren eigentlich nicht sein, höchstens zu feucht oder zu stürmisch, und für simplen Regen gibt es gute Schutzmöglichkeiten.

    Das grösste Problem für das Velofahren in der Schweiz sind tatsächlich die Übermacht von zu autofreundlichen Politikern und Behörden samt ihren Normen, die auf allen Stufen fast immer das Auto bevorzugen und subventionieren, so dass es vielen potentiellen Velofahrern «stinkt», wörtlich und im übertragenen Sinn.

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