Für die 15-Minuten-Stadt: Paris hebt 70’000 Parkplätze auf
Die Wahlberechtigten von Paris können nicht behaupten, sie hätten nicht gewusst, worauf sie sich einlassen. Als sie Anne Hidalgo in diesem Sommer für eine zweite, sechsjährige Amtsperiode wählten, war allen klar, dass die Sozialistin mit ihrem Kabinett die Stadt umbauen will. Zu einer grünen Stadt, zu einer Stadt der kurzen Wege. Aber auch zu einer Stadt mit weniger Parkplätzen und weniger Autos.
Jeder zweite oberirdische Parkplatz soll umgenutzt werden
Hidalgo nahm das Symbol von Fortschritt, Freiheit, Unabhängigkeit und Wohlstand ins Visier – und wurde Ende Juni mit der Hälfte aller Stimmen gewählt. Sie erhielt mehr Stimmen als ihre beiden Herausforderinnen Rachida Dati (Les Républicains, 31,7%) und Agnès Buzyn (La République en Marche, 13,7%) zusammen. Nun setzt Hidalgo die ersten, weitreichenden Massnahmen um, die sie während des Wahlkampfs versprochen hatte. Am Dienstag kündigte der stellvertretende Bürgermeister David Beillard (Europe Écologie – Les Verts) in der Zeitung «Le Parisien» an, die Stadtregierung werde in den kommenden sechs Jahren 70’000 oberirdische Parkplätze aufheben und für andere Zwecke umnutzen – namentlich zu Grünflächen, Spielplätze sowie Rad- und Fusswege.
Damit wird in der Stadt jeder zweite oberirdische Parkplatz verschwinden, von den 550’000 verbleibenden Parkplätzen befinden sich 480’000 in Einstellhallen. Warum? Laut Beillard werden in Paris 13 Prozent aller Fahrten mit dem Auto gemacht. Darum sei es «abnormal», dass das Auto immer noch 50 Prozent der öffentlichen Fläche der Stadt in Anspruch nehme.
Tiefere Geschwindigkeit, weniger Tote
Nur wenige Tage zuvor sagte Beillard der Nachrichtenagentur AFP, dass in Paris ab dem kommenden Jahr auf Autostrassen Tempo-30 gelten soll – und zwar flächendeckend in der ganzen Stadt. Einzige Ausnahme ist die Ringautobahn Périphérique. Nächste Woche beginnt eine Konsultation der Öffentlichkeit zu diesem Plan. Der Effekt von geringeren Geschwindigkeiten ist weitgehend unbestritten: Weniger Unfälle, geringere Unfallschwere, weniger Lärm, weniger Luftverschmutzung, weniger CO2-Ausstoss.
Das Ziel, dass Hidalgo und Beillard verfolgen, heisst «15-Minuten-Stadt» – eine Stadt, in der alles, was der Mensch im täglichen Leben braucht, innerhalb von fünfzehn Minuten erreichbar sein soll, namentlich Lebensmittelgeschäfte, Parks, Cafés, Sportanlagen, Gesundheitszentren, Schulen und Arbeitsplätze. Und das alles vorzugsweise zu Fuss oder mit dem Velo. Das Autofahren soll nicht verdrängt werden, aber es sollen jene bevorzugt werden, die das Auto wirklich brauchen: Logistik, Gewerbe, Personen mit eingeschränkter Mobilität.
Von der Verkehrsachse zu einer Fläche, die möglichst viele Funktionen für möglichst viele Menschen erfüllt.(pd)
Bereits während ihrer ersten sechsjährigen Amtszeit wandelte Hidalgo Schnellstraßen entlang der Seine in Flaniermeilen und Radwege um. Sie gehörte zu den ersten, die nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie temporäre Radwege errichten liess, um die Fortbewegung trotz Abstandsregeln zu vereinfachen. Die früher chronisch verstopfte, drei Kilometer lange Rue de Rivoli, an welcher der Palais du Louvre steht, ist heute ein Radweg.
«Ein ruhigeres Leben»
Das theoretische Konzept der Fünfzehn-Minuten-Stadt lieferte Carlos Moreno, Professor an der Université Paris 1 Panthéon Sorbonne. Gegenüber der britischen Zeitung «Guardian» sagte Moreno: «Wir wissen, dass es für Menschen besser ist, in der Nähe ihres Wohnortes zu arbeiten. Wenn sie in der Nähe einkaufen, die Freizeit verbringen und die notwendigen Dienstleistungen verfügbar sind, können die Menschen ein ruhigeres Leben führen.»
Jedes einzelne Quartier der «Fünfzehn-Minuten-Stadt» soll sechs grundlegende soziale Funktionen erfüllen: Leben, Arbeiten, Versorgen, Sorgen, Lernen und Geniessen. Damit das Konzept funktioniert, müssen laut Moreno vier Prinzipien gewährleistet werden.
- Die Bedürfnisse müssen in der Nähe erfüllt werden können, damit lange Wege vermieden werden.
- Die Angebote müssen vielfältig sein, damit alle täglichen Bedürfnisse der Bevölkerung abgedeckt werden.
- Die Dichte der Quartiere muss hoch sein, damit die Angebote von genügend Menschen wahrgenommen werden.
- Das Konzept muss allgegenwärtig sein, das heisst, sich über eine gesamte Stadt erstrecken, damit die Fünfzehn-Minuten-Stadt für jede/n verfügbar und erschwinglich ist.
Das Konzept der Fünfzehn-Minuten-Stadt beschränkt sich also nicht einfach darauf, Autostrassen in Radwege umzuwandeln, sondern eine städtische Nähe zu erzeugen und Flächen mit einer grossen Aufenthaltsqualität zu schaffen – insbesondere für Kinder. So sind Spielplätze und temporäre Fahrverbote im Umfeld von Schulen Bauteile der menschenfreundlichen Stadt. Eine grosse unbewaffnete Einheit der Gendarmerie werde die Sicherheit der Bürger und städtische Angestellte die Sauberkeit der Stadt gewährleisten.
Die Idee erntete vor 60 Jahren Spott und Verachtung
Im «Guardian» erklärt Moreno auch, wo er die grösste Schwierigkeit für die Realisierung der 15-Minuten-Stadt sieht: beim Weg zur Arbeit. «Die Jobs der Menschen sind oft weit von ihren Häusern entfernt. Aber wir müssen das überdenken.» Im Artikel vom Februar dieses Jahres sagte Moreno: «Ist es immer notwendig, irgendwo aufzutauchen, um physisch vor dem Chef präsent zu sein?» Corona hat bereits einen Monat später den Beweis geliefert, dass die physische Präsenz beim Arbeitgeber nicht in jedem Fall und jederzeit zwingend ist.
Das Konzept der städtischen Nähe geht auf die amerikanische Autorin Jane Jacobs zurück, die 1961 den Klassiker «The Death and Life of Great American Cities» verfasste. Damals galt die Charta von Athen als Massstab, die funktionale Trennung von Wohnen, Einkaufen, Gewerbe und Industrie als Ideal des Städtebaus. Jacobs schrieb damals: «Ein Quartier ist nicht nur ein Zusammenschluss von Gebäuden, sondern auch ein Netz sozialer Beziehungen, eine Umgebung, in der sich Gefühle und Sympathie entfalten können.»
Vor 60 Jahren erntete Jacobs Spott und Verachtung von einflussreichen Stadtplanern für ihr Buch – heute wird Paris nach diesen Idealen umgestaltet.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Endlich, kann man da nur sagen. Die gut bürgerliche Autolobby mit ihren politischen Auslegern hat 80 Jahre lang das Denken in Richtung Menschen freundliche Städte verhindert. Und die Rendite gierige Unternehmerkaste mit ihren Industriewüsten weit weg vom Wohnen sonnten sich in ihrer Modernität seit den 50er Jahren. Auch Zürich wollte mal Autobahnen quer durch die Stadt. Die Sihlhochstrasse ist noch ein Zeuge dieses unsensiblen Planens der damaligen konservativen Stadtväter. Eine Schande.
Es wird wie überall in den Städten dieser Welt so sein das die Immobilieneigentümer die grösste Wertsteigerung für sich behalten dürfen wärend alle anderen die wesentlich höheren Wohnkosten etc. (er)tragen müssen oder an die Periherie gedrängt werden. Sozial und entsprechend VerteilungsGerecht sind solche Schemas nur mit öffentlichem Eigentum der Wohn- und Arbeitstätten und ebenso entsprechend Non Profit Immobilien.
Da möchte man nach Paris ziehen! In Bern oder Zürich fahre ich ungern Velo trotz den ehrlichen Bemühungen der Stadtverwaltungen – es hat vielerorts einfach zu viel Autoverkehr.
Im viel wildern Paris konnte ich jedoch bei Besuchen vor Jahren gut velofahren. Das tönt wie ein Widerspruch zu oben, liegt jedoch wahrscheinlich an einem grösseren «laissez-faire» als bei uns. Ausserdem gab es schon damals viele grosszüge Fussgänger/Velo Mischzonen z.B. entlang von Kanälen. Bei uns ist alles enger. Dafür ist die «15-Minuten"-Stadt für Velofahrende längst Realität. Neuerdings selbst bei Steigungen, Elektrovelo sei Dank.
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