Der Gotthard-Strassentunnel – Schweizergeschichte pur!
Es gibt sie noch, die Journalisten, die nicht den Hypes nachrennen, sondern andere interessante Themen finden und dabei auch äusserst aufwändige Recherchen nicht scheuen, um etwas an das allgemeine Wissen in Gegenwart und Zukunft beizutragen.
Alexander Grass, ehemaliger – hervorragender – Tessiner Korrespondent von Radio SRF, ist so einer. Er hat ein Buch über den Gotthard geschrieben, oder genauer: über den Bau des Strassentunnels durch den Gotthard. Dabei hat Grass Tausende von Dokumenten in den verschiedensten Archiven gesammelt und ausgewertet und die daraus erhaltenen Informationen zu einem historisch relevanten und trotzdem leicht lesbaren Buch geformt. «Durchschlag am Gotthard; Der Bau des Strassentunnels 1970 – 1980».
Noch gibt es viele Leute, die sich an den Gotthard ohne Strassentunnel erinnern: Im Sommer konnte man zwar die Passstrasse über den Gotthard befahren, so ganz einfach war es der schmalen und kurvenreichen Strasse wegen aber eh nicht. Im Winterhalbjahr aber waren auch die Autofahrer auf die Eisenbahn angewiesen. Sie mussten den Wagen in Göschenen oder – in umgekehrter Richtung – in Airolo verladen, so wie es heute noch zum Beispiel am Lötschberg notwendig ist. Die Eröffnung des Strassentunnels am 5. September 1980 war deshalb ein ganz grosses Ereignis, Nord- und Südschweiz kamen sich im fast wörtlichen Sinn damit deutlich näher.
Ein Strassentunnel, kaum etwas Anderes ist so komplex und aufwändig in Planung und Realisation
Wer heute durch den Gotthard-Strassentunnel fährt – und wer macht das nicht ein- oder auch mehrere Male im Jahr – konzentriert sich meist auf die Einhaltung der Geschwindigkeit von 80 km/h. Es drohen ja sonst hohe Bussen. Aber haben der Lenker oder die Lenkerin auch eine Ahnung, was es brauchte, bis dieses grandiose Bauwerk wirklich in Angriff genommen und zwölf Jahre später auch eröffnet werden konnte? «45 Jahre Planung», so heisst das zweite Kapitel des Buches (nach dem ersten über die Quellen-Lage), «14 Varianten und ein Projekt» das dritte, und dann folgen neun weitere Kapitel, darunter «Tunnel – Kantine – Baracke», «Medienberichterstattung und Kultur», und am Schluss natürlich auch noch «Die zweite Röhre».
Der Gotthard-Strassentunnel ist ein phantastisches Beispiel, was es braucht, um so ein Projekt erfolgreich vollenden zu können. Politisch, wirtschaftlich, rechtlich: alles keine Kleinigkeit! Ein Strassentunnel von internationaler Bedeutung, auf Schweizer Boden, aber – unterirdisch – zu zwei Kantonen gehörend. Wer initiiert? Wer plant? Wer zahlt? Wer entscheidet was? Wer hat die Gesamtverantwortung? Und trotz allem: Irgendeinmal hat es geklappt. Das Buch ist nicht nur historisch ein Lehrstück, es kann auch als Lehrbuch für neue, vergleichbar komplexe Projekte gelten.
Und es ist auch anschaulich, und es hat viele historisch wertvolle Fotos von Walter Scheidegger, einem am Bau beteiligten Techniker in verantwortungsvoller Position – damals natürlich schwarzweiss, weitgehend mit künstlichem Licht gemacht. Die meisten Arbeiten mussten ja schliesslich unter Tag gemacht werden – in einem gefährlichen Umfeld also, nicht überraschend auch mit etlichen Unfällen und leider auch mit 19 Todesopfern.
Die Schweizer Geschichte: die Geschichte des Gotthards
In einem Punkt war Alexander Grass vielleicht zu bescheiden. Er hätte auch noch ein Kapitel über die Bedeutung des Gotthards für die ganze Geschichte der Schweiz schreiben können. Es ist ja kein Zufall, dass die ältesten Legenden der Schweizergeschichte aus dem direkten Einzugsgebiet des Gotthards stammen: aus der Innerschweiz. Der Gotthard, die einzige Möglichkeit, die Alpenkette mit nur einer Alpenüberquerung zu überschreiten und nicht mit zweien, war deshalb auch machtpolitisch immer ein Thema. Schon für Hannibal war im Jahr 218 vor Christus die Alpenüberquerung – mit, wie man zu wissen glaubt, 37 Elefanten – militärisch von entscheidender Bedeutung. Wo genau er über die Alpen ging, ist nicht bekannt. Der russische General Suworow aber wählte bewusst den Gotthardpass und überquerte ihn im Jahr 1799 mit 5000 Pferden und 22’000 Mann, von denen in der Folge um die 7000 in Kämpfen oder anderswie zu Tode kamen. Und nicht zu vergessen war der Gotthard der Hauptgrund, warum der Wiener Kongress 1815 der damaligen Schweizerischen Eidgenossenschaft formell und international anerkannt die «immerwährende Neutralität» verpasste: Der wichtigste Weg über die Alpen zwischen dem Süden und dem Norden sollte keiner Grossmacht zugeteilt werden, die dadurch noch stärker geworden wäre, sondern einem Grossmacht-unabhängigen – und eben neutralen – Kleinstaat. Und mit dem Gratistransport von Gütern zwischen Nazi-Deutschland und dem faschistischen Italien im Zweiten Weltkrieg mit der Eisenbahn durch den Gotthard hat die Schweiz Hitler ein gutes Argument geliefert, die Schweiz nicht auch schon anzugreifen.
Die «Geschichte der Schweiz» als «Geschichte des Gotthards» muss noch geschrieben werden. Der eine Band dazu liegt jetzt schon vor: Das Buch von Alexander Grass über den Bau des Strassentunnels zwischen Göschenen und Airolo. Eine für Jung und Alt lohnende Lektüre!
Zum Buch und zur Buchbestellung: Alexander Grass: «Durchschlag am Gotthard; Der Bau des Strassentunnels 1970 – 1980». 275 Seiten, 50 Seiten Fotos, gebunden, Verlag «hier und jetzt», ISBN 978-3-03919-509-1, CHF 39.- (Zur direkten Bestellung hier anklicken.)
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Vielen Dank für diesen besonderen Artikel in dieser ansonsten schier unerträglichen Zeit.
Ich habe ihn und auch das Buch meinem Bonner(!) Email-Freund, der die Schweiz von Herzen liebt, weitergeleitet und empfohlen.
Uneingeschränktes Lob an unsere schweizerischen Nachbarn, dass ein solches Groß-Vorhaben angesichts der zahlreichen Beteiligten und der extrem widrigen Gesteinsverhältnisse einerseits und andererseits den hohen Sicherheitsanforderungen der eidgenössischen Behörden derart frei von Pannen umgesetzt werden konnte.
Außerdem hat dieses Projekt bewiesen, dass das Volk durch seine vorherige aktive Beteiligung in mehreren Entscheiden aktiv zum guten Gelingen eines Riesenprojekts beitrug. Welch ein Unterschied zu Deutschland,, in dem Großprojekte wie der Flughafen BER und Stuttgart 21 als misslungene Gegenbeispiele dienen ! Vorgaben der staatlichen Auftraggeber bezüglich Kosten und Fertigstellungstermin wurden hier von den beauftragten Unternehmern offensichtlich als unverbindliche Empfehlungen aufgefasst, deren Missachtung auch folgenlos blieb. Den Schaden trägt der Bürger, den man aber von jeglicher vorheriger Mitentscheidung ferngehalten hat.. Willensbildungsprozesse außerhalb von Parteien werden argwöhnisch bei uns verfolgt, daher auch die tiefe Abneigung gegen Volksentscheide..
Da wundert es nicht,, dass die deutsche Regierung nur säuerlich zur Kenntnis genommen hat, dass die kleine Schweiz ein solches Jahrhundertprojekt innerhalb des Kostenrahmens und dann auch noch vorzeitig (!) vollendet hat. Das wird man der Schweiz nie vergessen, die man ansonsten so
gern in die Ecke stellt . Wie habt Ihr das nur geschafft ???
Gruß aus Bon von Manfred S.
«Der Gotthard, die einzige Möglichkeit, die Alpenkette mit nur einer Alpenüberquerung zu überschreiten und nicht mit zweien, …»
Was soll das bedeuten? Die Alpenkette kann zum Beispiel auch via Simplon, Grand Saint-Bernard, Petit Saint-Bernard und Mont Cenis mit nur einer Alpenüberquerung überschritten werde.
Kurz Nachfrage an den Autor:
«mit dem Gratistransport von Gütern zwischen Nazi-Deutschland und dem faschistischen Italien im Zweiten Weltkrieg mit der Eisenbahn durch den Gotthard …»
Gratis (also auf Kosten der Schweiz) – oder einfach «nur» unbehelligt und wann immer es gewünscht wurde?