«Das Wertesystem des ÖV funktioniert nicht mehr»
Vor Ihrer Pensionierung waren Sie Vizedirektor der Verkehrsbetriebe Zürich und gehören jetzt zur Denkfabrik Mobilität. Vor zwei Monaten schrieben Sie in einem Beitrag, es keime «die Hoffnung, dass die Erfahrung mit der Pandemie uns sorgsamer mit den Ressourcen unseres Planeten umgehen lässt». Hat sich diese Hoffnung bereits zerschlagen?
Heinz Vögeli*: Die Hoffnung ist noch da. Die Pandemie hat ein sogenanntes Window of Opportunity geschaffen, in dem wir unsere Lebensrealität reflektieren und die Welt weiterentwickeln können und hoffentlich verstehen werden, wie die jetzige Krise mit der Klimaveränderung und der Vierten Industriellen Revolution vernetzt ist. Viele Fragen erscheinen jetzt unter einem neuen Licht. Wie viel CO2 wollen wir ausstossen? Wie viele Verkehrsunfälle nehmen wir in Kauf? Ist es sinnvoll, dass die Parkplätze in Zürich so viel Fläche in Anspruch nehmen wie die Stadtkreise 1 und 5 zusammen? Das ist allerdings ein Prozess, den jemand moderieren muss – und ich sehe nicht, wer diese Rolle einnehmen könnte. Die Politik schweigt, und die stärksten Akteure in diesem Bereich, die Automobilindustrie und der öffentliche Verkehr, beschäftigen sich im Moment mit sich selbst.
Nach dem Lockdown sind die zurückgelegten Tagesdistanzen im Auto und ÖV um rund 80 Prozent eingebrochen. Jetzt wird wieder genauso viel Auto gefahren wie zuvor und auch Trams und Busse füllen sich wieder. Es scheint, als würden wir einfach zum «courant normal» zurückkehren.
Die Frage ist, was in den Köpfen der Leute passiert ist. Noch nie zuvor war die Perversion besser sichtbar, welche enormen Flächen im öffentlichen Raum der Autoverkehr für sich beansprucht. Und nie zuvor haben wir realisiert, wie schnell ein Wandel möglich ist. Seit Jahrzehnten versuchen wir, den Verkehr einzudämmen. Dann verkündete der Bundesrat den Satz: «Bleiben Sie zuhause». Und die Strassen waren leer.
«Nie zuvor war die Perversion besser sichtbar, welche enormen Flächen im öffentlichen Raum der Autoverkehr für sich beansprucht»: Heinz Vögeli.
Die eingeschränkte Mobilität geht einher mit mehr Arbeitslosigkeit und einem noch nicht absehbaren Schaden für die Wirtschaft. Heisst die Gleichung also: Viel Verkehr ist gleich florierende Wirtschaft?
Nein, das sehe ich nicht so. Zu normalen Zeiten ist es genau umgekehrt: Zu viel Verkehr führt zu Stau und dieser schadet der Wirtschaft enorm.
Die Pandemie hat auch Stärken und Schwächen der verschiedenen Verkehrsmittel offenbart. Die Stärke des ÖV, dass er auf engstem Raum sehr viele Personen transportieren kann, hat sich jetzt in seine grösste Schwäche verwandelt. Wie gehen Sie, als ehemaliger Vizedirektor der VBZ, damit um?
Ich gehe noch weiter. Das Wertesystem des öffentlichen Verkehrs funktioniert nicht mehr. Bisher zählten vor allem Werte wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Dichte des Netzes. Heute verlangen die Kunden Umsicht, Rücksichtnahme und Abstand: Werte, die der ÖV nicht repräsentiert. Vor einem Monat hielten die Volkswirtschaftsdirektorin des Kantons Zürich und der Direktor des Zürcher Verkehrsverbunds eine Medienkonferenz ab und referierten über die Mobilität während der Pandemie. Sie jammerten darüber, wie viele Millionen sie verlieren – der Begriff «Kunden» ist in den 40 Minuten nicht ein Mal gefallen. Die Verkehrsbetriebe trauen sich nicht, eine Maskenpflicht einzuführen, obwohl das in unseren Nachbarländern problemlos funktioniert. Ich denke, der ÖV sollte seine Werte überdenken und die Kunden und Kundinnen mehr wahrnehmen.
Im Vergleich zu Zug und Bus ist das Auto das perfekte Corona-Verkehrsmittel: Vor dem Virus durch Blech und Glas geschützt, 2-Meter-Abstand inklusive. Wird das Auto wichtiger?
Bundesrat und Kantone haben dazu aufgerufen, den öffentlichen Verkehr nur noch zu nutzen, wenn es unbedingt sein muss. Dabei haben sie darauf verzichtet, das Velo und das zu Fuss gehen als Alternative zu propagieren. Im Umkehrschluss ist das ein Aufruf, das Auto zu benützen. Deshalb erstaunt es mich nicht, dass der Rückgang des Autoverkehrs nicht nachhaltig war. Aber ich glaube, dass die Weichen bereits in eine andere Richtung gestellt sind. Wir treffen heute Entscheidungen, zu denen wir vor Kurzem nicht fähig gewesen wären. Zum Beispiel in Deutschland: Letzte Woche hat die grosse Koalition ein Konjunkturpaket ohne Abwrakprämie beschlossen. Damit verweigert sie der Autoindustrie Steuergelder in Milliardenhöhe. Aber auch bei uns in der Schweiz: In Zürich ist der Rosengarten-Tunnel mit 63 Prozent der Abstimmenden abgelehnt worden, in der Stadt sogar mit 71 Prozent. Das sind Symptome, die zeigen, dass wir uns mitten in einem unumkehrbaren Prozess befinden.
In zahlreichen Städten wie Mailand, Barcelona, Paris, New York und San Francisco sind in den letzten Wochen Tausende Kilometer Radwege eröffnet worden. Damit sollen der Verlust der Kapazitäten des ÖV nach den Lockerungen der Schutzmassnahmen aufgefangen werden. In der Schweiz entstand kein einziger Meter. Warum?
Exekutivpolitiker beginnen ihre Karriere normalerweise in der Legislative. Ich glaube, die meisten unterschätzen diesen Schritt. Viele machen im Parlament oder auch in ihren Parteien einen guten Job. Aber wenn sie ihren Posten in der Exekutive ergattert haben, bleiben sie darauf hocken und verwalten ihre Dossiers. Um wirklich etwas zu verändern, braucht man aber einen grossen Gestaltungswillen. Damit sind leider nicht sehr viele ausgestattet, die in der Schweizer Politik Karriere machen.
Doch auch ohne die Politik bewegt sich der Markt. In den Städten sind viele neue Mobilitätsangebote entstanden, z. B. die Elektro-Roller zum Ausleihen. Täuscht der Eindruck oder funktionieren die Angebote alle nicht so recht?
Ich denke, das ist eine Phase des Übergangs. Im Moment bricht alles auf, Sharing Economy schafft neue Mobilitätsformen, Plattformen vernetzen die verschiedenen Angebote miteinander. Es wird viel ausprobiert, es liegt auf der Hand, dass sich vieles auch nicht durchsetzen wird. Es zeigt sich aber, dass es weniger trivial ist als angenommen, Mobilität in der analogen Welt über eine digitale Schnittstelle zu verbinden. Aber trotzdem, wir stolpern langsam in Richtung einer Mobilität der Zukunft.
Das Bieler Startup Enuu platzierte in Zürich 150 elektrische Mini-Autos zum Mieten. Jetzt haben die Betreiber die Bewilligung für 130 ihrer Gefährte verloren. Ist das nun gut oder schlecht?
Ich bin etwas zwiegespalten. Die Anbieter dieser Gefährte haben auf einer rationalen Ebene viele Probleme des motorisierten Individualverkehrs richtig verstanden. Aber die meisten Bewegungen dieser Gefährte könnte man auch mit dem Velo machen. Dabei wäre man vermutlich agiler und sicher weniger eingezwängt. Hinzu kommt ein gewaltiges Imageproblem. Diese Gefährte sind als Elektrorollstühle zugelassen, niemand findet das cool. Der Lustfaktor ist bei null. Und weil sie den Fussgängern und Velofahrern den Platz streitig machen, haben sie fast überall nur Feinde.
Die Corona-Krise hat uns dazu gezwungen, unsere Mobilität vorübergehend radikal einzuschränken. Was ist die wichtigste Erkenntnis aus dem Stillstand der letzten Wochen?
Die wichtigste Erkenntnis ist für mich, dass wir auf unseren Lebensstil einwirken müssen, wenn wir unsere Mobilität verändern wollen. Wir können Tempo-30 einführen und Velospuren installieren, das ist alles gut und recht. Aber der grosse Hebel ist unser Lebensstil. Wenn wir das Leben im Einfamilienhaus mit SUV in der Garage propagieren, verhalten sich die Menschen ressourcenintensiv. Wenn wir Homeoffice und zurückhaltenden Konsum propagieren, sind plötzlich die Strassen leer. Zum Lebensstil gehört auch, wie viel Konsum wir wollen, wie viele Emissionen wir verursachen und wem der öffentliche Raum gehört. Dabei geht es nicht darum, etwas zu verbieten. Doch wir haben nur diesen einen Planeten und zu dem müssen wir Sorge tragen. Wir sollten deshalb dringend damit beginnen, den Diskurs darüber zu führen, wie wir leben wollen.
* Heinz Vögeli arbeitete 35 Jahre für die Verkehrsbetriebe Zürich, VBZ, zuletzt als Vizedirektor. Seit seiner Pensionierung engagiert er sich im Rahmen des Netzwerks www.denkfabrikmobilitaet.org für den Diskurs über die Mobilität der Zukunft.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Ich hoffe sehr, dass der ÖV wieder erholt. Ich bin Angewiesen auf den ÖV.
Betreffend Ziel bin ich mit Herrn Vögeli einerstanden. Das Problem: Die Autoindustrie übt Macht aus durch ihre Reklame. Deren Kosten dürfte sie als Gewinnungskosten bei den Steuern abziehen können, womit die Allgemeinheit sie teilweise bezahlt… Autoreklamen zeigen nur die «schöne Seite» des Autofahrens und nicht das Auto im Stau, nicht die lärmgeplagten AnwohnerInnen der Strassen, nicht die Folgen des Bewegungsmangels, nicht die Krankheits- und Unfallkosten. So kann problemlos jede Generation «angefixt» werden. Nur besonders wache Junge können dem widerstehen.
Dass der öV keine Maskenpflicht eingeführt hat war tatsächlich ein grosser Fehler. Passagiere fühlen sich zu recht gefährdet durch nicht maskentragende Passagiere, die nicht wissen, dass sie infiziert sind und auch ohne Krankheitssymptome ansteckend sind. Wir wissen heute, dass in einem geschlossenen Bahn- oder Tramwagen Viren auch über Aerosole verbreitet werden. Diese Risiken liessen sich durch eine allgemeine Maskenpflicht reduzieren und würden zum Sicherheitsgefühl der Passagiere beitragen.
Alexander Borbély
Es wird im Interview mehrmals erwähnt, dass wir unseren Lebensstil überdenken müssen. Das sehe ich auch so, nur wird das nicht ausreichen, wenn wir uns nicht auch über unser Wirtschaftssystem Gedanken machen, welches meist den Arbeitsplatz als primäres Bedürfnis darstellt. In Wirklichkeit ist dies ein fieser Trick, Arbeit billig zu halten und gleichzeitig ist es ein gemeine Falle, aus der wir nicht entrinnen können, wenn wir das System nicht überdenken.
Hier ein Vorschlag, in welche Richtung das gehen könnte:
https://www.contexo.net/2020/05/drei-schluessel/
Ich kann Herrn Vögeli und dem Leser Hr. Borbely nicht zustimmen bzgl. Maskenpflicht im OEV. Die Maskenpflicht ist auch im Ausland ein Unding. Corona ist nachweislich insgesamt nicht gefährlicher als eine schwere Grippewelle und von Anfang an wurde richtig gesagt, dass es für mind. 80% der Bevölkerung keine oder nur ganz leichte Auswirkungen hat. Dann kann man sich max. über Risikogruppen Gedanken machen, aber nicht generell.
Trotzdem die WHO dies anders sagt auf 16 Seiten und viele Experten, ist man sich hier einig ‹auf schmalspurigen Gehirnbahnen› (K. Kraus), dass eine generelle Maskenpflicht und das j e t z t n o c h ‹was bringt›.
Haben Sie mitbekommen, dass die ‹Welle› vorbei ist? Im Kanton Uri z.B. gibt es seit Wochen keinen aktiven Fall mehr. Zwischen Rotkreuz und ZH tragen maximal 5% Masken, zwischen Rotkreuz und Bellinzona keiner, zwischen Bellinzona und Chiasso ein paar einzelne Aeltere.
Ist Ihnen schon aufgefallen, dass die ‹Fehlenden› auch in den Läden, auf der Strasse, im Restaurant, beim Bäcker-Cafe auch fehlen? Das sehr viele Betriebe noch nicht wieder zur generellen Arbeit im Büro zurückgekehrt sind oder nicht zurückkehren und andere Betriebe mit reduzierter Kapazität arbeiten.
Alle diese bleiben dem OEV sicher nicht mangels Maskenpflicht fern.
Und sie meinen im Sommer kann ‹Massen mit Maske›, z.B. von Winterthur bis Kandersteg für Stunden im Zug die Fahrgäste mobilisieren?
Aber der Experte ist ja nicht SBB, sondern ehemals VBZ, also nicht OEV allg.
Der ÖV in Ballungsräumen ist heute die beste Lösung für die meisten Menschen, die da leben.
Corona ist ein Ausnahmefall, wegen dem Bewährtes nicht geändert werden sollte. Es wird auch Fortschritte geben, dass dem menschlichen Immunsystem weniger geschadet wird oder dieses besser gefördert wird.
Es kann und wird allerdings selbstfahrende elektrisch betriebene Ruftaxis mit relativ geringer Batteriekapazität geben, die sich selbständig an Ladestationen versorgen und/oder sich einen Parkplatz suchen. Von einem dt. Autokonzern, der an diesem Mobilitätskonzept arbeitet, weiss ich..