Bieler Autobahnplanung fusst auf falschen Verkehrsprognosen
Die Mitglieder der Taskforce – Gemeindepräsidenten, Polizisten, Beamte von Bund und Kanton – waren besorgt, als sie sich letztes Jahr erstmals versammelten. Die bevorstehende Eröffnung des Ostasts der Nationalstrasse A5, so befürchteten sie, würde die Region Biel ins Verkehrschaos stürzen: Staus am Seeufer, massive Verkehrszunahmen im Stedtli Nidau, Verkehrsinfarkt am Guido-Müller-Platz mit einer Kapazitätsüberlastung von 140 Prozent.
Auch die Nidauer Stadtpräsidentin Sandra Hess war beunruhigt. Im Infoblatt «Perspektiven» warnte sie im Sommer 2017 ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger: «Bis zur Vollendung der Westumfahrung müssen wir mit erschwerten Verhältnissen auf den Strassen leben.»
Ein gutes Jahr später zeigt sich: Alles halb so wild. Schon früh ergaben erste Messungen, dass keine Notmassnahmen nötig sind. Die Taskforce konnte über die Sommermonate getrost pausieren und trifft sich nun diese Woche erstmals wieder für eine Bilanz. Sie wird festhalten, dass der politisch unbestrittene Ostast die allseits gewünschte Entlastung des Bieler Strassennetzes brachte. Aber sie wird auch feststellen, dass die Verkehrsprognosen des Kantons um bis zu 40 Prozent daneben lagen: Das bernische Tiefbauamt hatte sich bei mehreren wichtigen Verkehrsverbindungen um jeweils 10’000 bis 18’500 Fahrten pro Tag verschätzt. Die Beamten um Regierungspräsident Christoph Neuhaus hatten generell mit viel mehr Verkehr gerechnet.
Die effektiven Zahlen der Verkehrs-Messungen für den bereits eröffneten Ostast (rot) sind um bis zu 40 Prozent tiefer als die Prognosen. Daher dürften auch die Prognosen für den Westast (grün) falsch sein (Grafik: Westast so besser).
Damit stellt sich eine grundsätzliche Frage. Was taugen Verkehrsprognosen in Zeiten disruptiver Entwicklungen? Stimmt die Aussage, dass sich Verkehr wie Wasser immer wieder neue Wege mit möglichst wenig Widerstand sucht? Und ist es zulässig, umstrittene Verkehrsprojekte auf derart wackliger Grundlage durchzudrücken?
Autonom fahrende Fahrzeuge erschweren Langzeitprognosen
Diese Fragen bewegen derzeit die Gemüter in Biel, wo hitzig über Sinn und Unsinn von überdimensionierten Autobahnanschlüssen mitten im Stadtzentrum debattiert wird und eine Bürgerbewegung mit über 2000 Mitgliedern gegen die Pläne der Berner Obrigkeit protestiert (vergleiche Grafik). Und diese Fragen interessieren übers Seeland hinaus. Muss das Schweizer Nationalstrassennetz auf Teufel komm raus fertiggestellt werden, trotz vager Datenbasis?
Das Bundesamt für Strassen will die hiesigen Autobahnen nach offiziellen Angaben bis 2030 für insgesamt 13,5 Milliarden Franken ausbauen. Macht das Sinn, wenn sogar beteiligte Planungsbüros davor warnen, dass Prognosen über einen Zeitraum von mehr als 10 bis 20 Jahre wegen des Aufkommens autonom fahrender Fahrzeuge heute schwieriger sind denn je? Wenn Regierungen aufgrund von alarmierenden Klimaberichten und einer markanten Zunahme von unvorhersehbaren Unwettern und Trockenphasen zum Handeln gezwungen sind?
Wer wagt es heute noch, das künftige Mobilitätsverhalten bis 2040 in absoluten Zahlen vorauszusagen?
Der Kanton Bern.
Insider, die Einblick hatten in die unveröffentlichten Verkehrszahlen zum Ostast, wundern sich. Die Ergebnisse des Monitorings werden seit Monaten unter dem Deckel gehalten, «Infosperber» konnte sie einsehen. Daraus geht hervor: In Biel hat man die Prognosen für die neue Strecke nur auf drei Jahre hinaus bis 2020 erstellt – und dennoch liegen sie nach heutigem Stand weit daneben. Beispiele:
- Im Längholztunnel, Kernstück des neuen Ostasts, wurden im September 2018 nur 26’700 anstelle der prognostizierten 44’200 Autos pro Tag registriert – eine Differenz von 39,6 Prozent. (1)
- Am Guido-Müller-Platz kam es nicht zum erwarteten Zusammenbruch, im Gegenteil: Es passieren dort täglich 31’700 anstelle der prognostizierten 45’600 Fahrzeuge; das sind 30,4 Prozent weniger als erwartet oder sogar 1100 weniger als vor der Eröffnung des Ostasts, welche die Taskforce so sehr fürchtete.
- An der Bernstrasse in Nidau, die dereinst durch den 2,2 Milliarden teuren Westast entlastet werden soll und für welche im Jahr 2020 34’600 Fahrten prognostiziert werden, liegt die aktuelle Zählung bei 20’500 Fahrten, also ebenfalls um fast 40 Prozent tiefer.
- Und im Nidauer Stedtli, wo die Stadtpräsidentin mit einer dramatischen Zunahme der gewohnten 18’100 Fahrten pro Tag rechnete, ergab die Zählung von September 16’100 Fahrten, also 2000 weniger als vor Eröffnung des Ostasts.
Regionale Experten kritisieren das Modell
Braucht es den Westast mit den beiden umstrittenen Anschlüssen im Stadtzentrum überhaupt, wenn die Planung auf wackligen Prognosen beruht? Gut informierte Verkehrsingenieure vermuten, dass nicht das Berner Prognosemodell an sich ungenau ist, sondern dass es mit sehr vielen und teils zweifelhaften Annahmen gefüttert wurde und entsprechend nicht richtig interpretiert wird. «Wir müssen als Region mit dem Gesamtverkehrsmodell arbeiten, sind aber nicht restlos glücklich damit», sagt Thomas Berz, der Geschäftsführer des regional gut verankerten «Vereins seeland.biel-bienne». Gerade in kleinräumigen Gebieten dürfe «das Modell nicht 1 zu 1 als einzige Grundlage für Verkehrsprognosen verwendet werden», sagt Berz. Das Verkehrsmodell bilde nämlich die zu erwartende Nachfrage ab, indem man die Entwicklung aufgrund der Werte bis 2012 hochrechnet. Berz weist daraufhin, dass es in der Verkehrsplanung sinnvoller sei, «vom Angebot auszugehen, das zur Verfügung gestellt werden soll, wie dies auch in den regionalen Richtplänen vorgesehen ist». Berz ist von ganz wenigen, der seine Zweifel öffentlich zu formulieren wagt. Mehrere Fachspezialisten kritisieren die Verwendung und Interpretation des Modells, machen dies aber nicht öffentlich, da sie auf Aufträge des Kantons angewiesen sind.
Fachleute fragen sich zudem, warum der Kanton Bern keine statistischen Vertrauensbereiche bzw. Fehlermargen offen legt und warum er diese nicht berücksichtigt. Im «Technischen Bericht» vom August 2018 wird die Verkehrsbelastung einzelner Strassen bei der offiziellen Variante mit jener von «Westast so besser!» verglichen. Dabei gibt der Kanton nicht etwa einen Unsicherheitsbereich an, wie bei Modellrechnungen üblich, sondern nennt für alle Strassen absolute Zahlen für das Jahr 2030 ohne jede Abweichung. Just auf dieser fragwürdigen Datengrundlage baut der Kanton seine ganze politische Argumentation auf: Die Alternative des Komitees, so behauptet er, entlaste Quartiere weniger vom Verkehr. Es lohne sich deshalb nicht den Vorschlag weiterzuverfolgen.
Ist das zulässig, fragte sich ein Bieler Forscher, der Erfahrung hat im Erstellen von Modellen. Er besuchte Mitte September eine «Bürgerversammlung» mit Regierungspräsident Christoph Neuhaus in Nidau und stellte kritische Fragen zum Gesamtverkehrsmodell des Kantons Bern, die keiner der anwesenden Chefbeamten und externen Fachleute beantworten konnte. Erstaunlich ist das nicht. Für ihre Prognosen hatte das Tiefbauamt des Kantons Bern (TBA) eine Fülle von Datensätzen beigezogen: die Einwohner- und Siedlungsentwicklung, die wirtschaftliche Entwicklung, den Ausbau des öffentlichen Verkehrs sowie des motorisierten Individualverkehrs. Viele stammten vom Bundesamt für Statistik, und dieses legt den Unsicherheitsbereich (Fachjargon: Vertrauensintervall) grundsätzlich immer offen. Wenn verschiedene Datensätze kombiniert werden, dann nehmen die Unschärfen zu. Das ist in der Statistik elementar.
Und was sagt der Kanton dazu? Projektleiter Stefan Graf vom Tiefbauamt des Kantons Bern (TBA) schreibt auf Nachfrage, das Basismodell habe eine «maximale Abweichung» von 10 Prozent, bei den Prognosen für die Jahre 2030 und 2040 hingegen könne «keine +/– Genauigkeit angegeben werden: Die Prognosen beruhen auf Annahmen.» Er wiegelt ab: Die Wirkung des Ostasts lasse sich erst Ende dieses Jahres definitiv beurteilen, die Prognosen bezögen sich auf die durchschnittliche Verkehrsmenge im Jahr 2020. Doch warum sollen diese innert zwei Jahren dramatisch zunehmen, obwohl bis dahin weitere flankierende Massnahmen den Verkehrsfluss einschränken und steuern werden? Das TBA kann auch dazu keine Antwort liefern.
Prognostiker legen eigene Probleme offen
Ein Blick in den offiziellen 130-seitigen Verkehrsbericht zum Auflageprojekt offenbart grosse methodische Probleme. Innert sechs Jahren kamen drei verschiedene Verkehrsmodelle zur Anwendung und generierten unterschiedliche Zahlen, immer im Bemühen, genauere Prognosen zu liefern: Beim neuen Ostast etwa stieg der erwartete durchschnittliche Verkehr pro Tag für 2030 innert sechs Jahren um 67,5 Prozent (von 34’800 Fahrzeugen im Jahr 2010 bis auf 58’300 im Jahr 2016 beim Ausführungsprojekt). Da der Verkehr vor und nach Eröffnung des Ostast nur zu Spitzenstunden gemessen wurde, haben die Verantwortlichen den Wert «Durchschnittlicher Werktagsverkehr DWV» teils hochgerechnet. Und weil die Modelle nach Meinung der Beamten zu hohe Resultate für die Einfallstrassen nach Biel zu Spitzenstunden generierten, wurden die Zahlen manuell um 10 Prozent korrigiert.
Ganz wohl schien es den Prognostikern dabei nicht zu sei. Sie schreiben, dass bei den Hochrechnungen «Inkonsistenzen» aufgetaucht seien: grosse, nicht nachvollziehbare Abweichungen sowie «sehr stark asymmetrische Belastungen je Fahrtrichtung, welche nicht plausibel erklärt werden können». Entsprechende Werte seien daher «nicht oder nur mit grösster Vorsicht» verwendet worden. Was das konkret bedeutet, bleibt offen. Ein Detail: Laut den Unterlagen beträgt die mittlere und nicht die maximale Abweichung fürs Jahr 2020 zehn Prozent, wie der Kanton behauptet. Die Summe dieser Ungenauigkeiten, Relativierungen, Hochrechnungen und manuellen Korrekturen erstaunt.
Sind falsche Annahmen der Grund dafür, dass das Monitoring nach einem Jahr ganz andere Werte ergibt als prognostiziert?
Der Bieler Wissenschaftler hat in Fronarbeit eigene Berechnungen erstellt. Was bedeutet es fürs Berner Verkehrsmodell, wenn man den statistischen Vertrauensbereich von +/– 10 Prozent berücksichtigt, wie er von Projektleiter Stefan Graf zugestanden wird? Und was wäre, wenn das Verkehrsmodell – wie durch aktuelle Zählungen bestätigt – gar eine Fehlermarge von 40 Prozent aufweisen würde? Seine Ergebnisse sind erstaunlich: Beim Vergleich der beiden heiss diskutierten Varianten weisen nur wenige Strassen überhaupt signifikante Unterschiede auf. «Die Behauptung des Kantons, «Westast so besser!» würde die Quartiere ungenügend entlasten, ist nicht nachvollziehbar», sagt der Forscher, der aus Rücksicht auf seinen Auftraggeber aus der Bauindustrie anonym bleiben will.
Muss der Kanton also nochmals über die Bücher? Schon der «Technische Bericht» war parteiisch ausgefallen: Die zugrunde liegenden Expertenberichte stammten von befangenen Büros und waren einseitig zusammengefasst worden. Zudem waren die verkehrlich flankierenden Massnahmen – ein Schlüssel für die Verkehrsführung – nur bei der offiziellen Variante berücksichtigt worden, trotz konkreter Vorschläge von «Westast so besser!». Nun deutet alles daraufhin, dass die Grundlagen für den technischen Bericht nicht korrekt waren.
Das Fazit gilt landesweit und ist eigentlich banal: Nicht nur in der städtebaulichen Planung, auch bei Verkehrsprognosen erweist es sich als Nachteil, wenn diese allein von Ingenieuren statt einem interdisziplinären Team von Verkehrsplanern, Architekten, Raumplanern, Informatikern und Statistikern erarbeitet werden. Komplexe Herausforderungen erfordern eine gesamtheitliche Sichtweise.
Ein Verkehrschaos jedenfalls wird es bis auf weiteres auch in Biel und Nidau nicht geben. Insofern müssen die Mitglieder der Taskforce Ostast auch in den nächsten Monaten garantiert keine Notmassnahmen beschliessen.
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(1) Am 17.11.2019 musste das Astra eine zentrale Zahl aus der ersten Fassung des Berichts korrigieren, offenbar weil eine automatische Zählstelle auf dem neuen Ostast nicht richtig funktionierte, ohne dass dies beim Bundesamt jemand bemerkt hätte: Den neuen Ostast nutzen demnach 35’100 statt der prognostizierten 44’200 Autos pro Tag, wie eine Stichprobe im September ergab. Einer Aufforderung, den gesamten Zahlensatz zu veröffentlichen, ist das Astra bislang nicht nachgekommen. Weitere Infos hier.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Catherine Duttweiler war von 2004 bis 2011 Chefredaktorin des «Bieler Tagblatts» und hat das Projekt schon damals begleitet. Sie engagiert sich innerhalb der Bürgerbewegung «Westast so nicht!» ehrenamtlich gegen den geplanten Autobahnbau. Als Privatperson würde sie selber vom Bau profitieren, da dank dem umstrittenen Autobahnanschluss Seevorstadt gemäss offiziellen Prognosen täglich 5000 Autos weniger an ihrer Wohnung vorbeifahren würden – dachte sie zumindest, bis sie diesen Text recherchierte ... nun sind es vielleicht nur 3000 weniger!