Beschleunigung von 314 auf 340 km/h in nur sieben Tagen
Vor einer Woche hörte ich die Radio-Meldungen über den auf 28 Kilometer anwachsenden Pfingststau vor dem Nordportal des Gotthard-Strassentunnels und las gleichzeitig die redaktionellen «Auto»-Seiten im Winterthurer Landboten. Dort schrieben die Autoren über den Aston Martin, der ein Spitzentempo von 314 km/h erreicht, den 2,5 Tonnen schweren Range Rover sowie die wundersame Wandlung des Jaguar-Modells Sportbreake zur «Wildkatze für die Familie».
Grösser kann die Diskrepanz zwischen real stockendem Strassenverkehr und medialer Huldigung von schnellen übergewichtigen Autos kaum sein, dachte ich – und irrte mich. Denn eine Woche später zeigt die gleiche Zürcher Landzeitung, dass noch Steigerungspotenzial besteht. Auf den drei Autoseiten präsentiert der Landbote am 26. Mai folgende Fahrzeuge:
– Den McLaren Senna (Bild oben). Dieser «extremste Strassensportwagen» beschleunigt «in 2,8 Sekunden von 0 auf 100 Stundenkilometer» und erreicht eine Spitzengeschwindigkeit von 340 km/h. Das Spitzentempo ist damit 26 Kilometer höher als jenes des Aston Martin und 2.8 mal so hoch, wie der Gesetzgeber in der Schweiz auf Autobahnen maximal erlaubt. Ein «Hypercar zum Hyperventilieren», schwärmt Autorin Nina Vetterli.
– Die Mercedes-G-Modelle (redaktioneller Titel: «G wie grenzenlos»). Diese Geländewagen bringen gemäss Firmenangaben je nach Modell 2,4 bis 2,6 Tonnen Tara (Leergewicht) auf die Waage und 422 bis 585 PS auf die Räder. Der stärkste Motor beschleunigt die schwere Karosse auf maximal 240 km/h. Beim (unrealistisch gemässigten) Fahrzyklus auf dem Prüfstand stossen die G-Modelle pro Kilometer rund 300 Gramm CO2 in die Atmosphäre, mehr als doppelt so viel, wie die heutigen Abgasnormen für Durchschnitts-Autos erlauben (was Autor Peter Hegetschweiler in seinem Bericht verschweigt).
– Die neuste Generation des Audi A6. Die knapp fünf Meter lange und fast zwei Tonnen schwere Limousine lässt sich laut Autor Dave Schneider auch auf engen kurvigen Strassen problemlos steuern, fühlt sich leichtfüssig an und bereitet gemäss Titel «Spass am Dienst».
Autos mit viel Tara, Tempo und überflüssiger Leistung
Bei den Audi-A6-Modellen mit 285 bis 340 PS Motorenleistung, knapp zwei Tonnen Leergewicht und Kaufpreisen «ab 77’200 Franken» handelt es sich um die schwächsten und billigsten Autos, die der Landbote an diesem Samstag seiner Leserschaft präsentiert. Doch auch diese freundlich beworbenen Modelle sind deutlich schwerer und kosten mehr als doppelt so viel wie ein Durchschnitts-Auto auf den Schweizer Strassen. Und unter den Kühlerhauben des Audi A6 liegen bei Autobahn-Tempo 120 oder stockendem Stadtverkehr mehr als doppelt so viele Energiesklaven brach wie im Schnitt der Schweizer Fahrzeugflotte.
Zum Vergleich: 340 PS Motorenleistung entsprechen der Spitzenleistung von 680 erwachsenen Menschen. Um den Fahrzyklus zu absolvieren, den der Gesetzgeber für die Ermittlung des zulässigen Treibstoffverbrauchs festgelegt hat, würde bei einem 1,5 Tonnen schweren Mittelklassewagen eine maximale Motorenleistung von 35 Kilowatt oder 48 PS bereits genügen (Quelle: Lino Guzzella, 2009, Professor für Thermotronik an der ETH, heute ETH-Präsident). Will sagen: Alle präsentierten Autos sind um ein Vielfaches übermotorisiert.
Eher die Regel als Einzelfälle
Nein, die hier beispielhaft präsentierten Autoseiten der Winterthurer Tageszeitung sind keineswegs die Ausnahme. Nina Vetterlis Bericht über den «Hypercar zum Hyperventilieren» etwa ist schon früher auf 20 Minuten online erschienen. Der pensionierte Tages-Anzeiger-Redaktor Peter Hegetschweiler publizierte sein Lob über die grenzenlosen CO2-Schleudern von Mercedes ebenfalls in andern Tamedia-Publikationen (Tages Anzeiger, Berner Zeitung, etc.). Das Gleiche gilt für den Bericht des freien Auto-Journalisten Dave Schneider über die Spass-Limousinen von Audi und andern Herstellern.
Während ich das schreibe, fällt mein Blick auf die Beilage Stil der neusten NZZ am Sonntag (vom 27.5.2018). Darin präsentiert Jürgen Lewandowski den Bentley Continental (633 PS, 2,2 Tonnen Tara, 0-100 km/h 3,7 Sekunden) und folgert stilvoll: «Einen Bentley besitzt man nicht, um 911er zu jagen, sondern um der Umwelt und sich selbst zu zeigen, dass man Geschmack, Stil sowie das nötige Kleingeld hat.»
Je grösser die Lärm-, Klima-, Platz- und Stauprobleme werden, die der Autoverkehr verursacht, desto überschwänglicher loben Medienschaffende exotische und besonders unproduktive Sprösslinge der Gattung Automobil. Wobei die Lobhudelei auch doppeldeutig ausfallen kann: In der Südostschweiz vom 23. Mai 2018 berichtete Auto- und Lokalredaktor Dario Morandi auf Seite «Auto & Motor» über den «Sportler» namens Ford Fiesta und titelte: «Der kleine Renner klebt förmlich auf der Strasse». Damit veranschaulichte er wohl unfreiwillig die reale Situation aller Autos, die im Stau – nicht nur förmlich – auf der Strasse kleben.
Was sagt eigentlich der Presserat?
«Bei den zitierten Autoseiten der Zeitungen handelt es sich um zwingende Gegenleistungen für die geschalteten Inserate», schrieb Infosperber-Leser Christoph Kaufmann zum Infosperber-Beitrag über Sport- und Spottwagen. «Damit sind es faktisch bezahlte Inserate, die als redaktionelle Inhalte ausgegeben werden», folgerte Kaufmann und fragte: «Hat der Presserat zu dieser Täuschung schon mal etwas gesagt?». Eine gute Frage.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Die meisten von uns sehen das wohl nur mit berechtigtem Kopfschütteln. Was soll man mit solchen Karren überhaupt? Fahren ja viel zu schnell für unsere Strassen und sind für 99,9% der Menschen nicht zu zahlen. So was lese ich allenfalls mit dem technischen Interesse, das es verdient. Dann blättere ich weiter und vergesse den Inhalt. Das Zielpublikum ist die männliche Klientel, deren Autos eine Potenz aufweisen, die zumeist wohl umgekehrt proportional des Besitzers ist. Die dürfen gerne auf solche ‹Artikeln› sabbern.
«Hat der Presserat zu dieser Täuschung schon mal etwas gesagt?», wird am Ende des Artikels gefragt. Die Antwort ist: Ja, und das sogar bereits vor mehr als einem Vierteljahrhundert! 1992 verabschiedete der Presserat eine Stellungnahme zu den Problemen des Reise-, Auto- und Sportjournalismus. Dort heisst es: «Die Grundsätze des Autojournalismus sollen mit den politischen Grundsätzen des gleichen Mediums abgestimmt werden. Die Umwelt-, Verkehrs- und Energiepolitik der politischen Ressorts soll auch für den Autojournalismus gelten, sonst ist der Journalismus nicht glaubwürdig. (…) Fahrberichte sollen stark den Charakter von Konsumententest aufweisen. Alle Wagen sollen nach einem vergleichbaren Kriterienraster kritisch durchleuchtet werden. (…) Immer dann, wenn Medienschaffende auf Kosten der Veranstalter unterwegs waren, sollen sie darüber informieren.» (https://presserat.ch/complaints/stellungnahme-des-presserates-vom-12-dezember-1992-zu-problemen-des-reise-auto-und-sportjournalismus/) Einige Monate zuvor hatte der Presserat in einer anderen Stellungnahme ebenfalls im Zusammenhang mit Autoberichterstattung festgehalten: «Die Journalistinnen und Journalisten sind in erster Linie dem Publikum verpflichtet. Ihm gilt ihre Loyalität, und diese Loyalität lässt nicht offengelegte Abhängigkeiten von Menschen und Institutionen, die Gegenstand journalistischer Berichterstattung sein können, nicht zu.» (https://presserat.ch/complaints/stellungnahme-des-presserates-vom-18-juni-1992/).
Zudem hat der Presserat im Jahr 2017 wegen bezahlter Inserate, die als redaktionelle Inhalte ausgegeben werden – neudeutsch «Native Advertising» – seine Richtlinien aktualisiert. «Der Presserat stellt klar, dass bezahlte oder durch Dritte zur Verfügung gestellte Inhalte gestalterisch von redaktionellen Beiträgen klar abzuheben sind», heisst es hierzu in der damaligen Pressemitteilung (https://presserat.ch/presserat-praezisiert-richtlinien/). «Sofern sie nicht eindeutig als Werbung erkennbar sind, ist zwingend zu deklarieren, dass es sich um bezahlten Inhalt handelt.» Dies gilt auch für Automobilseiten. * Disclaimer: Ich bin seit April 2016 Mitglied des Presserates. *