Autofreier Tag: seit über zwanzig Jahren in Bogotá!
Red. Josef Estermann befindet sich auf einer vierwöchigen Reise durch die Andenländer Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien. Er trifft alte Bekannten, Orte und eine Gegenwart, die von Widersprüchen und ungelösten Konflikten geprägt ist. Estermann lebte und arbeitete während 17 Jahren in Peru und Bolivien.
Am Anfang des autofreien Tags stand ein Volksentscheid
Bereits seit über zehn Jahren steht am ersten Donnerstag im Februar in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá praktisch alles still. Es ist der «Día sin carros», der Tag ohne Autos. In Bogotá verkehren mit seinen schon fast zwölf Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern über eine Million Autos und noch einmal 600’000 Motorräder. Doch am ersten Donnerstag in Februar beherrschen die Radfahrerinnen und Radfahrer, Fussgängerinnen und Fussgänger die Strassen der Metropole.
Um dem drohenden Verkehrskollaps und dem immer hartnäckigeren Smog über der Stadt etwas entgegenzusetzen, nahmen die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger von Bogotá im Jahr 2000 ein Postulat an, das einen autofreien Tag pro Jahr vorsieht, und zwar jeweils am ersten Donnerstag im Februar. Im Jahr darauf wurde der erste autofreie Tag umgesetzt, und dieses Jahr wird dieser bereits zum 22. Mal durchgeführt. Grundsätzlich ist es allen Fahrzeugen, die mit einem Verbrennungsmotor ausgestattet sind, zwischen fünf Uhr morgens und neun Uhr abends untersagt, sich im Grossraum der Metropole Bogotá zu bewegen. Regelverstösse werden mit empfindlichen Bussen bestraft.
Allerdings gibt es viele Ausnahmen zu dieser Regel. Der öffentliche Verkehr – Busse, Schnellbusse – funktioniert normal, auch Notfalldienste wie Ambulanzen, Polizei und Feuerwehr, ja sogar die Geldtransporter und Lieferwagen verderblicher Lebensmittel dürfen frei zirkulieren. Und auch die Taxis, falls ihr Kennzeichen nicht gerade mit einer Zahl endet, die an diesem Tag ihren Dienst verbietet. An diesem Donnerstag sind es die Endziffern 3 und 4.
Einschränkungen während des ganzen Jahres
Diese ganzjährige Regelung nennt sich «pico y placa» (zu Deutsch etwa: «Stosszeit und Kennzeichen») und gilt während des ganzen Jahres in einer anderen Form auch für private Fahrzeuge.
Ein Taxi darf grundsätzlich jeden fünften Tag nicht auf den Strassen von Bogotá verkehren; am einen Tag sind es die Taxis mit den Endziffern 1 und 2, am nächsten jene mit 3 und 4, am übernächsten jene mit 5 und 6, denen die Fahrt verwehrt ist. Bei den privaten Fahrzeugen gilt dies sogar für jeden zweiten Tag. An einem ungeraden Tag beispielsweise dürfen Privatautos mit den Endziffern 1 bis 5 nicht in der Stadt fahren. An geraden Tagen müssen die Besitzerinnen und Besitzer von Fahrzeugen mit den Endziffern 6, 7, 8, 9 und 0 zuhause bleiben oder sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder Taxi bewegen. An einem Tag sind also jeweils nur die Hälfte der zugelassenen Fahrzeuge unterwegs.
Symbolpolitik oder Vorwegnahme einer anderen Stadt?
Der «autofreie Tag» einmal im Jahr scheint nicht viel mehr als symbolische Bedeutung zu haben, sind doch die Strassen an den anderen 364 Tagen so verstopft, dass an ein Vorwärtskommen nicht zu denken ist. Wie es aber wäre, wenn ohne das Programm «pico y placa» die doppelte Zahl von Autos und Motorrädern unterwegs wären, ist nicht einmal vorstellbar.
Am autofreien Donnerstag ist es ruhig, auch wenn viele Taxis und Busse unterwegs sind. Statt den Autos und Motorrädern sieht man erstaunlich viele Fahrräder und Fussgängerinnen und Fussgänger, welche die Strassen erobert haben. Der «autofreie Tag» hat dazu geführt, dass seit 2001 die Infrastruktur für den langsamen Verkehr zu Fuss oder per Rad stark ausgebaut wurde. Das World Economic Forum von 2021 hat Bogotá auf Rang Fünf einer Liste der velofreundlichsten Städte aufgeführt. Tatsächlich gibt es viele Fahrradwege und Velostreifen in der Stadt; der Veloverleih boomt, und auch Elektrovelos erlangen immer grössere Marktanteile.
Allerdings gab es an diesem autofreien Tag im Februar auch Fahrräder mit einem kleinen Verbrennungsmotor, die knatternd und rauchend auf den Radwegen unterwegs waren – eigentlich ein Verstoss gegen die Regel. Vorläufig haben sie wohl eine Gesetzeslücke entdeckt. Viele Menschen, mit denen ich sprach, finden zwar, dass der «autofreie Tag» das Verkehrsproblem in der 12-Millionen-Stadt in keiner Weise löst. Trotzdem zeige er, wie eine Stadt wie Bogotá auch funktionieren könnte, wenn statt des motorisierten Privatverkehrs der öffentliche Verkehr und elektrische Fahrzeuge gefördert würden.
Seit über 50 Jahren gibt es Pläne für den Bau einer Metro
Damit sind wir mitten in einem aktuellen politischen Streit zwischen dem ehemaligen Bürgermeister von Bogota und heutigen Staatspräsidenten Gustavo Petro und seiner Nachfolgerin Claudia López Hernández. Petro wollte als Bürgermeister eine Hochbahn bauen, scheiterte aber am Widerstand von konservativen Kräften und den Busgewerkschaften. Die jetzige Bürgermeisterin holt ein Projekt aus den Schubladen, das schon in den 1960er Jahren praktisch baureif vorlag: den Bau einer Metro. Damals hatte sich Japan bereit erklärt, die Metro zu bauen, wenn im Gegenzug eine Konzession von zwanzig Jahren für deren Betrieb gewährt würde. Es kam nicht zum Deal, und seither scheiterte das Projekt immer wieder an der grassierenden Korruption, dem Widerstand von Interessengruppen und den stets wechselnden Personen im Bürgermeisteramt.
Gustavo Petro mischt sich als Staatspräsident gerade jetzt wieder in die Debatte ein und möchte sein eigenes Projekt einer Hochbahn durchbringen. Der Taxifahrer, mit dem ich sprach, winkt müde ab und sagt lapidar: auch in hundert Jahren wird es weder Metro noch Hochbahn geben, da zu viel Geld im Spiel ist. Statt Japan scheint jetzt China ein Interesse am Bau der Metro zu haben. Aber das ursprüngliche Projekt sei aufgrund des unglaublichen Wachstums der Stadt inzwischen sowieso obsolet geworden, und man könne ja nicht eine pulsierende Stadt einfach überall aufreissen. Der Taxifahrer hat selber natürlich auch ein Interesse, dass weder Metro noch Hochbahn realisiert werden.
Derweil neigte sich der «autofreie Tag» zur Neige. Für viele Menschen war er eine willkommene Verschnaufpause, bevor am nächsten Tag die übliche Verkehrsflut und der infernalische Lärm die Metropole wieder im Griff haben. Dann werden auch die Radfahrerinnen und Radfahrer wieder unterwegs sein, aber nur unter der dauernden Gefahr, angefahren zu werden oder eine Abgasvergiftung zu erleiden. Ein autofreier Tag macht noch keinen Sommer.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Bei Smog und Verkehrsinfarkt sind das sinnvolle Massnahmen.
Allerdings müsste man Alternativen zur Verfügung haben. Dann würde ich auch auf mein Auto an vielen Tagen verzichten können. So st das nur selten möglich.
Ansonsten, wegen CO2, Umwelt und was man gerne anführt, hab ich wenig Verständnis erst den kleinen Bürger zur Kasse zu bitten oder ein zu schränken, wenn es für die richtigen Dreckschleudern wegen zu hoher Investitionen beim alten bleibt.
Ich erinnere mich noch an eine damalige Meldung wo der frühere Ministerpräsident von Niedersachsen (DE), späterer Kanzler Schröder, ein Kohlekraftwerk in Betrieb nahm, und keine Filtertechnik vorhanden war weil die Investition unzumutbar sei. Im Gegenzug war im Gespräch, die Autofahrer zu verpflichten ihre Fahrzeuge für einen knappen Monatslohn mit einem Katalysator nach zu rüsten.
An dieser Politik hat sich bis heute nichts geändert.
Für den kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro ist das im Artikel erwähnte «eigene Projekt einer Hochbahn» eine Metro, welche – ähnlich wie in Paris – mehrheitlich unterirdisch angelegt ist (Kommentar von Petro auf Twitter vom 4. Februar).