«Wir haben nur noch zwischen Untergang und Einigung zu wählen.»
De Gaulle hatte recht. Wie sehr er recht hatte, zeigt sich heute, in trumpschen Zeiten. Charles de Gaulle, französischer General und Präsident von 1959 bis 1969, träumte von einem starken europäischen Europa, das sich von den USA nicht vereinnahmen lässt. Und er träumte nicht nur – er wollte es realisieren, zusammen mit Konrad Adenauer, dem deutschen Bundeskanzler. Die deutsch-französische Versöhnung und Freundschaft, 1962 in der Kathedrale von Reims feierlich zelebriert, galt ihm als Einstieg in diese, seine Realvision, die mit dem politischen Gleichschritt in den deutsch-französischen Beziehungen beginnen und zu einer Union der beiden Staaten führen sollte.
Der Elysée-Vertrag war für de Gaulle die Choreografie für dieses Projekt, der Vertrag sollte die Perspektiven formulieren – Deutschland und Frankreich als Kernzelle des europäischen Projekts, mit einer gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik und unter anderem einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft. Adenauer hatte schon 1955 in einem Regierungsbulletin erklärt: «Die Zeit des Nationalstaats ist vorüber. Wir haben nur noch zwischen Untergang und Einigung zu wählen.»
Aber in Zeiten der Berlinkrise, des Mauerbaus und der sowjetischen Hochrüstung war das De-Gaulle-Projekt der bundesdeutschen Politik zu gewagt. Der Elysée-Vertrag wurde kräftig abgespeckt und auf Drängen der deutschen Transatlantiker wurde eine amerikafreundliche Präambel zum Vertrag geschrieben, in der festgehalten wurde, dass Deutschland auf seiner engen Bindung an die USA beharre. Dass sich Jahrzehnte später die Vereinigten Staaten ihrer engen Bindung an Deutschland entledigen könnten – das war unvorstellbar.
Die Verkümmerung des europäischen Gens
Europa wurde grösser und grösser – aber politisch nicht unbedingt stärker und souveräner. Kanzler Helmut Schmidt und Präsident Valéry Giscard d’Estaing legten die Grundlagen für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Kanzler Helmut Kohl und Präsident François Mitterrand übten kraftvoll den deutsch-französischen Gleichschritt und begründeten im Vertrag von Maastricht die Europäische Union.
Aber dann begann in Deutschland das europäische Gen zu verkümmern: Angela Merkel pflegte es wenig, Olaf Scholz gar nicht. Die EU-Kommission wurde mächtiger denn je, weil von den EU-Mitgliedsstaaten kaum noch politische Initiativen ausgingen. Aber sie war und ist nicht mächtig genug, grosse Strategien für eine eigenständige Rolle Europas in der Weltpolitik zu entwickeln.
Und so kam es, dass Emmanuel Macron im September 2017 in einer grossen Rede vor den Studenten der Pariser Universität Sorbonne einen drastischen Appell formulierte: «Das Europa, das wir kennen, ist zu langsam, zu schwach, zu ineffektiv», sagte der französische Präsident. Und er entwarf Pläne für die «Neugründung eines souveränen, geeinten und demokratischen Europas». Macron sprach unter anderem von einem gemeinsamen Militär, von einer europäischen Armee. In Deutschland wurden solche Ideen herablassend behandelt und als präsidentielle Propaganda abgetan – gerade so, als sei es etwas Schlechtes, leidenschaftlich Propaganda für Europa zu machen.
Die Neugründung Europas muss nun in einer Zeit geschehen, die dafür nicht viel Zeit lässt. Trump hat Europa mit seiner Putin-Scharwenzel-Politik in den Ausnahmezustand gestürzt. Er hat die Ukraine verraten, er hat die Nato infrage gestellt, die so manchen EU-Mitgliedsstaaten sehr viel wichtiger war als die Europäische Union. Er hat in wenigen Wochen das Koordinatensystem einer Politik verbogen, die bisher die «westliche» hiess.
Die Zukunft Europas heisst Europa. Sie zu realisieren wird ungeheuer schwer sein. Aber vielleicht – hoffentlich – ist der Trump-Schock ein heilsamer Schock. Erinnern wir uns an Adenauer: «Wir haben nur noch zwischen Untergang und Einigung zu wählen.» Das ist die dramatische Situation, in der sich die neue Bundesregierung befindet. Hoffen wir, dass sie sich diesem Notstand gewachsen zeigt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Dieser Kommentar des Kolumnisten und Autors Heribert Prantl erschien zuerst als «Prantls Blick» in der Süddeutschen Zeitung.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Größere Einheiten sind grundsätzlich (!) weniger demokratisch als kleinere!
Eine überbordende EU-Bürokratie, die sich sehr oft von den Gegebenheiten vor Ort entfremdet, ist das spürbare Versagen der Machtkonzentration durch die nicht demokratisch legitimierte EU-Kommission. Ein aktuelles Beispiel ist der Digital Services Act (DSA), der die Meinungsfreiheit einschränkt. «Die Artikel 11 der EU-Grundrechtecharta, Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und letztlich auch Artikel 5 des Grundgesetzes sind nur noch Fassade. Dahinter wird die Axt an fundamentale Grundsätze unseres demokratischen Gemeinwesens gelegt. Nach Artikel 34 des DSA haben die Plattformen nicht nur rechtswidrige Einträge zu löschen. Sie sollen bei der Überprüfung der Einträge auf deren Löschungsbedürftigkeit ihr besonderes Augenmerk auf „kritische“ und auf „nachteilige“ Einträge legen.»(Dr. Kölsch).- Ich plädiere also für eine Kooperation der Nat.Staaten innerhalb der EU: nicht für deren Entmündigung!
Hier prantelt es ja wieder ordentlich. De Gaulle hat vor allem auf ein starkes Frankreich gesetzt, das seine eigenen Wege gehen kann und sicher nicht auf ein geeintes Europa. Adenauer seinerseits auf die Westbindung, auch um den Preis einer deutschen Wiedervereinigung, die Stalin damals angeboten hatte, im Tausch gegen Neutralität nach öst. Vorbild. Das prantelsche Europa geht anscheinend nur bis zur russischen Grenze; er vergißt, dass die größten europäischen Millionenstädte Moskau und Petersburg sind. Europa geht bis zum Ural, ohne Frieden und Handelsverträge mit Russland gibt es kein starkes Europa. Wir Deutschen durften kein einziges Mal abstimmen, ob uns die Preisgabe nationaler Souveränität auch passt: weder über NATO-Beitritt, noch über EU-Beitritt, noch über die Wiedervereinigung wurde das Volk befragt. So geht Europa nicht, das vergißt Herr Prantl allzu gern.
Der französische Philosoph Paul Valéry meinte: «Europa ist ein paradoxes System – es hat das Höchstmass an geistiger Einheit verwirklicht – und das Höchstmaß an Zerrissenheit in Hinsicht auf die Willenskräfte.» Richtig erkannt: «Wir haben nur noch zwischen Untergang und Einigung zu wählen» Eine Einigung kann es nur geben, wenn sich Russen, Polen, Ukrainer und die Balten versöhnen, dann kann es auch ein starkes Europa geben ohne Grenzen und die Sprachkonflikte die durch Grenzziehungen entstanden sind wird es nicht mehr geben, weil alle Europäer sind, die sich in einem Europa ohne Grenzen entfalten können. Die innereuropäischen Grenzen sind und waren die Ursachen für die Kriege die Europa schwächten und ständig an den Rand des Abgrundes brachten, so wie der ukrainisch-russische Sprach- und Grenzkonflikt. Man muss das Negative auch Positiv betrachten können: «der Trump-Schock ein heilsamer Schock.» für ein vereintes, tolerantes und starkes Europa.
Gunther Kropp, Basel
Nein, nicht die europäischen Grenzen waren die Hauptursache des Ukraine-Krieges, sondern der Weltbeherrschungswahn der USA, so wie er von Brzezinskij (USA: Die einzige Weltmacht) und GEORGE FRIEDMAN formuliert wurde. Dazu passt: die Einkreisung des Konkurrenten Russland durch die NATO-Osterweiterung mit Raketenstationierungen in Rumänien und Polen – und die Hintertreibung/Ablehnung der USA bzw. ihrer Vasallen der zahlreichen Friedensangebote: Russland sollte militärisch «kleingemacht» bzw. besiegt werden. Diese Strategie wird nun offensichtlich durch Trump gestoppt – und der Frieden ist in Sicht!
Hennadii Yefimenko: «Die Grenzziehung zwischen der Sowjetukraine und Russland: Kriterien, Verlauf, Ergebnisse (1917–1920) – Die aktuelle ukrainisch-russische Landesgrenze wurde in den 1920er Jahren etabliert. Damals war sie eine administrative Grenze zwischen zwei Sowjetrepubliken, die 1991 zu einer Staatsgrenze wurde. Der Stabilisierung der Grenze gingen
verbissene Gebietsstreitigkeiten voraus.»
ARD Tagesschau 20.11.2024 01:49: «Die Spannungen zwischen der Ukraine und Polen werden immer größer. Das zeigt sich in der Politik, aber auch in der Bevölkerung gibt es einen Stimmungswechsel. Was beide Länder zusammenhält ist die Angst vor Russland.»
Welt Ulli Kulke 10.03.2014: «Und plötzlich gehörte die Krim zur Ukraine»
Ostpolen wurde aufgeteilt und ist ukrainisch und belarussisch. Die ukrainischen West-Grenze wurde durch den Hitler-Stalin-Pakt möglich. Nikita Chruschtschow schenkte die Krim der Ukraine. Es wurde wohl erkannt, dass die ukrainischen Grenzen fragil sind….
@ Gunther Kropp Ja, richtig: «Eine Einigung kann es nur geben, wenn sich Russen, Polen, Ukrainer und die Balten versöhnen.» Aber wo kämen wir da hin, wenn man sich mit den Russen versöhnte! Orbàn nicht mehr piesacken könnte, wenn man Franzosen und Spanier ohne Englisch verstünde? Nein! Wir bleiben dabei: Russland ist und bleibt auf ewig unser Feind!! Feindbilder sind so praktisch.
Eine Einigung der Haltung gegenüber Gestalten wie Putin oder Trump wäre dringend nötig. Bloss macht es nicht den Anschein, dass die EU dazu geeignete Instrumente zu bieten hat. EU-Mitglied Ungarn sabotiert, wo es nur kann. Nichtmitgied UK macht in dieser Hinsicht eine viel bessere Figur.
@Daniel Heierli:
>»EU-Mitglied Ungarn sabotiert, wo es nur kann»
IMHO verhindert Ungarn zu Recht Auswüchse der nach unbegrenzter Macht strebenden Zensursula und ihrer Gefolgschaft.
Warum eigentlich muss oder musste der grosse Freund Europas die USA sein, und warum Russland der fast schon ewige Feind? Wahrscheinlich eine mit viel Gehirnwäsche geschaffene Realität. Und warum schafft Europa es nicht, seine Vielfältigkeit halbwegs unter einen Hut zu bringen? Geographisch ist Europa nicht Afrika, nicht Amerika etc. Kulturell ist Europa sehr vielfältig. Wer versteht schon die Sprache seines Nachbarn, von dessen Geschichte ganz zu schweigen? Man zementiert in Europa die Sprach- und Verständnislosigkeit mit Englisch.
Der Feind heisst nicht Russland, der Feind heisst Putin. Die Präsidenten der USA, angefangen mit Reagan, haben unverzeiliche Fehler gemacht als Gorbatschow an der Macht war. Hätten sie die ausgestreckte Hand ergriffen und eine echte Zusammenarbeit ermöglicht so wäre der Kriegsverbrecher Putin nie so mächtig geworden. Aber selbst der bei uns so populäre Obama hat Russland als nicht so bedeutende Regionalmacht angesehen und damit Putin indirekt unterstützt.
Europa liess es sich unter dem atomaren Schutzschirm der USA gutgehen, aber ein aktiver Beitrag zum Weltfrieden wurde nie geleistet. Die Schweiz will nicht Farbe bekennen und versteckt sich mit der billigen (auch finanziell) Ausrede der Neutralität vor der Verantwortung. Wenn wir so weitermachen wie es der SVP vorschwebt wird das böse enden.
Unter der derzeitigen Europäischen Führung wird es höchstens einen Ausverkauf Europas an reiche Amerikaner geben. Als ITler ist mir bewusst, dass grosse starre Gebilde nichts gutes hervorbringen. Lieber dezentrale intelligente Lösungen. So sehe ich das auch mit Staatengebilden. Schon Rom ist an seiner Verwaltung erstickt wieso sollten wir den gleichen Fehler wieder machen?
Trump soll die Ukraine verraten haben?
Diesbezüglich bin ich anderer Meinung. Das war nicht Trump alleine, das waren alle welche die Ukraine als Spielball gegen Russland missbraucht haben, von Clinton bis Trump, ohne Ausnahme, Das war die EU, die den gleichen Nationalismus und Größenwahn zelebriert, wie seine Nationalstaaten, nur auf eine höhere Ebene verlagert. Es waren ukrainische Ultra-Nationalisten und Eliten, die gemeint haben, dass Russland in Europa nichts verloren und auch nichts zu sagen hat, die mit ihrem Beitrittswunsch zur NATO und der Absicht, die Krim zurückzuerobern, genauso großmannssüchtig wie Russland sind.
Danke Herr Pongratz. Thumbs up gibt es hier leider nicht mehr, ich teile Ihre Einschätzung.
Wenn im Titel von der Wahl zwischen Untergang und Einigung die Rede ist, muss auch gesagt werden, dass ein Untergang nur stattfindet, wenn die EU diesen Untergang mit ihrem «Sondervermögen» von 800’000’000’000 Euro durch Waffenkäufe und einen militärisch orientierten Infrastruktur-Ausbau selber heraufbeschwört. Wenn die führenden EU-Leute gegen den Rat der Banken dieses Geld drucken, wird der Euro spätestens nach dem verlorenen Krieg verschwinden und Europa aussehen wie heute die Ukraine. Putin und Trump werden aber vorher die Wahl zwischen Einigung und Verarmung durchsetzen. Sie wollen schliesslich im Frieden Geschäfte machen. Die Verarmung ist bereits im Gang …