Kommentar

Wie die CDU die AfD als Demokratiefeind darstellt

Werner Vontobel © zvg

Werner Vontobel /  Wie zu erwarten war, wird der Thüringer Landtag von einem CDU-Vertreter präsidiert. Doch wie es dazu kam, ist hochinteressant.

Am 1. September wurde in Thüringen gewählt. Klare Siegerin wurde die AfD mit 32 von 88 Abgeordneten – vor der CDU mit deren 23. Am 26. September trat der neu gewählte Landtag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Diese leitet der älteste Abgeordnete.

Der Zufall wollte es, dass dies der AfD-Abgeordnete Jürgen Treutler war. Er hielt sich strikt an die Geschäftsordnung (GO) vom 24. Mai 2024. Diese legt genau fest, in welcher Reihenfolge vorzugehen ist.

Unmittelbar nach der Feststellung der Beschlussfähigkeit wählt der Landtag seinen Präsidenten. Die stärkste Fraktion hat das Vorschlagsrecht. «Erhält dieser keine Mehrheit der abgegebenen Stimmen, können weitere Kandidaten vorgeschlagen werden.» Soweit die Geschäftsordnung.

Im Widerspruch zur Geschäftsordnung

Die Einladung der bisherigen Präsidentin, Birgit Pommer (CDU), stand im Widerspruch zur GO. Ihr lag eine Traktandenliste bei, die vorsah, dass noch vor der Wahl des neuen Präsidenten über einen Antrag der CDU betreffend Abänderung der Geschäftsordnung abgestimmt werden sollte.

Dazu ist zu sagen, dass die Traktandenliste laut GO nicht von der Präsidentin und schon gar nicht von der Ex-Präsidentin festgelegt wird, sondern vom Ältestenrat. Damit war die Zwietracht schon gesät.

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Mit erhobenen Armen und ständigen Zwischenrufen machte sich Andreas Bühl (CDU) bemerkbar.
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Immer wieder musste Sitzungsleiter Jürgen Treutler von der AfD den CDU-Abgeordneten Andreas Bühl zur Ordnung rufen.
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Endlose Diskussionen im Thüringer Landtag. Fast fünf Stunden dauerte die Debatte darüber, wer Präsident des Landtags werden solle.

Fast fünf Stunden

Der Antrag der CDU sah insbesondere vor, dass alle Fraktionen, nicht nur die stärkste, einen Präsidenten oder eine Präsidentin vorschlagen dürfen.

In der Folge entspann sich eine tumultuöse Debatte, bei der Treutler an der Traktandenliste gemäss der noch gültigen GO festhielt, während Andreas Bühl, der parlamentarische Geschäftsführer der CDU, immer wieder lauthals und ultimativ («Sie haben jetzt abzustimmen!!!») anmahnte, Treutler solle endlich die Beschlussfähigkeit des Landtags feststellen, worauf man dann den Antrag der CDU zur Änderung der GO diskutieren und verabschieden könne.

Dazu ist dreierlei anzumerken:

  • Erstens war der Antrag der CDU an das Verfassungsgericht schon vom Vortag datiert. Offenbar hatte die CDU ihren Coup sorgfältig geplant.
  • Zweitens: Noch im Mai hatte die CDU die gleiche – damals von den Grünen vorgeschlagene – Änderung der GO abgelehnt. Damals war man noch davon ausgegangen, dass die CDU die stärkste Fraktion bliebe.
  • Drittens: Der Präsident und die weiteren Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs werden vom Thüringer Landtag «mit einer Mehrheit von zwei Dritteln (….) gewählt». Die Antragsteller konnten also davon ausgehen, dass das Gericht in ihrem Sinne entscheiden würde.

Was prompt geschah.

Nach fast fünf Stunden einigte man sich auf den Antrag der CDU und des «Bündnis Sahra Wagenknecht» (BSW), wonach das Thüringer Verfassungsgericht entscheiden solle, wie der Landtag vorzugehen habe.

Die Verfassungsrichter argumentierten, dass das verfassungsmässige Recht des Landrats, sich selber zu organisieren, über der Geschäftsordnung stehe. Diese gebe bloss unverbindliche Anregungen, wie sich das Parlament organisieren könne. Die GO könne vom Landtag jederzeit geändert werden.

Somit habe Treutler mit seiner Weigerung, noch vor der Wahl des Präsidiums über die Änderung der Geschäftsordnung diskutieren zu lassen, gegen die Verfassung verstossen und den Willen des Parlaments missachtet.

Die CDU brachte den Präsidenten durch

Am Tag danach akzeptierte die AfD beziehungsweise Treutler den Richterspruch ohne weitere Diskussion und folgte brav der von der Ratsmehrheit neu verabschiedeten Traktandenliste. Mit der Folge, dass die GO so geändert wurde, dass der Kandidat der CDU im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt wurde.

Im Nachhinein kann man der AfD Sturheit vorwerfen, denn es muss ihr bewusst gewesen sein, dass sie die Wahl der CDU-Kandidaten sowieso nicht würde verhindern können.

Sturheit auf beiden Seiten

Ähnliches gilt aber auch für die CDU und ihre Mitstreiter. Sie wussten, dass sie ihren Kandidaten ohnehin durchbringen würden. Mit der Vorverlegung der Änderung der GO haben sie aber erreicht, dass die AfD nicht einmal im Präsidium vertreten ist. Zudem wurde die GO dahingehend geändert, dass die parlamentarischen Ausschüsse nur noch 12 statt 14 Mitglieder haben, womit die AfD ihre Sperrminorität verloren hat.

Ein Sturm im Wasserglas?

Also alles nur ein Sturm im Wasserglas? Nicht unbedingt. Die CDU und die anderen Parteien stützen ihren Abwehrkampf gegen die AfD auf die Überzeugung oder Befürchtung, dass – wie es etwa auch die Süddeutsche Zeitung schreibt – «die Rechtsextremisten den Staat zu zersetzen» versuchen. Sie haben deshalb ein Interesse daran, diese Befürchtung auch bei den Wählern zu verankern. Dazu setzen die CDU-Strategen weniger auf differenzierte Argumente als auf die Macht der bewegten Bilder, die sie mit ihrer Taktik provozieren.

Es ist Wasser auf ihre Mühlen, wenn auf allen Kanälen immer wieder Szenen gezeigt werden, in denen Treutler den gewählten Volksvertretern das Wort abschneidet, ihre Mikrofone abstellt und über Anträge nicht abstimmen lässt. Auf die Idee, dass Treutler dafür nachvollziehbare Gründe gehabt haben könnte und dass es dabei nur um Prozeduren und nicht um inhaltliche Fragen ging, konnte man beim blossen Betrachten der Bilder nicht kommen. Dazu waren die juristischen Hintergründe wohl zu komplex. Man sah nur, was man sehen sollte: dass die AfD angeblich die Demokratie behindert.

Die Rechnung ist aufgegangen

Dass diese Rechnung aufgegangen ist, zeigt auch ein Interview mit dem CDU-Mann Bühl im Magazin «Focus» unter dem suggestiven Titel «Jetzt spricht der CDU-Mann, der dem AfD-Chaos in Thüringen Paroli geboten hat». Dieses «AfD-Chaos», so Bühl, habe allen deutlich gemacht, dass es darum geht, die Institutionen zu schützen. Durch die Sitzung sei «Schaden für Thüringen entstanden». Das gemeinsame Vorgehen der Parteien habe aber gezeigt, «dass wir zusammenstehen können, wenn es gilt, die Demokratie zu schützen».

Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass diese Taktik bei den noch neutralen Beobachtern kontraproduktiv wirkt. Nicht alle Demokraten werden es goutieren, dass die Mehrheit des Thüringer Landtags die Geschäftsordnung kurzerhand so geändert hat, dass die mit Abstand stärkste Fraktion im Thüringer Landtag nicht befugt ist, bei der Organisation der parlamentarischen Arbeit mitzureden und weitgehend entmachtet wird.

Missachtung des Wählerwillens

Viele parteipolitisch nicht gebundene Beobachter fanden es auch masslos übertrieben, dass Bühl (CDU) der AfD und Treutler unterstellte, sie strebten – wie damals Hitler – eine «Machtergreifung» an. Nüchtern betrachtet laufen die Vorgänge im Landtag eher auf eine Entmachtung der AfD und auf eine Missachtung des Wählerwillens hinaus.

Im Gegensatz zu Hitlers NSDAP verfügt die AfD über keine eigene Kampftruppe, und sie hat keine politischen Gegner ins Gefängnis gesteckt. Sie wehrt sich bloss im Rahmen des geltenden Rechts und will jetzt vom Thüringer Verfassungsgericht klären lassen, ob ihr die neue Geschäftsordnung die Sperrminorität in den Ausschüssen zu recht verwehrt.

Demnächst wird im Thüringer Landtag der neue Ministerpräsident gewählt. Schon jetzt steht praktisch fest, dass es der CDU-Landesvorsitzende Mario Voigt sein wird. Und wie schon 2019 nach der Wahl von Bodo Ramelow (Die Linke) wird sich der AfD-Fraktionsvorsitzende Björn Höcke nach vorne begeben, um dem neu Gewählten zu gratulieren. Damals schlug Bodo Ramelow den Handschlag demonstrativ aus. Wie wird wohl Mario Voigt reagieren?


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor war vom 1976 bis 1982 Bonner Korrespondent des Tages-Anzeigers und verfolgt seither Deutschlands Politik aufmerksam.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Weiterführende Informationen

  • Video der im Artikel beschriebenen Sitzung des Thüringer Landtags vom 26.9.2024: bitte hier klicken. Die Passagen, bei denen es zu den grössten Auseinandersetzungen und Tumulten kam, sind anhand der wellenartigen Ausschläge in der Zeitleiste unten leicht zu finden (mit der Computer-Maus die Zeitleiste ansteuern).
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5 Meinungen

  • am 5.10.2024 um 10:41 Uhr
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    Geschäftsführende Ministerpräsidentin Birgit Diezel (CDU) 2009: «Es gibt parlamentarische Gepflogenheiten, die sich über die vielen Jahre hinweg auch bewährt haben, immer die stärkste Fraktion stellt den Ministerpräsidenten, und es gibt solche Gepflogenheiten, an die man sich halten wird.» Quelle: Deutschlandfunk

    Mike Mohring, Fraktionsvorsitzender CDU, 2018: «Ein ungewöhnlicher Vorgang, der gegen alle parlamentarischen Gepflogenheiten verstößt» nach der gescheiterten Wahl des Landtagsabgeordneten Michael Heym (CDU) zum Präsidenten des Thüringer Landtags. Weiter: «Das Vorschlagsrecht für den Präsidenten des Thüringer Landtags liegt bei der stärksten Landtagsfraktion. Gemeinhin akzeptierter Brauch in allen Parlamenten ist, dass der vorgeschlagene Kandidat auch gewählt wird.» Quelle: cdu-landtag.de

    Wenn die Deutsche Demokratie in Thüringen keine Beteiligung der AfD an der Regierung aushält, dann waren die letzten fast 80 Jahre nur eine Demokratie-Simulation.

  • am 5.10.2024 um 12:17 Uhr
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    Die Chronologie ist für die Einordnung wichtig. Doch ob die Annahme stimmen, dass die AfD keine Parteitruppen hat ist abwegig. Sie haben aus der Geschichte gelernt, nicht zu früh aus der Deckung zu kommen, so lange das Damokles-Schwert des Verbotes droht. Missachtung des Wählerwillens in der repräsentativen Demokratie, bedeutet nicht, die stärkste Einzel-Gruppe gewinnt. NEIN die Mehrheit der Gewählten ist entscheidend. Deshalb ist es so wichtig, die Aussagen vor der Wahl als Wunschvorstellung zu erkennen. Solange die Wahlbürger mit dem Versenken ihrer Stimme in der Urne zufrieden sind und sich nicht weiter aktiv kümmern, werden wir amerikanischen Verhältnissen erreichen. Wir brauchen Volksabstimmungen auf allen Ebenen und keine handverlesenen Bürgerräte als Alibiveranstaltungen.

  • am 5.10.2024 um 15:52 Uhr
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    Dieser Artikel bestätigt einmal mehr , dass es in Deutschland keine Demokratie mehr gibt , da der Wille des Wählers durch Politiker ignoriert wird. In meinen Augen wäre diese Regierungsform als «Demokratur» zu bezeichnen. Diese Entwicklung in Deutschland , dass Wählerwille bzw. der Wille des deutschen Volkes ignoriert wird und eine ignorante Politikerklasse macht was ihnen so in den Kram passt ,seit der Ära Merkel und das ruiniert Deutschland . Im Grunde muss man in Deutschland nicht mehr wählen gehen , denn es ändert sich nichts . Es wäre interessant , wenn wirklich kein Mensch in Deutschland mehr wählen gehen würde , was dann passiert.
    Die gleiche undemokratische Entwicklung zeigt sich in Brüssel im Bezug auf die EU , die die einzelnen Mitgliedstaaten gängelt.Es wird von oben herab regiert und nicht umgekehrt.
    Es bleibt nur zu hoffen , dass das Schweizer Volk sich von EU freundlichen Schweizer Politikern nicht blenden lässt und niemals zustimmt sich der EU zu stark anzunähern.

  • am 5.10.2024 um 21:56 Uhr
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    Versteht man in manchen Ländern Demokratie als Missachtung des Wählerwillens?
    Und offenbar lässt sich mancherorts oder sogar allerorts das ‚Recht‘ nach Belieben auf alle Seiten beugen, oft im Sinne des Rechts des Stärkeren, genauso wie die ‚Demokratie‘.
    Jedenfalls ist das m.E. die Schlussfolgerung dieser deutschen Landtagswahl.

  • am 6.10.2024 um 07:53 Uhr
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    Ich habe mir den gesamten Konstitutionsverlauf angesehen (Direktübertragung des MDR). Man kann das Problem kurz und bündig zusammenfassen :
    Treutler wollte gemäß der von Expräsidentin «überlieferten» Geschäftsordnung verfahren – was so bisher üblich war. Das hätte der AfD den Landtagspräsidenten gebracht.
    Die CDU wollte das unbedingt verhindern und benutzte dafür das Argument des Selbstorganisationsrechtes jedes neuen Landtages. Sie berief sich dabei auf die Verfassung.
    Es war von Anfang an klar, daß sie dabei die besseren Karten hatte – weil jedermann klar ist, daß die Verfassung den höheren Rang hat. Sie mußte also dem (temporären) Alterspräsidenten Treutler so lange Knüppel zwischen die Beine werfen bis dem der Atem ausging – was allerdings lange gedauert hat – und eben das Verfassungsgericht angerufen wurde. Ich würde keine Seite diskreditieren : beide haben ihre Möglichkeiten ausgeschöpft. Ökonomisch-elegant war es nicht.

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