Kommentar
Wer nicht zahlt, darf nicht zum Arzt: Armut wird bestraft
Covid-19, Öffentlicher Verkehr, Budget 2022, Massentierhaltung: Das sind einige der Themen, die National- und Ständerat derzeit verhandeln. Weil die Treffen der Räte in Sessionen gebündelt werden, hat das zur Folge, dass viele wichtige politische Entscheide innerhalb von wenigen Tagen gefällt werden. Die Medien kommen vor lauter Schlagzeilen kaum nach.
Die Kehrseite dieser medialen Rush hour: Nischenthemen werden von der Öffentlichkeit kaum beachtet. Dies droht zum Beispiel der Vorlage mit der Nummer 16.312, die kommende Woche (16.12.) auf der Agenda des Nationalrats steht. Ihr Titel dürfte für Medienleute zunächst wenig attraktiv klingen: «Ergänzung von Artikel 64a des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung betreffend Vollstreckung der Prämienzahlungspflicht der Versicherten.»
Dabei sagt die Vorlage viel aus über die Machtverhältnisse in der Schweiz. Sie regelt, was passiert, wenn Menschen ihre Krankenkassenprämien nicht bezahlen (können). Während Krankenversicherungen durch gesetzliche Privilegien praktisch immer zu ihrem Geld kommen, geraten am anderen Ende Menschen in die Schuldenfalle.
So räumt besagter Artikel 64a des Krankenversicherungsgesetzes den Kantonen unter anderem die Möglichkeit ein, sogenannte «schwarze Listen» zu führen. Darauf landet, wer wiederholt und trotz Betreibung seine Prämienrechnung nicht bezahlt. Die Krankenkassen können Personen auf der Liste medizinische Leistungen verweigern. Verpflichtet ist die Versicherung nur noch, die Kosten bei Notfällen zu übernehmen. Wobei die Definition von Notfall immer auch Ermessenssache ist, wie das tragische Beispiel eines 50-jährigen HIV-positiven Patienten aus Graubünden zeigt, der 2017 starb, nachdem er seine Prämien nicht bezahlt hatte und nicht zweckmässig behandelt wurde.
Bundesrat: «Untauglich»
Derzeit führen sechs Kantone solche schwarzen Listen. Rund 33’000 Namen stehen insgesamt darauf, Tendenz steigend. Die Listen haben zum Zweck, Druck auf die Schuldner auszuüben, damit diese ihre Prämien doch noch bezahlen. Die Methode geht also grundsätzlich davon aus, dass Personen auf der Liste Geld haben, ihre Rechnungen aber trotzdem nicht bezahlen.
Vieles deutet jedoch darauf hin, dass viele dieser Menschen ihre Schulden gerne loswerden würden, ihnen dafür aber schlicht das Geld fehlt. Dass sie also die Prämien nicht bezahlen können, und nicht etwa, dass sie nicht bezahlen wollen. Nur so lässt sich erklären, warum die Listen nicht wirken wie beabsichtigt. Zu diesem Schluss kam sowohl das Bundesamt für Gesundheit im Auftrag der Nationalratskommission, als auch eine Studie im Auftrag des Kantons Zürich. Die Zahlungsmoral in Kantonen mit einer Liste ist nicht besser als in solchen ohne. Darum bilanzierte auch der Bundesrat, dass die Listen «zur Verbesserung der Zahlungsmoral untauglich» seien.
Es bleiben die Folgen für jene, die auf der Liste stehen. Sie müssen beim Arztbesuch oder in der Apotheke das Portemonnaie zücken. Jedoch werden sich dies nur die wenigsten leisten können. Denn: Wer Schulden hat, ist in der Regel arm. Und wer arm ist, hat Schulden. Dieser Zusammenhang ist wissenschaftlich belegt. Das bedeutet, dass viele Armutsbetroffene häufiger nicht zum Arzt gehen. Für die Ethikkommission der Schweizer Akademie der Wissenschaften (SAMW) ist dies «mit den ethischen Prinzipien der Fürsorge und Gerechtigkeit nicht vereinbar». Und der Bundesrat argumentierte, dass «die Verweigerung von medizinischen Leistungen schwerwiegende langfristige Folgen für die Gesundheit haben» könne. Die medizinische Grundversorgung von wirtschaftlich und sozial schwachen Bevölkerungsgruppen sei gefährdet.
Zusammengefasst: Die schwarzen Listen führen nachweislich nicht dazu, dass merklich mehr Prämien bezahlt werden. Dafür werden Armutsbetroffene bestraft, indem man ihnen medizinische Leistungen kürzt.
Thurgau: «Erfolg in sozialer Hinsicht enorm»
In der Debatte des Ständerats vom letzten Sommer wurden alternative Interpretationen präsentiert. Die anderen würden die Listen eben nicht richtig anwenden, argumentierte der Thurgauer SVP-Ständerat Jakob Stark. Aus «eigener Anschauung» und «bestätigt durch das Amt für Gesundheit in Frauenfeld» wisse er, dass etwa die Hälfte der Schuldner bezahlen könnte, wenn sie denn wollte. Ausserdem würden die Listen dabei helfen, dass man die Leute «an den Tisch bekommt und ihnen sagt, dass sie mit uns reden und ihr Budget in Ordnung bringen müssen, wenn sie wieder alle Leistungen beziehen wollen.» Der Erfolg dieses Case Managements sei «vor allem in sozialer Hinsicht enorm.»
Die Mehrheit des Ständerats überzeugte diese Argumentation aus dem Thurgau so sehr, dass sie den vom Bundesrat präsentierten Fakten misstraute und die ethischen Bedenken zur Seite schob. Per Stichentscheid beschloss die kleine Kammer im Sommer, die Listen weiterhin zuzulassen. Und nun empfiehlt auch die zuständige Gesundheitskommission des Nationalrats – nicht weniger knapp (13:12 Stimmen) – die Listen beizubehalten. Die abschliessende Verhandlung im gesamten Nationalrat findet voraussichtlich am 16. Dezember statt. Es ist die letzte Möglichkeit, die schwarzen Listen doch noch aus dem Gesetz zu kippen. Und damit zu verhindern, dass Armut weiterhin bestraft werden kann.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Titel und Inhalt sind etwas gar überzeichnet und blenden Vieles aus, z.B. dass die Krankenkassenprämien bei Armut vom Sozialamt bezahlt werden (SKOS-Richtlinien 2021).
Auch wenn aus dem Artikel die Position des Autors klar ersichtlich wird, ist es m.E. nicht korrekt, dass Andres Eberhard, der gemäss seiner eigenen Homepage als Autor bei «Surprise» arbeitet, diese Interessenbindung nicht offen gelegt hat.
Guten Tag Herr Schütz, das Surprise Magazin ist eine unabhängige journalistische Publikation. Ich arbeite da als Journalist, genauso wie für Infosperber. Es gibt hier also keine Interessensbindung, die offen gelegt werden sollte. Was Sie zur Sozialhilfe sagen stimmt, allerdings geht es hier gar nicht darum, sondern alleine um die schwarzen Listen (nur am Rande: es gibt übrigens auch working poor und weitere Armutsbetroffene, die keine Sozialhilfe beziehen). Freundliche Grüsse!
JA zu schwarzen Listen für Krankenkassenprämien-Zahlungsverweiger:innen
Versicherte, welche ihre Krankenkassenprämien bezahlen könnten, es aber nicht tun, gehören auf solche schwarze Listen. Jene, die es aus finanziellen Gründen nicht können, selbstverständlich nicht!
Was glaubst du Alex Schneider? Dass es Leute gibt die nicht zahlen weil ihnen nicht danach ist? Hier greifen die gleichen Mechanismen wie bei anderen nicht bezahlten Rechnungen auch! Erste Mahnung, zweite Mahnung, Betreibung, evtl. Pfändung!
Das tut sich vermutlich nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung freiwillig an. Abgesehen davon dass das Führen solcher Listen auch ein Kostenfaktor ist und sich vielleicht gar nicht rentiert.
Guten Tag Herr Eberhard und danke für Ihre Replik.
Vorneweg: Ich bin wie Sie der Meinung, dass Armut nicht bestraft werden soll.
Sie schreiben in Ihrem Artikel, dass auf den schwarzen Listen «landet, wer wiederholt und trotz Betreibung seine Prämienrechnung nicht bezahlt.» Da frage ich mich: Wenn jemand arm ist, bezahlt ihm ja die Sozialhilfe die Krankenkassenprämie, in solchen Fällen sollte es – wenn das Sozialamt seinen Job richtig macht und die Betroffenen nicht einen Bogen um das Amt machen – gar nie zu einer Betreibung kommen. Auf diesen schwarzen Listen landen demnach nur «Nicht-Arme», die ihr Geld lieber anders verprassen, als die Krankenkassenprämien zu zahlen. Zufällig kenne ich leider zwei solche Fälle. Dass der Staat solch unsolidarisches Verhalten sanktioniert, finde ich eben richtig. Und dass arme Menschen sich an die Sozialdienste wenden, damit sie nicht auf die Gesundheitsversorgung verzichten müssen, ist auch richtig und darf von diesen erwartet werden.
Herr Schütz
Ihnen ist vielleicht entgangen, dass ehe man Sozialhilfe erhält sich bis auf die «Unterhosen», sprich Fr.4000-. ausziehen muss. Es braucht nur ein unvorhergesehenes Ereignis und Betroffene sind am Anschlag. Und manche Sozialämter versuchen ihre «Klienten» auch an die IV loszuwerden um nicht zahlen zu müssen.
Dazu kommt das Problem mit den Prämienverbilligungen die je nach Kanton völlig unterschiedlich sind. Mehrere Kantone setzten genau dort den Rotstift an.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/immer-weniger-personen-erhalten-praemienverbilligungen-jetzt-will-die-stgaller-regierung-handeln-ld.1092163
Wenn der Staat vorschreibt, dass man sich gegen Krankheit versichern muss dann muss er auch dafür sorgen, dass die Prämien sich alle leisten können.