Zum Zusammenbruch des chinesischen Grossreiches
Das literarische Universum Chinas ist im Westen seit der Verleihung des Literatur-Nobelpreises und des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels etwas bekannter als zuvor. Leider wurden die Preisträger Mo Yan und Liao Yiwu vor allem von politischen Kommentatoren, aber auch in Feuilletons, gegeneinander ausgespielt. Hier der «Staats-Schriftsteller», dort der mutige, Freiheit fordernde Dissident. Die Wirklichkeit ist differenzierter.
Es gibt keine Schwarz-Weiss-Wahrheit
Guan Moye, als viel übersetzter chinesischer Schriftsteller auch im Westen und vorab in Deutschland unter dem Namen Mo Yan (frei übersetzt: rede nicht ) bekannt, schreibt seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Sein Renomée im Westen gründet auf seinem 1985 entstandenen Werk «Roter Sorghum». Regisseur Zhang Yimou machte daraus einen im Westen preisgekrönten, berührenden Film. Andere Werke Mos aus jener Zeit wie etwa «Knoblauch Balladen» (1988) oder «Die Wein-Republik» (1992) waren zeitweise verboten. Trotzdem wurde Mo in den westlichen Analysen sofort in die Schublade eines «Staatsschriftstellers» gesteckt. Schliesslich ist Mo einer der Stellvertretenden Vorsitzenden des Chinesischen Schriftstellerverbandes. Zudem wurde er von Li Changchun, Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros und zuständig für Parteipropaganda, nach Verleihung des Nobelpreises über allen Klee gelobt.
Doch Mo ist nicht parteihörig. Er ist ein typischer Vertreter der Generation der Nach-Maozeit. Ideologisch war das für Schriftsteller eine befreiende Zeit. In vielen Schattierungen erschrieben sie sich ein weites Feld. Es gibt deshalb nicht nur Schwarz und Weiss, sondern eine facettenreiche Abstufung sowohl politisch wie literarisch.
Gefragt ist Unterhaltung
Mo und die Generation danach agieren in einem immer freieren Umfeld. Nicht nur übereifrige Propagandakader stehen manchmal im Wege zu literarischem Ruhm, sondern auch die «chinesische Marktwirtschaft chinesicher Prägung» mit seinem gnadenlosen kommerziellen Wettbewerb und das Internet mit den seichten literarischen Genres. Unterhaltung jeglicher Stilrichtung ist gefragt.
Mo Yan schreibt wie viele Schriftsteller seine Werke noch von Hand. «Die Inspiration», sagt er, «stellt sich ein mit dem Gebrauch von Feder und Papier». Doch literarische Tradition geht über den Gebrauch der Handschrift hinaus. Substanz und Stil von Mo misst sich an Lu Xun, dem berühmten Schriftsteller und Kritiker der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts. Lu Xun war ein Erneuerer der Sprache und sozial engagiert, ohne parteilich zu sein. Mos Beschreibung seiner bäuerlichen Heimat ist inhaltlich kritisch und stilistisch brillant. Mo bewegt sich wie viele Schriftsteller innerhalb des Systems, freilich ohne unkritisch zu werden. Im Gegenteil.
Ungerechtfertigt unterschiedliche Beurteilung
Nun wird die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Mo Yan vor allem von chinesischen Dissidenten im Ausland verurteilt. Zwar hat sich der chinesische Literatur-Nobelpreisträger mit französischer Staatsbürgerschaft vom Jahre 2000, Gao Xingjian, noch nicht öffentlich zu Worte gemeldet. Ebenso wenig der chinesische Friedensnobelpreisträger von 2010, Liu Xiaobo, ganz einfach weil er in einem chinesischen Gefängnis sitzt. Dass sich der «Staatsschriftsteller» Mo Yan für Liu Xiaobo jetzt einsetzt, das war in westlichen Medien interessanterweise kaum zu lesen. Dafür erhielt Liao Yiwu, mit dem prestigeträchtigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, eine umso grössere Bühne im Westen. Über Schriftstellerkollege Mo Yans Auszeichnung gab er dem deutschen «Spiegel», unkritisches Zentralorgan der chinesischen Dissidenten, zu Protokoll: «Ich bin fassungslos».
Auch Liao Yiwu ist ein grosser Schriftsteller. Er begann in jenen für die neue Literatur so wichtigen 80er Jahren als avangardistischer Poet. Sein vertontes Gedicht «Massaker» wurde bei den Studentenprotesten auf dem Tianmen-Platz und den Arbeiterdemos in Peking 1989 legendär. Unter dem Eindruck jener Ereignisse wandelte er sich zum dokumentarischen Romancier. «Die Kugel und das Opium – Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens» ist ein Meisterwerk (auf deutsch übersetzt im S.Fischer Verlag, 2012). Liao wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt und danach immer wieder von den Sicherheitsbehörden chikaniert. Einige seiner Manuskripte, mehrere zehntausend Schriftzeichen lang, wurden beschlagnahmt. Seit einem Jahr lebt Liao in Deutschland.
Im gleichen Spektrum an den Extremen
Mo Yan und Liao Yiwu decken somit das gesamte Spektrum der neueren Literatur der Nach-Mao-Ära ab. Doch Liao wurde, wohl aufgrund seiner persönlichen Leidensgeschichte, zum Dissidenten. Bei seiner Rede in Frankfurt in Anwesenheit des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck huldigte er einer Theorie, die seit Beginn der chinesischen Reformjahre im Westen immer wieder Anhänger fand und findet: der Zusammenbruch Chinas. Liao Yiwu verkündete ihn in seiner auf Chinesisch gehaltenen Rede als «Nachricht vom Tode des chinesischen Grossreiches». Er attackierte westliche Unternehmen mit den Worten: «Unter dem Deckmantel des freien Handels machen westliche Konsortien mit den Henkern gemeinsame Sache und häufen Dreck an». Dann setzte er noch eins obendrauf: «China, das inhumane Reich mit den blutigen Händen», «China, die Quelle der globalen Desaster» und «China, der immer grösser werdende Müllhaufen – «dieses Reich muss auseinanderbrechen». Das Frankfurter Publikum bei der Preisverleihung applaudierte.
Warum die seit Jahren immer wieder auftauchende Zusammenbruchstheorie im Westen so populär ist, ist schwierig zu erklären. Diese Theorie wird nicht nur von chinesischen Dissidenten, sondern auch von China-Experten jeder Couleur vertreten. Schon 1989 nach dem Tiananmen-Zwichenfall prognostizierten sie den nahen Untergang des chinesischen Reiches. Der amerikanische Philosoph und Historiker Francis Fukuyama («Das Ende der Geschichte») liess sich noch Anfang Oktober mit den Worten zitieren: «Chinas System wird eines Tages explodieren». Doch China wächst seit drei Jahrzehnten und veränderte mithin die soziale und politische Landschaft. Noch nie in ihrer langen Geschichte ging es den Chinesinnen und Chinesen aber so gut wie gerade jetzt.
Widersprüche gehören dazu
Das heisst nicht, dass im Reich der Mitte nichts zu kritisieren wäre. Im Gegenteil. Auf dem Internet etwa äussert sich zum Leidwesen der noch immer allmächtigen Kommunistischen Partei der Unmut gegen Ungerechtigkeit und insbesondere Korruption bis ganz oben in der Partei in ätzend scharf geschriebenen Mini-Blogs, etwa auf Sina-Weibo. In einem Kommentar schrieb ex cathedra selbstbewusst die «Global Times», ein Ableger des Sprachrohrs der Partei «Renmin Ribao» (Volkszeitung): «China ist nicht nur eine Grossmacht, sondern auch eine Nation in einer aktiven Periode der Widersprüche, verursacht durch soziale Veränderungen». Noch mehr Reformen seien in China nötig, genausogut wie in andern westlichen Ländern, um soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Allerdings gibt es ein Tabu. «Den Kaiser zu beleidigen», d.h. Führer der Partei anzugreifen hat schwerwiegende, unabsehbare Folgen.
Die Schriftsteller Mo Yan und Liao Yiwu, beide mit ausserordentlichem literarischem Talent gesegnet, bilden die polaren Gegensätze der chinesischen Literatur-Szene ab. Auch in der bildenden Kunst ist Ähnliches zu beobachten. Auf der einen Seite der geniale Künstler und Architekt Ai Weiwei, nie um ein offenes, regimekritisches Wort verlegen, und auf der andern Seite der Maler und Bildhauer Zhu Wei, der sagt: «Ich spreche nicht, ich lasse meine Werke für mich sprechen».
Dissidenten sind in China kein Thema
Im Ausland müsste man sich hingegen zweierlei merken. Dissidenten sind bei Laobaixing, dem Durchschnittschinesen, kaum bekannt. Und: das offizielle China lässt sich nicht unter Druck setzen. Auch nicht von den Frankfurter Tiraden von Liao Yiwu.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine