Zerissenheit und Misstrauen in Nepal
Die maoistische Rebellion und der Bürgerkrieg in Nepal zwischen 1995 und 2006 mit über 16‘000 Toten fanden in den internationalen Medien grossen Widerhall. Der darauf folgende brüchige Friede mit dem Übergang von der absoluten Monarchie zur republikanischen Demokratie bewirkte dagegen weniger Aufmerksamkeit. Jetzt steht die Nation am Fusse des Himalaya erneut vor einer wichtigen Entscheidung.
Obwohl Nepal seit Jahrzehnten mit Alpwirtschaft und Käsereien ein Lieblings- und Vorzeigeprojekt Schweizerischer Entwicklungshilfe ist, gelangt Nepal nur sehr selten in die Spalten helvetischer Gazetten, und es erregt selten das Interesse der Fernseh- und Radiomacher. Der Gletscherschwund auch am Himalaya, treckende Touristen en Masse und Tausende von Ehrgeiz zerfressene Profi- und Amateurbergsteiger an den gewaltigen Achttausendern geben natürlich die viel bessere Story her. Die Ränke, Intrigen, aber auch die Erfolge der jungen, noch ziemlich verletzlichen Demokratie im Schatten des Mount Everst liefern dagegen weniger süffigen Medien-Stoff. Zugegeben, die Lage ist extrem komplex. Und doch, am 19. November wählen Nepalesinnen und Nepalesen eine neue, bereits die zweite Verfassungsgebende Versammlung. Falls erfolgreich, wird das ein tiefer Einschnitt in der nepalesischen Geschichte sein – mit der noch entfernten Aussicht auf nationale Versöhnung und Frieden.
Rebellion der Maoisten
Das Königreich, das im Jahre 2006 von einer Volksrebellion in Schutt und Asche gelegt worden ist, war 1768 vom berühmten Gurka-König Prithvi Narayan Shah mit der Eroberung von Kathmandu gegründet worden. Das Reich überdauerte verschiedene Phasen bis zur letzten absolutistischen Monarchie. König Birendra, seine Frau Aishwarya und weitere Familienmiglieder wurden 2001 vom Kronprinzen Dipendra im Palast von Kathamdu ermordet. Dipendra nahm sich das Leben. Zum letzten König einer 239 Jahre lang regierenden Dynastie wurde Prinz Gyanendra gekrönt. Bereits 1995 inszenierten, von Bauern unterstützt, die Vereinigten Marxisten Leninisten, besser als Maoisten bekannt, einen Aufstand. Der Bürgerkrieg, der erst mit einem Friedensabkommen 2006 endete, hat über 16‘000 Menschen das Leben gekostet. Die Maoistischen Rebellen beherrschten gut zwei Drittel des Landes. Jetzt sind sie unter dem Namen «Vereinigte Kommunistische Partei Nepals – Maoisten» (UCPN-M) zur stärksten Partei des Landes geworden.
Allerdings gibt es noch immer aktive, bewaffnete Gruppen, die jedoch nicht unbedingt den Maoisten zuzurechnen sind. Die Maoistischen Kämpfer wurden mittlerweile in die Nepalesische Armee integriert. Die Wiederversöhnung nach dem für Nepal traumatischen Jahrzehnt des Bruderkrieges hat noch einen langen Weg vor sich. In einem Kommentar zur anstehenden Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung in der Tageszeitung «The Himalayan» schreibt Hari Bansh Jha, Führer einer kleineren Partei, dass «Friede und Stabilität noch immer in der von Konflikten zerrissenen Nation zurückkehren müssen». Der Bürgerkrieg habe der «Nepalesischen Psyche einen derart wuchtigen Schlag versetzt, dass das Land sich jetzt in einem Zustand der Zerrissenheit und des gegenseitigen Misstrauens» befinde. Versöhnungs-Komitees sind landauf, landab in Aktion, doch wegen mangelnder finanzieller und logistischer Unterstützung noch nicht sehr wirksam.
Kein Wunder, dass unter diesen Voraussetzungen die Regierung extreme und kostspielige Sicherheitsmassnahmen veranlasst hat. Seit Anfang November sind 60‘000 Soldaten der Armee und 30‘000 Polizisten aufgeboten, um für die Wahl am 19. November bis in die zum Teil unwegsamen und abgelegenen Gebiete reguläre Bedingungen herzustellen. Auch internationale Wahlbeobachter sind seit Anfang November im Einsatz, darunter aus der Europäischen Union und auch aus der Schweiz.
Von der Monarchie zur Republik
Der letzte machthungrige König Gyanendera musste 2006, dem Volkszorn weichend, seine Privilegien der absoluten Monarchie aufgeben. Zwei Jahre später wird Nepal zur Föderalen Demokratischen Republik. Eine erste Verfassungsgebende Versammlung – kurz Constitutional Assembly 1, CA-1 genannt – wird gewählt. Die Maoisten siegten zwar, erhielten aber nicht die für die Verabschiedung einer neuen Verfassung nötige Zweidrittelsmehrheit. Die Verfassungsgebende Versammlung sollte innerhalb eines Jahres, so der Auftrag, Nepal ein neues Grundgesetz bescheren. Ein einvernehmlicher Kompromiss freilich war schwierig zu erreichen. Neben den Maoisten gab es noch zwei grosse Parteien – der Nepalesische Kongress (NC) und die Kommunistische Partei Nepals (CPN-UML) – sowie viele kleinere und auch Kleinst-Parteien. Das einzige, worauf man sich verständigen konnte, war, den Abschluss-Termin von Jahr zu Jahr zu verschieben. Im May 2012 dann wurde der allerletzte Termin, eine Verfassung zu verabschieden, verpasst. Das Oberste Gericht löste das Parlament auf und ordnete Neuwahlen für die zweite Verfassungsgebende Versammlung, kurz CA-2, für den 19. November 2013 an.
Astrologen optimistisch
Wie immer in dieser Region der Welt werden Astrologen vor wichtigen politischen Entscheidungen um Rat gefragt. Die Astrologen sind optimistisch. Allerdings waren sie das auch schon vor fünf Jahren bei der Wahl zur CA-1. Jetzt freilich steht noch mehr auf dem Spiel, denn das Land hat wertvolle Jahre verloren. Nepal gehört heute nach UNO-Definition zu den zwanzig ärmsten Ländern der Erde. Fast zwanzig Prozent der Bevölkerung sind unterernährt, rund vierzig Prozent leben in absoluter Armut (1,25 $ oder weniger pro Tag per capita), 29 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind untergewichtig, 25 Prozent des Bruttosozialprodukts des Landes wird durch Überweisungen von nepalesischen Arbeitern und Arbeiterinnen im Ausland generiert. Die Armuts-Liste liesse sich endlos fortsetzen.
Multikulti
Zur Wahl für die CA-2 haben sich über 120 Parteien beworben. Knapp 60 sind jetzt zugelassen, denn Kriterien der Präsenz bei Frauen, Kasten, abgelegene Regionen spielten eine wichtige Rolle. Die drei Grossen freilich – die Maoisten, der Kongress und die Kommunisten – werden als die bestimmtenden Sieger aus der Wahl hervorgehen. Dass die CA-1 schliesslich zu keinem Resultat kam, hat mit der extrem komplexen Materie zu tun. Nepal ist ein multikulturelles, multiethnisches und multisprachliches Konglomerat. Es gibt Dutzende von Ethnien, d.h. Menschen, die in den letzten Jahrhunderten eingewandert sind. Dazu gehören etwa die auch im Westen bekannten Sherpas, die vor über zweihundert Jahren aus Südwest-China migriert sind, oder noch früher die Gurkhas, die den britischen Kolonialherren als gefürchtete Krieger dienten und noch heute als Soldaten im Solde der Briten stehen. Über hundert Sprachen (nicht Dialekte) werden gesprochen, darunter Maithali, Bhojpuri, Awadhi, Bajika, Bai, Limbu, Newar, Magar und natürlich Hindi und Urdu. Unter diesen Voraussetzungen mit einer Mehrheit von zwei Driitteln eine Verfassung zu verabschieden, kommt der Quadratur der Kreises gleich. Doch Nepal hat keine andere Wahl. Resultate müssen zum Wohl der Bürgerinnen und Bürger sowie der Nation bald vorliegen. Eine CA-3 ist kaum denkbar.
Zur neuen Verfassung gibt es viele Varianten. Ein präsidiales System oder eine Zwei-Kammern-Demokratie nach Westminster-Vorbild? Wahl des Präsidenten durch das Volk, des Premiers durch das Parlament? Sieben, elf oder vierzehn Provinzen? Provinzen aufgeteilt nach Sprache, Ethnien, Nationalität, Kultur? Proportional- und Mehrheitswahlrecht? Hindi als Nationalsprache, als Lingua Franca? Säkulare Republik, beziehungsweise Trennung von Religion und Staat in diesem vom Hinduismus geprägten Land? Staatsbürgerschaft definiert nach der Mutter, dem Vater oder beiden? In der Aussenpolitik besondere Beziehungen zu Indien, zu China? Verankerung von Gewaltentrennung und Menschenrechten hingegen wird von allen Parteien gefordert.
Das Blaue vom Himmel versprechen
In ihren Wahlplattformen versprechen die Politiker aller Parteien, wie anderswo auf der Welt, das Blaue vom Himmel. Die grösste Partei, die Maoisten, träumen von einem durchschnittlichen Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) von über zehn Prozent pro Jahr für die nächsten vierzig Jahre. In fünf Jahren soll das BIP pro Kopf der Bevölkerung 1‘400 Dollar erreichen, in zehn Jahren 3‘300, in zwanzig Jahren 10‘700 und 40‘000 Dollar in vierzig Jahren. Nepal, so die etwas gewagte Interpretation des ehemaligen Premier der Maoisten, Baburam Bhattari, befinde sich wirtschaftlich heute dort, wo China, Singapur und Korea Anfang der 1980er Jahre waren. Die ehrgeizigen Ziele seien also mitnichten, wie Kritiker behaupteten, zu hoch angesetzt. Diese Ziele allerdings könnten nur erreicht werden, wenn die Maoisten siegten….
Prüfstein
Die zweitgrösste Partei, der Nepalesische Kongress, gibt sich etwas bescheidener und prognostiziert in fünf Jahren ein BIP-per-capita von 1‘000 Dollar, immerhin 400 Dollar mehr als im Augenblick. Dafür stehen hehre Worte im Programm: Nationale Souveränität, Integrität, Freiheit, Menschenrechte, Föderalismus, Republikanismus, Rechtsstaat und Pressefreiheit.
Ein menschenwürdiges Leben, Frieden und weniger auf Eigeninteresse kaprizierte Politiker, das ist jenseits aller Wahlversprechen das, was sich die Mehrheit der sechzehn Millionen Nepalesinnen und Nepalesen wünscht. Nach dem Wahlkampf jedoch zu schliessen, haben die meisten nepalesischen Politiker, wie auch anderswo, vor allem ihr eigenes Wohlergehen und die tief verankerten Interessen ihrer politischen Klientel im Auge. CA-2 wird zum Prüfstein.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine