Wie Libyen für den Westen zur Falle geworden ist
Als der Uno-Sicherheitsrat am 17. März seine Libyen-Resolution erliess, war die grosse Mehrheit der westlichen Politiker – mit Ausnahme der deutschen Regierung – in der Nahost-Beobachter einig. Denn Flugverbotszone plus Schutz der Zivilbevölkerung, das schien irgendwie logisch: Man hindert die Ghaddafi-Luftwaffe, Attacken gegen die Menschen am Boden zu führen, und schützt damit sozusagen schon automatisch die Libyerinnen und Libyer. Russen und Chinesen sahen das materiell wohl nicht anders, aber sie enthielten sich aufgrund politischer Überlegungen bei der Abstimmung in der Uno.
Ziel war nun doch der Sturz Ghaddafis
Im Westen ging man, was in der Resolution nicht enthalten war, davon aus, dass das Regime in einigen Wochen kapitulieren, die Opposition in eben dieser Zeitspanne die Kontrolle über das ganze Land erreichen werde. Widersprüche gab es allerdings schon nach den ersten Tagen der militärischen Konfrontation: Sollten Nato-Flugzeuge auch Anlagen angreifen, die zwar keine Bedrohung für die oppositionelle Zivilbevölkerung darstellten, die aber der Machterhaltung Ghaddafis dienen könnten? Bei der Nato und besonders bei den Regierungen Frankreichs und Grossbritanniens nahm man es in den Folgewochen mit dem Wortlaut der Uno-Resolution zunehmend weniger ernst. Der britische Premier, der französische Präsident, sie erklärten bald schon unabhängig von der einstigen Einigung, Ghaddafi müsse gehen, müsse das Land verlassen. Tot oder lebendig sagte man in London und Paris zwar noch nicht (blieb also noch etwas differenzierter als die USA im Falle Bin Ladens), aber die Zielrichtung wurde von Tag zu Tag klarer. Schliesslich anerkannten Grossbritannien und Frankreich die Opposition auch als einzige Vertretung Libyens und kappten die Leinen zum alten Regime, verliessen damit auch die zuvor noch vorgeschobene «Neutralität» zwischen den beiden Lagern.
Verlogenheit der «internationalen Gemeinschaft»
Zwischendurch erliess der Strafgerichtshof in Den Haag seinen Haftbefehl gegen Ghaddafi, dem Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen wurden – und sagte damit, wahrscheinlich unbedacht: eine diplomatische Lösung kann es nicht mehr geben. Oder wie soll die Diplomatie noch aktiv werden, wenn die Spitze der einen Seite als Partner nicht mehr auftreten kann?
Kurz nach dem Haftbefehl gegen Ghaddafi gab es international eine Anzahl von merkwürdigen Verwerfungen. Die Afrikanische Union erklärte, sie werde den Haftbefehl gegen Ghaddafi ignorieren – und verwies auf ihren eigenen (gut durchdachten) Befriedungsplan für Libyen. Die USA empörten sich – in Missachtung der Tatsache, dass sie selbst sich vor Jahren nicht nur geweigert, das Gericht anzuerkennen, sondern sogar ein Gesetz erlassen hatten, wonach US-Bürger, sollten sie vor dieses Gericht zitiert werden, mit militärischer Gewalt befreit werden sollen! Die Verlogenheit der internationalen Gemeinschaft erreichte mit der Diskussion um Ghaddafi jetzt einen neuen Höhepunkt. Der erste liegt acht Jahre zurück – damals, 2003, hoben westliche Regierungen ihre Sanktionen gegen das Ghaddafi-Regime auf, nur weil der libysche Herrscher versprach, auf sein Atomprogramm zu verzichten.
Opposition macht nur diplomatisch Fortschritte
Seit der (zwiespältigen) Uno-Resolution und dem Beginn der Nato-Angriffe sind fast fünf Monate vergangen. Ghaddafi hält sich immer noch, wenn auch geschwächt. Die Opposition stagniert bei ihren Aktionen, ist irritiert durch den Tod des militärischen Chefs (erschossen nicht von Leuten Ghaddafis, sondern von Rivalen innerhalb der eigenen Kräfte), und durch interne Richtungskämpfe geprägt. Diplomatisch macht sie dennoch ständig Fortschritte, was sich auch materiell positiv umsetzt: allmählich können Ausland-Guthaben der alten Libyen-Regierung in Europa und den USA freigemacht und an die Opposition in Benghazi überwiesen werden. Qatar sorgte zusätzlich dafür, dass die Benghazi-Opposition Geld erhielt: bis jetzt mehrere hundert Millionen Dollar (plus Waffen und Munition, von denen ein Teil aus der Schweiz zunächst nach Qatar geliefert worden war).
Ägypten und Tunesien handeln vorsichtig
Die unmittelbare Umgebung Libyens ist viel zögerlicher: Ägypten hat die Guthaben Ghaddafis noch nicht blockiert; Tunesien erlaubt nach wie vor Lieferungen (zumindest Oel, möglicherweise auch Waffen) an Ghaddafi. So verlängern die Nachbarn die Konfrontation. Erstaunlich oder nicht? Haben denn nicht Ägypten und Tunesien bereits ihre Revolutionen durchgemacht, sollten ihre jetzt Herrschenden nicht ein vitales Interesse daran haben, dass die verknöcherte, autoritäre Herrschaft auch in Libyen endlich ihr Ende sehen sollte?
So einfach ist es nicht: in Ägypten ist ein Militärregime an der Macht, das sich dank der Loslösung von Mubarak an der Macht halten kann – und das versucht, zumindest einen Teil seiner Macht auch über die nächsten Wahlen (wann immer die stattfinden werden) zu retten. In Tunesien laviert die Übergangsführung hin und her zwischen Abstrafen von Mächtigen aus der alten Zeit und Konzessionen zugunsten der Opposition. Und in beiden Ländern sind Millionen Menschen unsicher geworden, ob sie mit ihren Forderungen auf dem richtigen Weg sind oder nicht.
Hat man Anzeichen für eine Verbesserung der Wirtschaftlage, für ein Ende der Korruption gesehen? Nein, die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, die Touristen bleiben weg, die von westlichen Regierungen versprochenen Investitionen lassen auf sich warten. Und parallel dazu muss man erkennen, dass die ursprünglich laizistische Reformbewegung jetzt von islamischen und islamistischen Kräften als Vehikel benutzt wird. Was an sich gar nicht illegitim ist: Man weiss, dass in Ägypten die Moslembrüder potentiell ein Elektorat von 20 bis über 30 Prozent besitzen. Und die ra-dikalen Salafisten? Deren Rückhalt kennt noch niemand, ein paar Pro-zente werden sie auf jeden Fall erreichen. Was bedeutet: Wenn ein neu-es Parlament in Ägypten zu arbeiten beginnt, wird es darauf hinwirken, dem Islam mehr Gewicht in den Gesetzen zu verschaffen. Das kann sich als Hindernis für die Emanzipation der Frau auswirken, es kann auch negative Folgen für die christliche Minderheit nach sich ziehen.
Angst vor fundamentalistischen Kräften
In Tunesien ist’s ähnlich – was letzten Endes erklärt, dass die Menschen in diesen beiden Ländern, den unmittelbaren Nachbarn Libyens, unsicher wurden hinsichtlich Isolierung oder Bekämpfung Ghaddafis. Mit anderen Worten: Die zwiespältige Politik Kairos und Tunis‘ ist nicht nur ein Resultat des Lavierens der (provisorisch) führenden Politiker, sondern widerspiegelt auch Zweifel in der Öffentlichkeit generell. Man nimmt ja in der Nachbarschaft Libyens deutlicher als hier im relativ fernen Europa wahr, dass in Libyen auch radikal-islamische, also fundamentalistische Kräfte auf den fahrenden Zug aufspringen wollen und dass dies zu Problemen für eine echte Demokratisierung führen könnte.
Die Optionen für den Westen
Wie soll der Westen, sollen die Nato, die EU ihre weitere Libyen-Strategie planen? Rein auf die militärische Option setzen? Oder doch noch eine politische Variante mit einplanen?
– Die militärische Option würde besagen: Ghaddafi wird entmachtet, wenn möglich gefangen genommen und nach Den Haag ausgeliefert. Endet damit die Gewalt zwischen Opposition und den Ghad-dafi-Getreuen? Höchstwahrscheinlich nicht – ein Bürgerkrieg ist die wahrscheinlichste Folge.
– Die politische Option Nummer eins: Abgeordnete der Opposition und Ghaddafis setzen sich an einen Tisch und handeln eine neue Formel für Libyen aus. Das ist unwahrscheinlich, weil beide Seiten sich unversöhnlich gegenüber stehen.
– Die internationale Gemeinschaft springt über ihren eigenen Schat-ten und entsendet eine Friedens-erhaltende Truppe nach Libyen. Sie trennt die kämpfenden Parteien, garantiert die Aufrechterhaltung der komplexen Infrastruktur des Landes und bahnt langfristig ausgerichtete Kontakte an. Also eine diplomatische Lösung. Wahrscheinlichkeit? Sehr gering.
– Die internationale Gemeinschaft beendet irgendwann ihr militäri-sches Engagement, weil sie erkennt: zu teuer und zu schwierig, zu riskant auch, dass man sich eines Tages in einer «Afghanistan-Situation» befinden könnte. Sie unterstützt halbherzig die Opposition, hält sich im Wesentlichen aber aus dem Innenleben Libyens heraus (wahrscheinlichste Version).
Mögliche Konsequenz: Libyen spaltet sich faktisch in drei Ein-flusszonen auf: Tripolitanien pro-Ghaddafi, Benghazi und andere Städte pro-Opposition, der Fezzan im Süden loyal zu Stammesführern, die je nach Opportunität für Ghaddafi oder für die Opposition votieren. Wäre das schlimm? Ja, weil das heutige Libyen eine Infrastruktur hat, die (das betrifft vor allem die Erdöl-, die Erdgas- und die Wasserindustrie), für ein zusammen gefügtes Land ausgerichtet ist. Trennt man das Land in die drei alten Grossregionen, kann die Infrastruktur nicht mehr funktionieren – und das wird sich zum Schaden der Mehrheit auswirken.
Libyen ist für die Nato und für die Mehrheit der Regierungen in Westeuropa zur Falle geworden. Wie herauskommen, ohne weiteren Schaden anzurichten? Das ist die grosse Frage – eine Antwort darauf weiss zur Zeit offenkundig niemand.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine