Wie China Hunger und Armut besiegen will
Essen hat in China einen höheren Stellenwert als anderswo. Kein Wunder, denn das Land wurde seit jeher immer wieder von Dürre und Überschwemmungen heimgesucht. Verheerende Hungersnöte waren die Folge. Die Kaiser taten ihr Möglichstes, doch oft mit wenig Erfolg. Die Situation verschlimmerte sich im 19. Jahrhundert. Die Bevölkerungszahl explodierte Mitte des 18. Jahrhunderts und verdoppelte sich bis 1850 von 200 auf 400 Millionen Menschen. Der Ackerboden war begrenzt. Hunger blieb so eine ständige Bedrohung. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 1850 und 1950 rund 100 Millionen Chinesinnen und Chinesen verhungerten.
Grösste Hungersnot der Geschichte
Nach der Befreiung und der kommunistischen Revolution 1949 verbesserte sich die Situation kurzfristig. Doch Maos utopisches Denken stürzte China mit dem «Grossen Sprung nach vorn» und den Volkskommunen in die grösste Hungersnot der Geschichte. Von 1958 bis 1961 starben je nach Schätzung 30 bis 45 Millionen Menschen, mehrere hundert Millionen litten Hunger. Mit Beginn der Wirtschaftsreform 1979, der Auflösung der Kommunen und der Einführung des landwirtschaftlichen Familienverantwortungs-Systems änderte sich die Ernährungslage grundlegend.
Aber auch 2015 gibt es in China noch Armut und Hunger, obwohl China in den letzten 30 Jahren weltweit das erfolgreichste Land bei der Armutsbekämpfung war. Mit einem ausgeklügelten Massnahmenpaket will die Zentralregierung bis 2020 weitere 70 Millionen Menschen von der Armut befreien, vor allem in abgelegenen Regionen. Die schwächelnde Konjunktur gilt dabei als grösstes Hindernis. Wie Hong Tianyun von der Führungsgruppe für Armutsbekämpfung im Staatsrat (Regierung) bekannt gab, sollen ländliche Kleinunternehmen mit Mikro-Krediten gefördert werden. Auch das Gesundheitssystem will die Regierung verbessern, denn über 40 Prozent der armen Haushalte müssen all ihr Geld für die medizinische Versorgung von Angehörigen ausgeben. Zudem unterstützt die Regierung mit Subventionen die Umsiedlung von Bewohnern aus unterentwickelten Gebieten. Insgesamt zehn Millionen Menschen könnten davon betroffen sein.
«Armut nicht von Generation zu Generation vererben»
«Armut ist eine Art Narbe unserer Gesellschaft», sagt Li Chunguang von der Führungsgruppe für die Armutsbekämpfung im Staatsrat, «ihre Beseitigung ist deshalb Pflicht der Regierung». Staats- und Parteichef Xi Jinping mahnte am letzten Volkskongress im März in einer Diskussion mit Delegierten der armen Guangxi-Provinz: «Armut darf nicht von Generation zu Generation vererbt werden.» Xi weiss, wovon er spricht. Als Parteichef der Küstenprovinz Fujian verfasste er 1992 sein erstes Buch als Anleitung für hohe und niedrige Partei- und Regierungskader. Thema: Beseitigung der Armut.
Im Kampf gegen die Armut ist die Volksrepublik China führend in der Welt. Der Anteil an der weltweiten Linderung von Armut beträgt rund 70 Prozent. China ist überdies das erste Entwicklungsland, welches das UNO-Millenniumsziel erreicht hat, den im Elend lebenden Bevölkerungsteil bis 2015 zu halbieren. In den letzten 15 Jahren sind, so Hong Tianyun, 600 Millionen Chinesinnen und Chinesen von der Armut befreit worden.
Nationale Armutsgrenze: 345 Franken pro Jahr
Nach offiziellen chinesischen Statistiken leben heute noch immer 70 Millionen Menschen unter der absoluten Armutsgrenze – vor allem in ländlichen Gebieten. Konkret heisst das: Diese Menschen verdienen pro Kopf und Jahr weniger als 2300 Yuan, das sind umgerechnet 345 Franken. Die Armutsgrenze hat der Staat letztmals im Jahr 2011 festgelegt, vorher war der Grenzwert halb so hoch. Durch den höheren Wert erhöhte sich auch die Zahl der Armen von 27 Millionen auf knapp über 100 Millionen.
Wann ein Mensch als arm gilt, das variiert von Land zu Land, je nachdem wie viel man zum Beispiel für einen Dollar kaufen kann.Nach der international geltenden UNO-Definition von 2005 lebt in bitterster Armut, wer pro Kopf und Tag 1,25 Dollar oder weniger zur Verfügung hat. 2012 waren das weltweit rund 13 Prozent oder 902 Millionen Menschen. Die Weltbank hat die Armutsgrenze kürzlich auf 1,9 Dollar angehoben. Dennoch wird sich nach Prognosen der Weltbank die Zahl der Armen im laufenden Jahr auf 702 Millionen oder 9,6 Prozent der Weltbevölkerung verringern, nicht zuletzt auch wegen der dezidierten Armutsbekämpfung in China. Das ist natürlich noch immer zu viel, doch historisch gesehen so wenig und so gut wie noch nie.
«Reich sein ist glorreich»
Der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping hatte zu Beginn der bahnbrechenden Wirtschaftsreform einmal gesagt, dass Kommunismus nicht allgemeine, gleich verteilte Armut bedeuten könne. Man müsse mutig sein. «Reich sein ist glorreich» hiess denn in den 1980er-Jahren eine der Propaganda-Slogans zum Ankurbeln der Reformwirtschaft im Zuge der Abkehr vom Klassenkampf. Allerdings sagte Deng schon damals: «Falls unsere Reformen zur Polarisation der Einkommensverteilung führen sollten, würde das das Ende des ganzen Reform-Prozesses bedeuten.»
Deshalb gilt für die gegenwärtige Führung unter Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping dasselbe wie für seine Vorgänger: Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, dem reichen Küstengürtel und den inneren Regionen muss eingedämmt werden. Gelingt das nicht, nimmt die Bedrohung von sozialen Unruhen zu, und dann ist – wie schon unter den Kaisern – das Mandat des Himmels, also die Macht, in Gefahr.
Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand
Vor diesem Hintergrund sind die Bemühungen der Armutsbekämpfung zu betrachten, die nun in China mit dem 13. Fünfjahresplan (2016-2020) nochmals intensiviert werden sollen. Es sei die schwierigste Aufgabe, so der Direktor des Büros für Armutsbekämpfung im Staatsrat Liu Yongfu, beim Aufbau des von Deng Xiaoping definierten Ziels einer «Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand» bis ins Jahr 2050. Liu, wie alle Partei- und Regierungskader verliebt in Zahlen, listet im Sprachrohr der Partei «Renmin Ribao» (Volkszeitung) die Herausforderungen auf: Landesweit gebe es noch immer 14 Regionen, 592 Kreise und 128‘000 Dörfer mit einer hohen Armutsquote. Im letzten Jahr, so Liu weiter, hätten sich 125‘000 Arbeitsgruppen mit 430‘000 Beamten mit der Bekämpfung der Armut befasst. Chefbeamter Liu: «In diesem Jahr wollen wir weitere 10 Millionen Menschen aus der Armut befreien. Wir sind zuversichtlich, dass wir dieses Ziel erreichen können».
Tag des Fastens
Nicht nur Partei und Regierung sind aktiv. Auch die Chinesische Zivil-Gesellschaft mischt sich positiv ein. Die Chinesische Stiftung zur Linderung von Armut ruft zu einem Tag des Fastens auf. Ziel der landesweiten Aktion ist es, Geld, das man an diesem Tag zum Essen ausgegeben hätte, an Kinder in Armut zu spenden. Chen Hongtao, Stellvertretender Generalsekretär der Stiftung, formuliert es so: «Durch unsere Aktion möchten wir, dass die Menschen das Gefühl von Hunger kennenlernen. Dadurch möchten wir erreichen, dass die Gesellschaft der Armutsbekämpfung generell mehr Aufmerksamkeit schenkt.» Filmstars, Firmen, Institutionen und rund hundert Universitäten beteiligen sich an dieser für China einmaligen Aktion. Im vergangenen Jahr nahmen 160 Millionen Menschen an der Spenden-Aktion teil.
«Nicht blind optimistisch»
Dass der in Princeton lehrende britische Ökonom Angus Deaton den diesjährigen Wirtschafts-Nobelpreis erhalten hat, ist vielleicht ein gutes Zeichen. Deatons Spezialgebiet: Armut. Der Nobelpreisträger beurteilte die weltweiten Bemühungen um Linderung der Armut sehr vorsichtig. Er sei bezüglich des Ziels, die absolute Armut vollständig zum Verschwinden zu bringen, «nicht blind optimistisch». Damit teilt er die Meinung von chinesischen Beamten. Einer bezeichnete laut «Renmin Ribao» (Volkszeitung) den verbleibenden Kampf gegen die Eliminierung der Armut als den schwierigsten, als «harten Knochen».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.
Dass die Menschen das Gefühl von Hunger kennenlernen, ist sicher eine gute Motivation zum Spenden. Wichtig wären ähnliche Bewunssteseins-Aktionen für die Sauberkeit der Luft und des Wassers !
Sehr interessant!