Nukleare Abschreckung Trends Research und Advisory

Nukleare Abschreckung: Nehmen die USA ein zerstörtes Europa in Kauf? © Trends Research und Advisory

Wenn die USA ihre NATO-Partner in Europa im Stich lassen

Urs P. Gasche /  Sollte Russland in Europa taktische Atomwaffen einsetzen, können sich die USA aus einem Atomkrieg mit Russland raushalten.

Zur Verteidigung der bedrohten Stadt Charkiw darf die Ukraine mit westlichen Waffen jetzt russische Ziele angreifen. Weitere, noch grössere Eskalationsstufen werden nötig, um die Russen aus dem ganzen Donbas und aus der Halbinsel Krim zu vertreiben.

Doch die russische Führung und der grösste Teil der russischen Gesellschaft werden schwerlich akzeptieren, dass die Krim mit dem dortigen Flottenstützpunkt unter westliche Kontrolle gerät. Falls Putin keinen anderen Ausweg mehr sieht, besteht ein unakzeptables Risiko, dass er taktische Atomwaffen einsetzt – zuerst gegen Ziele in der Ukraine und dann auch gegen Ziele des militärischen Nachschubs in Nachbarstaaten.

Am heutigen 3. Juni vermerkt US-Korrepondent Christian Weisflog in der NZZ: «Sollte sich ein ukrainischer Durchbruch zur Halbinsel Krim abzeichnen, schätzt die CIA die Gefahr einer nuklearen Eskalation auf 50 Prozent und mehr ein.»

Diese Gefahr einfach zu ignorieren mit dem Argument, man dürfe Putins Angstmacherei nicht ernst nehmen und sich nicht erpressen lassen, ist fahrlässig. Dazu gehört der beruhigende Titel «Putins Atom-Bluff» in der NZZ am Sonntag von 2. Juni.

Das Risiko einer nuklearen Eskalation muss mit allen Mitteln gegen Null minimiert werden.

Wer spekuliert, Russland werde es nicht wagen, taktische Atomwaffen einzusetzen, weil die USA sofort mit atomaren Gegenschlägen reagieren würden, kann sich täuschen. Denn die USA werden sich nur in einen atomaren Vernichtungskrieg mit Russland einlassen, falls es ihren eigenen Interessen dient.

Die gegenseitige atomare Abschreckung der Grossmächte schützt Europa nicht.


Im NATO-Bündnisfall gibt es keinen Automatismus

Verträge sind im Kriegsfall häufig das Papier nicht wert. Aber abgesehen davon: Der NATO-Vertrag verpflichtet die Bündnispartner nach einem Angriff zu keinem automatischen militärischen Eingreifen – auch wenn dieser Eindruck häufig erweckt wird.

Artikel 5 des Vertrags stipuliert zwar:

«Die Vertragsparteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird.» (Artikel 6 des NATO-Vertrags präzisiert, dass «jeder bewaffnete Angriff auf das Gebiet oder die Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge einer der Parteien» gemeint ist.)

Die Vertragsparteien verpflichten sich in einem solchen Fall, 

«Beistand zu leisten, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Massnahmen, einschliesslich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.»

Jeder Staat kann also selber entscheiden, mit welchen Massnahmen er Beistand leisten möchte.

Am 16. März 2022 veröffentlichte der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags ein Rechtsgutachten mit dem Titel «Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme».

Darin kommt der wissenschaftliche Dienst zum Schluss:

«Der Feststellung des NATO-Bündnisfalls liegt keine ‹Automatik› zugrunde. Die NATO-Staaten entscheiden im Konsens mit einem weiten politischen Ermessensspielraum. Ein ‹Anspruch› eines angegriffenen NATO-Partners auf Feststellung des Bündnisfalles besteht nicht.» (fette Auszeichnungen durch die Autoren des Gutachtens)


«Nationale Souveränität»

Artikel 11 des NATO-Vertrags hält fest:

«Der Vertrag ist von den Parteien in Übereinstimmung mit ihren verfassungsmässigen Verfahren […] in seinen Bestimmungen durchzuführen.»

Der US-Senatsausschuss für Auswärtige Angelegenheiten hatte in den Sechzigerjahren festgehalten, dass die nach Artikel 5 des NATO-Vertrags zu ergreifenden Massnahmen «vom diplomatischen Protest bis zu den härtesten Formen von Pressionen alles Mögliche einschliesst» (zitiert nach Ipsen: Rechtsgrundlagen und Institutionalisierung der Atlantisch-Westeuropäischen Verteidigung, 1968, S. 45).

Das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags kommt nochmals zum Schluss: 

«Es herrscht mithin nationale Souveränität in der Entscheidung über die Art der Beistandspflicht.»

In den Verhandlungen vor dem Bundesverfassungsgericht zur Stationierung von Pershing-2-Raketen und Cruise Missiles in Deutschland hatte auch die Partei DIE GRÜNEN im Jahr 1984 festgestellt:

«Der NATO-Vertrag enthält keine automatische Beistandsklausel. Vielmehr obliegt es im Bündnisfall der Bundesregierung, über den Einsatz deutscher Streitkräfte zu entscheiden. Bei der gegenwärtigen Bewaffnung der auf bundesdeutschem Gebiet stationierten Streitkräfte besteht, rechtlich gesehen, keine Möglichkeit, dass die Bundesrepublik Deutschland ohne eigenes Zutun in kriegerische Handlungen verwickelt wird.»

In ihrer Antwort bestätigte die Bundesregierung vor Gericht: 

«Über das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 5 NATO-Vertrag muss Einigkeit zwischen den Partnern hergestellt werden. Hierbei kommt der Stimme der Bundesrepublik Deutschland dasselbe Gewicht zu wie der Stimme der Vereinigten Staaten von Amerika.»


«Auf Atombomben würde die Nato mit konventionellen Waffen reagieren»

Obwohl sie das Risiko einer nuklearen Eskalation für gering halten, selbst wenn die Ukraine im Krieg die Oberhand gewänne, analysierten Georg Häsler und Eric Gujer – sie vertreten in der NZZ weitgehend die Nato-Position – alle Möglichkeiten, wie die USA reagieren könnten und würden, falls Russland doch eine Atombombe zündete. Beide glauben nicht, dass die USA mit atomaren Gegenschlägen reagieren würden. Am wahrscheinlichsten hält Häsler ein massives Eingreifen von Nato-Staaten mit konventionellen Waffen, um die russischen Verbände in der Ukraine und die russische Schwarzmeerflotte zu zerstören.

Häsler beantwortet die Frage nicht, ob dies Moskau davon abhalten würde, gegen die Ukraine und ihre europäischen Waffenlieferanten weitere taktische Atomwaffe einzusetzen – mit allen fürchterlichen Konsequenzen für den europäischen Kontinent.

Fazit: Die europäischen Staaten können nicht darauf zählen, dass die USA adäquat eingreifen, falls Russland in Europa taktische Atomwaffen einsetzt. Vielmehr würden die USA nach ihren eigenen Interessen entscheiden. Ein gegenseitiger Atomkrieg wäre nicht in ihrem Interesse.

Das Risiko, dass Russland auf einen drohenden Verlust der Krim mit taktischen Atomwaffen reagiert, trägt allein Europa.

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Weitere Berichte auf Infosperber:

9. Juli 2023
Der US-Think-Tank schlägt taktische Atomwaffen an die Ukraine vor

24. Oktober 2022
Streit über das Risiko einer nuklearen Eskalation. Je weiter Russland aus der ganzen Ukraine vertrieben wird, desto grösser wird das Risiko eines Atombomben-Einsatzes.

30. Mai 2022
Ein Atomkrieg würde Menschen ausrotten wie Asteroid die Dinosaurier

27. April 2022
Atomschlag: Was hilft es uns, wenn allein Putin schuld wäre?

19. April 2022
Nato-Raketen in Polen und bald in Finnland bringen das Gleichgewicht des Schreckens arg ins Wanken


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Kalter_Krieg

Der Kalte Krieg bricht wieder aus

Die Grossmächte setzen bei ihrer Machtpolitik vermehrt wieder aufs Militär und gegenseitige Verleumdungen.

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8 Meinungen

  • am 3.06.2024 um 11:31 Uhr
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    Völlig richtig. Das war übrigens schon im Kalten Krieg so. Die USA hätten nie die UdSSR angegriffen, zu der damals noch die Ukraine gehörte, sondern nur den Warschauer Pakt oder sowjetische Truppen in Westeuropa. Die Atomübungen in der BRD sahen Atomschläge auf Polen, die DDR und die BRD selbst vor, nicht auf die UdSSR. Die europäischen Staaten sind letztlich nur Bauern der USA. Dass die NZZ diesen Irrsinn noch unterstützt finde ich ziemlich tragisch aber leider nicht überraschend.

  • am 3.06.2024 um 14:33 Uhr
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    Nur ein Land hat bisher Atomwaffen eingesetzt, die USA in Japan, als Japan eigentlich schon am Boden lag und ohne Hiroshima und Nagasaki kapituliert hätte,
    Heute stehen wir in der Ukraine in der Situation, wie schon seit 1945 verschiedene Male, die zu einem Atomkrieg führen könnte. Diese Gefahr wurde verglichen mit Personen die bis zur Hälfte in einem mit Benzin gefüllten Becken stehen, mit Streichhölzern in der Hand. Wenn auch nur einer ein Streichholz entzündet, versehentlich oder absichtlich, ist das Ergebnis sicher: Alle werden sterben. Das Benzinbecken erstreckt sich über den ganzen Globus, tödlich radioaktiv verseucht werden nicht nur Angehörige von Atomächten krepieren.
    Schweizer Banken investieren heute skrupellos in Konzerne die Atomwaffen herstellen, über vier Milliarden US-Dollar, wie ICAN (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons) kürzlich neu dokumentierte. Nach dem Kriegsmaterialgesetz sind direkte und indirekte Investitionen Atomwaffen verboten. Bern schaut zu.

  • am 3.06.2024 um 17:34 Uhr
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    Die USA haben in den letzten 100 Jahren gezeigt, dass sie nur Macht (selbsternannter Weltpolizist) ausüben wollen, aber dafür möglichst keine amerikanischen Soldaten einsetzten wollen. Dafür sind andere da, von Soldaten anderer Staaten bis zu Söldnerfirmen.
    Wichtigster Punkt: die US-Rüstungsindustrie kann profitieren. (Wer zahlt eigentlich alles, was die Ukraine «kauft»?)
    Es geht nur ums Geschäft. Verteidigung der Demokratie ist nur ein Feigenblatt. Die USA selbst sind schon lange keine Demokratie mehr, sondern eine Oligarchie (wie Russland und die Ukraine) aber nach westlichem Muster.

  • am 4.06.2024 um 08:42 Uhr
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    Trump und Biden haben beide «no boots on the ground» gesagt und zu was die Euro-NATO fähig ist, haben wir in Afghanistan gesehen (Rückzug).
    DIe Russen haben keinen Grund zu eskalieren, ausser wenn die ukrainer nuklear fähige Mittelstreckenkomplexe einsetzen, Taurus und/oder F-16. Dann werden die Russen miteskalieren.

  • am 4.06.2024 um 08:53 Uhr
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    Ein ukrainischer Durchbruch auf die Krim? Sieht nicht sehr realistisch aus. Ein massiver Einsatz von Nato-Truppen auf dre Krim? Könnte die Nato aus dem Stand heraus logistisch gar nicht durchführen, und für einen Vorstoss müsste sie erst mal die Lufthoheit erringen. Russland ist nicht Afghanistan.
    Für viel gefährlicher halte ich die Versuche der USA, unter Benutzung der Ukraine, die russischen Frühwarnsysteme anzugreifen, um damit die Zweitschlagfähigkeit Russlands auszuschalten und den Weg zu einem «Enthauptungsschlag» freizumachen. Solche Überlegungen werden von US Think-Tanks durchaus propagiert. Das wird Russland mit allen Mitteln verhindern, die russische nukleare Einsatzdoktrin wurde erst vor kurzem in diesem Sinne revidiert.

  • am 5.06.2024 um 09:53 Uhr
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    Man sollte hier die letzten Äusserungen des offiziellen Russland, insbesondere die von Dmitry Medwedew in der Analyse berücksichtigen. Die Annahme, dass Russland, wenn es ein NATO-Land angreift – ob nun mit oder ohne Nuklearwaffen – dies begrenzt tun wird, ist falsch. Das Ziel wird NICHT die Ukraine sein und wird komplett zerstört werden, sodass es für Russland keine Gefahr mehr darstellt. Oder wie Medwedew sagte, ‹die Reaktion wird dermassen massiv ausfallen, dass die NATO Mühe haben wird, sich herauszuhalten›. Die U.S.A. werden sich da allerdings zurückhalten und abkapseln, denn sie sind – im Gegensatz zu den Europäern – noch einigermassen in Besitz ihrer geistigen Kräfte und nicht lebensmüde. Sie sind damit zufrieden, wenn die Europäer den Job übernehmen und treffen wird es einzig Europa, welches sich nicht mehr von diesem Schlag erholen wird.
    Wir hatten in Europa schon lange nicht mehr so geistig minderbemittelte Eliten und unfähige Diplomatie wie heute.

    • Favorit Daumen X
      am 5.06.2024 um 10:04 Uhr
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      Äusserungen des «offiziellen Russland», insbesondere auch von Medwedew, kann man nicht ernst nehmen. In jedem Krieg wird auf allen Seiten auch ein Medienkrieg geführt. Viele Äusserungen sollen auf falsche Fährten locken oder dienen dazu, den Zusammenhalt und die Kriegsbereitschaft im eigenen Land zu fördern.

      • am 6.06.2024 um 09:53 Uhr
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        Medwedew alleine schätze ich auch so ein, er war lange der «Trash-Talker», welcher praktisch nie die offizielle Position wiedergab. Trotzdem kommt man nicht umhin, seine und die offiziellen Aussagen der anderen Stellen auch zur Kenntnis zu nehmen und zu bewerten. Und hier hat sich die Kommunikation des Kreml – allerdings nicht der Inhalt, der ist schon seit fast 20 Jahren im Kern unverändert – und der Duma geändert, sie nähert sich derjenigen von Medwedew an. Die zunehmende Radikalisierung in der Elite Russland darf man nicht unterschätzen und nicht alle sind so geduldig wie Putin.

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