Vor Ort bei der Drogenmafia und den Paramilitärs
Red. Josef Estermann befindet sich auf einer vierwöchigen Reise durch die Andenländer Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien. Er trifft alte Bekannte, Orte und eine Gegenwart, die von Widersprüchen und ungelösten Konflikten geprägt ist. Estermann lebte und arbeitete während 17 Jahren in Peru und Bolivien.
72 Prozent Arbeitslosigkeit
Die kolumbianische Stadt Tumaco an der Pazifikküste in unmittelbarer Nähe zur ecuadorianischen Grenze galt lange Zeit als ein Hotspot der Guerilla-Organisation FARC. Nach dem Friedensabkommen zwischen der Regierung und der FARC vor über sechs Jahren sind deren Mitglieder zwar weniger präsent, dafür machen sich umso mehr der Drogenhandel und paramilitärische Einheiten bemerkbar. Für Jugendliche bedeutet diese Situation eine schier unlösbare Herausforderung, da die Arbeitslosigkeit insgesamt bei 72 Prozent liegt, bei der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen sogar noch höher.
Tumaco zählt rund 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner. 95 Prozent davon sind Afro-Kolumbianerinnen und Afro-Kolumbianer, also Nachfahren von Sklavinnen und Sklaven , die aus Afrika verschleppt wurden. Eine kleine Minderheit bilden vertriebene indigene Menschen. Weisse oder Mischlinge sieht man praktisch keine. In ganz Kolumbien liegt der Anteil der afro-kolumbianischen Bevölkerung gemäss der Volkszählung von 2019 bei nur neun Prozent. Sie gehört neben der indigenen Bevölkerung zu den am meisten diskriminierten Gruppen in Kolumbien.
Das Armenviertel «Nueva Esperanza»
Auf dem Landweg ist Tumaco nach 15 Stunden Busfahrt von Bogotá über Pasto erreichbar, oder dann wie jetzt – wo die Strasse wegen eines Erdrutsches gesperrt ist – mit dem Flugzeug, was sich aber kaum jemand leisten kann. Die Zentralregierung in Bogotá hat die Gegend an der Grenze zu Ecuador immer schon vernachlässigt, sodass sich in diesem Gebiet die verschiedenen Guerillagruppen, aber auch Schmuggler und Drogenhändler relativ ungestört bewegen konnten. Daran hat auch der Friedensvertrag wenig geändert.
Das Armenviertel «Nueva Esperanza» (Neue Hoffnung) beherbergt rund 10‘000 Menschen, die zum Teil wegen der Gewalt vom Land in die Stadt flohen, zum Teil aber auch dorthin zogen, weil die Stadt neue Möglichkeiten für eine (meist illegale) Tätigkeit eröffnet. Weit über 60 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner sind jünger als 25 Jahre alt. Die Lebensbedingungen sind miserabel. Wie auch in den anderen Teilen der Stadt sind die Häuser in «Nueva Esperanza» auf Stelzen über dem Meeresspiegel gebaut. Das Wasser bahnt sich wie eine riesige Kloake einen Weg durch die «Gassen». Über abenteuerliche Stege mit unregelmässigen Holzbrettern gelangt man zu den Häusern.
Ein Abwassersystem gibt es nicht. Alles wird direkt ins Meereswasser eingeleitet. Trinkwasser gibt es nur alle vierzehn Tage über ein behelfsmässig angelegtes Leitungssystem, um grosse Wassertanks zu füllen. Die Stadt stellt nur die Stromzufuhr und eine Kehrrichtabfuhr sicher; sonst ist die öffentliche Hand nicht präsent. Viele Menschen leiden an endemischen Krankheiten und Parasiten.
Von der FARC geschützt
Entgegen den üblichen Nachrichten sind die Mitglieder der FARC aufgrund des Friedensvertrags nicht einfach alle entwaffnet und in die Zivilgesellschaft zurückgeführt worden. Viele sind ob der nur halbherzigen Umsetzung der im Friedensprozess versprochenen Reformen enttäuscht wieder in den Dschungel zurückgekehrt und haben wieder zu den Waffen gegriffen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass «Nueva Esperanza» von den FARC beherrscht wird, auch wenn man keine maskierten oder uniformierten Guerillakämpferinnen und Guerillakämpfer sieht. Sie sind unsichtbar für jemanden, der oder die von aussen kommt. Aber es ist klar, dass sie unseren «Besuch» von allem Anfang an registriert haben.
Wir konnten nur deshalb nach «Nueva Esperanza» gelangen, weil eine europäische Mitarbeiterin – nennen wir sie Klara – seit zehn Jahren im Stadtviertel wohnt und mit den Jugendlichen alternative Lebensprojekte aufzubauen versucht. Sie kennt die Menschen und weiss auch genau, wer zur Guerilla gehört. Polizei und Militär kommen normalerweise nicht ins Viertel. Sollten sie es trotzdem tun, gilt es, zu ihnen die nötige Distanz zu wahren, um nicht in den Verdacht einer Zusammenarbeit zu kommen und somit als «Verräter» gebrandmarkt zu werden.
Die FARC sorgt dafür, dass Ruhe und Ordnung im Viertel herrschen. Klara versichert uns, dass es praktisch keine Einbrüche und Diebstähle gibt. Unlängst sei ein Dieb auf frischer Tat ertappt und gelyncht worden. Wie komisch es auch tönt, aber Klara – und auch wir als Besucher – fühlen uns nicht trotz, sondern gerade wegen der Präsenz der FARC sicher.
Allerdings ist es ein offenes Geheimnis, dass die FARC im Drogenhandel aktiv ist. Die Gegend um Tumaco hat sich in letzter Zeit zu einem eigentlichen Koka-Anbaugebiet entwickelt. Zum Teil werden die Kokablätter vor Ort zu so genannter Pasta Básica (Kokapaste) verarbeitet, zum Teil gibt es sogar geheime Kokain-Labore im praktisch undurchdringlichen Dschungel. Leider ist der Koka-Anbau für die Bauern immer noch viel rentabler als der Anbau von Früchten, Soja oder Reis.
Drogenmafia und Paramilitärs
Die Drogenhändler gelten neben den paramilitärischen Gruppierungen – die in Kolumbien für die meisten Todesopfer verantwortlich sind – als jene Kreise, die skrupellos zur Gewalt schreiten und ihr Terrorregime mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten trachten. Zu den Methoden gehören Erpressung – praktisch alle Unternehmen in Tumaco bezahlen Schutzgeld an die «Narcos» – und Lynchjustiz, Bombenattentate und Entführungen. In letzter Zeit war es zwar relativ ruhig, aber es soll eine grosse Abrechnung zwischen Narcos und «Paras» bevorstehen. Die Paras näherten sich vom Land der Stadt.
Das Militär hat sich in Tumaco regelrecht eingebunkert, und auch die Polizei tritt nur selten in Erscheinung. Das eigentliche Verkehrsmittel sind die vielen Motorräder mit bis zu vier Passagieren, die auch als «Taxis» fungieren. Verkehrsregeln werden kaum beachtet. Nur unser Taxifahrer hält bei Rot, weil wir Gringos sind. Allerdings sollte man es sich mit der Polizei auch nicht verderben, gilt sie doch als die korrupteste Institution im Land.
Die Jugendlichen von «Nueva Esperanza» befinden sich zwischen allen Fronten: auf der einen Seite die Guerilla. Neben der FARC ist auch die ELN in der Gegend aktiv. Auf der anderen Seite die Paramilitärs und die Drogenhändler. Dazu kommen noch das Militär und die Polizei, mit denen man sich irgendwie arrangieren muss. Aufgrund der Perspektivenlosigkeit optieren viele junge Menschen, vor allem Männer, für die Guerilla oder den Drogenhandel, oft auch für beide.
Ein Zentrum für afro-kolumbianische Jugendliche
Angesichts dieser schwierigen Situation hat Klara vor Jahren mit der Hilfe der katholischen Kirche und Missionaren eines religiösen Ordens in «Nueva Esperanza» ein Zentrum aufgebaut – nennen wir es «Encuentro Afro» –, in dem junge Menschen Begleitung und Hilfe für ein Leben ohne Gewalt, Drogen und Waffen erhalten. Das Zentrum wurde mehrfach ausgezeichnet und leistet wertvolle Hilfe, damit die Jugendlichen aus dem Teufelskreis von Armut, Gewalt und Arbeitslosigkeit herausfinden. Alle sind im Zentrum willkommen, mit einer Bedingung: keine Waffen oder Drogen.
Gearbeitet wird mit kreativen Mitteln, um die gewaltlose Kommunikation zu fördern, das Selbstwertgefühl zu stärken in einer Gesellschaft, welche die Schwarzen generell diskriminiert und an den Rand der Legalität drängt, und um solidarische Selbsthilfe aufzubauen. Viele Jugendliche konnten so ihre Schulbildung abschliessen, einige schafften es sogar an die Universität. Aber dies alles ist noch keine Garantie dafür, dem erwähnten Teufelskreis zu entrinnen.
So zum Beispiel Ruben (Name geändert), der einen Master in Ingenieurwissenschaften erlangte, aber seit über einem Jahr händeringend nach einem Job Ausschau hält. Mit Gelegenheitsjobs hält er sich über Wasser und hilft im Zentrum «Encuentro Afro» mit. Trotzdem bleibt er der Misere und den Versprechungen der Guerilla, der Drogenmafia und der Paras weiter ausgesetzt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Traurig und tragisch. Es ist wissenschaftlich bewiesen, daß soziale Ungerechtigkeit für Krankheiten, Sucht, Kriminalität, Suizid und Bandenkriege verantwortlich ist. Ursache und Wirkung. Wenn es so weitergeht werden die unredlichen der Reichen vielleicht ernten was sie gesät haben. Doch vorher werden sie Mauern bauen müssen und die Welt in Teile aufspalten. Einen Ort für die gesunden und Reichen, und einen Ort für die Armen und Kranken, sowie einen Ort für die welche als Humankapital einen gewissen Wert haben als Handwerker und Dienstleister. Ein Mensch ist nahezu nichts mehr wert in den Augen vieler. Noch nie war die Welt in einem dermassen ethischen Tiefpunkt. Kant, Ghandi, Mandela, Rosenberg und ihresgleichen drehen sich im Grabe um. Wenn kein Wunder geschieht, kein übermenschliches Ereignis, keine Umkehr, war die Evolution vergebens, die Devolution hat schon lange begonnen.
Die Mauern der Reichen und die Aufspaltung der Gesellschaft in Teile sind in Kolumbien längst Realität (wie auch in vielen Teilen von Südamerika). Die Superreichen halten sich neben ihren Villen kleine Privatarmeen. Und die Reichen wohnen in geschützten Sicherheitszonen/Urbanisationen, mit Fallgruben für Autos (Actibumps) und jeglichen Alarmanlagen bei Eingängen, befestigten Zäunen mit Stachel- und Elektrodraht und Patrouillen Tag und Nacht mit MPs und zwei Dobermännern 24 Std. etc. Ja, die Devolution ist da, und zwar seit jeher. Daran haben jede Menge südamerikanischer Revolutionen nichts geändert. Und ja, da wird sich in Zukunft auch nichts ändern. Das ist nicht gut so, aber ist so und wird so bleiben. – Daran wird auch «Ruben» nichts ändern. Uebrigens: Die meisten dieser «Ruben» wandern aus und finden ein besseres Leben. Auch an diesem Kreislauf wird sich nichts ändern.
Das grösste Übel Kolumbiens ist der Drogenhandel. Und der wird blühen, solange er als verboten gilt und solange die Konsumenten in den USA und in Europa nicht vom Konsum ablassen. Sie tragen eine grosse Mitschuld am Elend der Region um Tumaco und anderen Gebieten Südamerikas. Da wäre auch in der Schweiz mehr Aufklärung nötig um zu zeigen, wie viel Blut, wie viele Tote, wie viel Armut und Korruption am Kokainkonsum in den Büroetagen der Finanzzentren und in anderen Hotspots der permanenten beruflichen Überforderung klebt.
Danke, treffende Worte. Bis 1923 war Koka frei in Apotheken erhältlich, so wie auch Cannabis und dessen Derivate. Die politischen und wirtschaftlichen Hintergründe des Verbotes sind den meisten bekannt. In den richtigen Händen können diese Substanzen ein Segen sein. In den falschen Händen sind diese, insbesondere Kokain, sehr gefährlich. Den Kokain als Rauschdroge lässt jegliche Fähigkeit zum Mitgefühl verschwinden. Bänker, Global Players und Politiker ohne Mitgefühl sind der Tod einer jeden Gesellschaft. Kokain in raffinierter Form oder als Crack sind die Drogen der besseren Gesellschaft ebenso wie die Drogen derjenigen welche ganz unten sind. Sie sind eine unterschätzte Gefahr für jede Gesellschaft. Mit diesen Drogen kann man ganze politische Systeme destabilisieren. Ich sehe da einen großen Handlungsbedarf.
Danke für diesen Einblick in eine Welt, die in den Medien fast vollständig abwesend ist. Dass Menschen aus diesem Milieu dank des Zentrums eine Bildungschance erhalten ist wunderbar. Ihr Erfahrungshintergrund könnte in verantwortlicher Stellung Wunder wirken. Umso tragischer zu lesen, dass auch sie arbeitslos bleiben.