Von Jelzins Sturm profitiert Putin noch heute
In Russland spricht man bis heute beschönigend von den «Oktober Ereignissen». Die «Ereignisse» stehen für einen gewaltsamen Konflikt im Oktober 1993 und werfen ein schiefes Licht auf das politische System des neuen Russlands. Im Westen zieht man es vor, die «Ereignisse» zu vergessen, weil sie nicht ins Bild der «friedlichen Umgestaltung in Osteuropa» passen.
Der Lärm der Panzer riss am frühen Morgen des 4.Oktobers 1993 viele Moskauer aus dem Schlaf. «Die um Moskau stationierten Elitetruppen der russischen Streitkräfte hatten am Montagmorgen dem Befehl von Präsident Boris Jelzin Folge geleistet. Um sieben Uhr morgen begannen sie, das Weisse Haus (damals Sitz des Parlamentes) zu beschiessen…» So berichtete ich im «Tages Anzeiger». Das Geschehen beobachtete ich von einem sicheren Ort unter der Kalininbrücke, über die die Panzer zum Weissen Haus rollten.
Aufstand «krimineller Elemente»
Es herrschte eine beklemmende Stimmung: Am gleichen Ort hatte Boris Jelzin im August 1991 den Sitz des russischen Parlaments gegen die Putschisten verteidigt, die im Kreml die Macht ergreifen wollten. Der gleiche Jelzin gab nun aus dem Kreml den Befehl, den Aufstand «krimineller Elemente» einer «faschistisch-kommunistischen Reaktion» niederzuschlagen.
Im Weissen Haus, so ein Augenschein einige Tage zuvor, hatten sich radikale Gegner Jelzins verschanzt. Viele der «Aufständischen» waren aber auch gemässigte Abgeordnete, zahlreiche Frauen und Teenager, die überzeugt waren, mit dem noch gemäss sowjetischer Verfassung gewählten und von Jelzin verfassungswidrig aufgelösten Parlament «Recht und Verfassung» zu verteidigen. Sie glaubten an die «alte Ordnung», weil sie dafür ein ganzes Leben geopfert hatten und die neue Ordnung für sie nichts zu bieten hatte. Jetzt wurde das Weisse Haus, ein Symbol der Hoffnung auf ein demokratisches Russland, auf Befehl Jelzins von Panzer-Granaten durchlöchert.
Was ist tatsächlich passiert ?
Wie sind die «Oktober Ereignisse» wirklich abgelaufen? Wjatscheslaw Datschischew, ein bekannter Historiker und ehemaliger Berater Gorbatschows, vertrat die damals auch von seriösen russischen Medien gestützte These, die Anführer der Opposition, der ehemalige General und Vizepräsident Alexander Ruzkoi sowie Parlamentssprecher Ruslan Chasbulatow, seien in eine Falle gelockt worden. Gezielte Desinformationen hätten sie glauben lassen, die Armee, die Truppen des Innenministeriums und der Geheimdienst unterstützten die Opposition. Tatsächlich war es den Anhängern Ruzkois und Chasbulatows gelungen, das Parlament zu besetzen und später auch die Fernsehzentrale Ostankino zu stürmen, ohne dass sie Sicherheitskräfte daran gehindert hätten.
Geldsäcke für die Panzermannschaften
Auf Geheiss der Regierung musste das russische Fernsehen bereits am Abend des 3.Oktobers den Sendebetrieb einstellen. Ueber die Beschiessung des Weissen Hauses berichtete aber das amerikanische CNN live. Dort war zu beobachten, wie die Panzer der Armee kurz vor dem Angriff zuerst noch mit Munition beladen werden mussten. Für Militärexperten gab es keine Zweifel: Die Truppen hatten ihren Standort überstürzt verlassen müssen, weil der Befehl, nach Moskau vorzurücken, sehr spät erfolgt war. Den Grund der Verzögerung erklärt der langjährige Kremlberater Gleb Pawlowski: Die Panzermannschaften mussten zuerst «gekauft» werden. Dafür seien säckeweise Geld herangeschafft worden, geliefert von den regierungsnahen Oligarchen, den grossen Profiteuren von Jelzins Privatisierung.
Verteilungskampf in der Nomenklatura
Die «Oktober-Ereignisse» waren kein ideologischer Streit, wie ihn Jelzin mit seiner Warnung vor einer «kommunistisch-faschistischen Reaktion» an die Wand zu malen versuchte. Hier fand ein Verteilungskampf zwischen zwei Lagern in der Nomenklatura statt. Im Parlament sassen die Vertreter der lokalen Bürokratien, der Industriedirektoren, der Kolchosen und der Republiken. Sie leisteten Widerstand gegen die Privatisierung, die ihre Entmachtung zur Folge hatte. Der Verteilungskampf wurde gewaltsam zu Gunsten von Jelzins radikalen Wirtschaftsreformen entschieden, die Russlands Rohstoffe, Land und Industrie einer neuen Klasse von Kapitalisten überliessen. Gegenüber den unterlegenen Anführern des Aufstandes wurde grosszügig Gnade vor Recht gewährt. Ruzkoi und Chasbulatow wurden bald aus dem Gefängnis entlassen und erhielten wieder Posten in der Bürokratie.
Gemäss offiziellen Angaben haben die «Oktober-Ereignisse» 146 Tote gefordert. Der amerikanische Radiosender «Radio Liberty» berichtete am 7. Oktober von mindestens 1’012 Toten und vielen Schwerverletzten in den Spitälern. Ein Riesenschock für die Bevölkerung. Die Sowjetunion, der Kommunismus, waren gewaltlos zusammengebrochen. Aber die Einführung des Kapitalismus kostete in Russland einen hohen Blutzoll, weil er in dieser Form auf demokratischem Weg nicht bestanden hätte. Darum wurden damals Jelzins Radikal-Reformer auch als Markt-Bolschewiken beschimpft.
Im Westen wurden die schlimmsten Gewaltausbrüche seit der Oktoberrevolution kaum zur Kenntnis genommen. Entscheidend war, dass Jelzin die Gefahr eines «rot-braunen» Machtwechsels abgewandt und wieder für stabile Verhältnisse gesorgt hatte.
Scheinstabilität bis heute
Garant der neuen Stabilität sollte eine neue Verfassung werden, über die bereits im Dezember abgestimmt wurde, obwohl das Volk den Inhalt der Verfassung nicht kannte. Das mit einem zweifelhaften Mehr angenommene neue Grundgesetz gab dem Präsidenten Vollmachten, die Wirtschaftsreformen per Dekret zu diktieren. Diese Verfassung ist bis heute in Kraft und ermöglichte es Jelzin und seinem Nachfolger, Putin, eine mächtige Exekutive einzurichten, die sich über andere, auch gewählte Institutionen hinwegsetzen kann. Die «Machtvertikale» hat in Russland eine lange Tradition und wurde im postsowjetischen Russland vom Demokraten Jelzin gewaltsam wieder eingeführt.
Die neue Verfassung war aber nur Fassade für eine Scheinstabilität. Die Bevölkerung blieb gespalten. Bei der Parlamentswahl im selben Jahr erzielten die Protestpartei von Wladimir Schirinowski, die Kommunistische Partei zusammen mit der ebenfalls kommunistischen Agrarpartei eine Mehrheit. Dieses Ergebnis war der Ausdruck einer tiefen Enttäuschung über Jelzins chaotische Wirtschaftsreformen. Ein Grossteil der Bevölkerung hatte ihre Ersparnisse verloren, Zehntausende waren ohne Arbeit, viele von ihnen hungerten. Die Menschen waren nicht organisiert und hilflos sich selbst überlassen.
Der Gewaltakt im Oktober 1993 hatte Jelzin in die Abhängigkeit der Generäle gebracht, was ihn ein Jahr später zu einem verhängnisvollen Einmarsch in Tschetschenien bewegte. Der erneute Versuch, einen politischen Konflikt mit Gewalt zu lösen, endete mit einer demütigenden Niederlage der russischen Armee im ersten Tschetschenienkrieg. Jelzins Ruf war entscheidend beschädigt, das Land wurde immer mehr von korrupten Regionalfürsten beherrscht .
Der nächste starke Mann
So war es kein Wunder, begrüsste die russische Bevölkerung im Jahr 2000 Putin als neuen starken Mann und «Retter Russlands». Schon bald brachte dieser seine Kritiker mit einer rigorosen Repression zum Schweigen und könnte jetzt das Land wegen versäumter Reformen erneut in eine Sackgasse führen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Roman Berger berichtete von 1991 bis 2001 als Korrespondent des "Tages Anzeigers" aus Moskau.
Petition:
AMNESTY INTERNATIONAL DEUTSCHLAND, hat eben eine Petition zu dies Sache gestartet.
Mit dem nachfolgenden Link können Sie daran teilnehmen (bitte kopieren):
http://action.amnesty.de/o/8614/t/0/blastContent.jsp?email_blast_KEY=30506
Vielen Dank für Ihr Engagement. hanswitzig