Herero_Ausgehungert

Von deutschen «Schutztruppen» in die Wüste getrieben und ausgehungert © cc

«Völkermord erst seit 1948 ein Straftatbestand»

Urs P. Gasche /  Deutsche Politiker anerkannten das Massaker an afrikanischen Völkern nicht als Völkermord an – mit türkischen Argumenten.

Selbst nach dem nationalsozialistischen Völkermord an 5,6 bis 6,3 Millionen europäischen Juden argumentieren deutsche Bundespolitiker, der Straftatbestand des Völkermords sei erst 1948 geschaffen worden. Deshalb bestünden keine Rechtsansprüche von Opfern.

«Bis 1948 gab es den juristischen Begriff nicht»
Der Reihe nach:

Dogu Perincek, Vorsitzender der Türkischen Vaterlandspartei, in der Schweiz bestens bekannt, weil er in Lausanne den Völkermord an den Armeniern geleugnet hat, verteidigte im Europa-Magazin des ZDF seine Position kürzlich wie folgt:
«Bis 1948 gab es ‹Völkermord› als juristischen Begriff gar nicht. Das heisst, was vorher geschehen ist, kann kein Völkermord gewesen sein, da es kein Straftatbestand gewesen ist.»
In den Jahren 1904-1908 hatte das Deutsche Reich in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika nach Aufständen die Völker Herero und Nama in die Wüste getrieben und von den Wasserquellen abgeschnitten. Fast 85 Prozent dieser Völker, etwa 90’000 Menschen, kamen ums Leben. Erst 2015 bekannte sich die Bundesregierung zum Satz: «Der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904 bis 1908 war ein Kriegsverbrechen und Völkermord.»
Anders der deutsche Bundestag: Er hat seit 2007 insgesamt fünf Anträge abgelehnt, die Verbrechen an den Herero und Nama als Völkermord anzuerkennen.
Der deutsche CDU/CSU-Abgeordnete Egon Jüttner tat dies mit dem Argument:

«Die Rechtsnorm des Völkermords wurde erst 1948 geschaffen, so dass ein Rückbezug nicht möglich ist und Rechtsansprüche daraus nicht abgeleitet werden können.»
Der CDU-Abgeordnete Jüttner ist nicht etwa ein Aussenseiter, sondern Mitglied des Auswärtigen Ausschusses sowie des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe beziehungsweise stellvertretender Vorsitzender des Unterausschusses Vereinte Nationen, Internationalisierung und Globalisierung. Der Türke Dogu Perincek konnte die Aussage des CSU-Politikers übernehmen.
«Keine unnötige Munition liefern»
Vor zwölf Jahren hatte sich eine SPD-Abgeordnete für die Massaker in Deutsch-Südwestafrika wenigstens «entschuldigt». Das ärgerte Christian Ruck, bis 2013 CSU-Bundestagsabgeordneter:

«Ein teurer Gefühlsausbruch. Klagen in Milliardenhöhe gegen Deutschland sollte keine unnötige Munition geliefert werden.»

«Munition» sei eine «besonders fein gewählt Metapher» gewesen, frotzelte die ZDF-«Heute Show», welche nach dem «Spiegel» die obigen Zitate aufgriff:

Ausschnitt aus der «Heute Show» vom 3. Juni 2016 über den Bundestags-Beschluss zum türkischen Völkermord an den Armeniern.

Postkarte vom Anfang des 20. Jahrhunderts

Gefangene des Volkes der Herero


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2 Meinungen

  • am 7.06.2016 um 14:31 Uhr
    Permalink

    Es gibt den Begriff Verbrechen gegen die Menscheit, was Völkermord gleichkommt.
    Im Dritten Reich hat auch keiner etwas gesehen.

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 7.06.2016 um 20:24 Uhr
    Permalink

    Besten Dank für diesen Artikel.

    Ich hätte nicht geglaubt, dass der Deutsche Bundestag so sehr in Schizophrenie abtauchen könnte. Ist das die «Gnade der späten Geburt» ?

    Natürlich hat nicht der Deutsche Bundestag den Armenier-Genozid wie per Zufall entdeckt und für laufende Geschäfte zu instrumentalisieren versucht.

    Dass die aktuellen Verantwortlichen in der Türkei solche historischen Ausrutscher aber quasi ‹provozieren› ist auch ein Zeichen unserer Zeit.

    Wir alle wissen, dass die Türkei nie ‹europäisch› sein kann. Dafür ist das Land schlicht zu gross. Aber Istanbul, wie weiland Prag, Minsk oder Petersburg… sind doch alle Teil einer gemeinsamen historischen Emotion.

    Burokratie in Bruxelles ist nicht alles. Es gibt auch Zusammenarbeitsmöglichkeiten, welche bürokratische Regeln ignorieren können/sollten.

    Negative Spielereien wie der Export der Genocid-Geschichte sollten nicht von den wirklich offenen Fragen ablenken. Schliesslich ist die Globalisierung eine Realität und auch die dümmste Ausgrenzung wird daran nicht viel ändern.

    Das sollte auch Erdogan in bezug auf die Kurdenfrage zur Kenntnis nehmen.

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