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Everyone gets a Gun © dan3k5/flickr/cc

USA: Aufrüstung im Schulzimmer

Jürg Müller-Muralt /  Täglich sterben in den USA 86 Menschen durch Schüsse. Aufgerüstet wird weiter: Immer mehr Lehrer stehen mit Pistole vor der Klasse.

Es ist ruhig geworden um eine Revision der Waffengesetzgebung in den USA. Noch in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres sah es anders aus: Nach dem Amoklauf an der Sandy-Hook-Grundschule in Newtown im Bundesstaat Connecticut vom Dezember 2012 war der Druck der Öffentlichkeit gross, die laschen Waffengesetze etwas zu verschärfen. Beim grössten Massaker an einer amerikanischen Schule kamen 27 Menschen ums Leben, darunter 20 Kinder. US-Präsident Barack Obama setzte sich persönlich für einen restriktiveren Umgang mit Schusswaffen ein, und er wusste eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger hinter sich. Doch mittlerweile sind praktisch alle angekündigten Massnahmen im Sand verlaufen, die landesweite Verschärfung der Gesetze ist gescheitert. Es ist der mächtigen Waffenlobby (NRA) mit massiven Werbekampagnen gelungen, das Ruder herumzureissen.

Erschreckende Zahlen

Das Problem ist dadurch allerdings nicht verschwunden. Die vom früheren New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg ins Leben gerufene Initiative «Everytown for Gun Safety» (EfGS) publiziert erschreckende Zahlen: Seit dem Massaker von Newtown hat es mindestens 74 weitere Schiessereien an Schulen gegeben. Jährlich werden mehr als 31 000 Menschen in den USA durch eine Schusswaffe getötet, das sind durchschnittlich 86 jeden Tag. Die Wahrscheinlichkeit, in den USA durch Schüsse zu sterben, ist gemäss EfGS-Homepage etwa 20 Mal höher als in anderen entwickelten Ländern. Während des achtjährigen Irak-Kriegs fielen rund 3500 US-Soldaten; im gleichen Zeitraum wurden gemäss Zahlen der amerikanischen Bundespolizei FBI 3113 Menschen allein in Philadelphia getötet. In Chicago waren es zwischen 2002 und 2012 rund 5000 Menschen, das sind fast dreimal mehr als die Getöteten auf amerikanischer Seite während der gleichen Zeitspanne in Afghanistan.

Immerhin hat sich seit dem Massaker von Newtown zumindest in einzelnen US-Bundesstaaten etwas bewegt. Die Bilanz ist allerdings nicht sehr ermutigend, wie eine Zusammenstellung in der deutschen Tageszeitung «Die Welt» zeigt. Zwar setzten 21 Staaten, darunter New York und Colorado, zumindest teilweise schärfere Waffengesetze um. Doch zehn Bundesstaaten haben seit dem Amoklauf von Newtown ihre Gesetze eher noch gelockert als verschärft.

Schussbereit im Klassenzimmer

Gleichzeitig zeichnet sich eine besonders beunruhigende Entwicklung ab: Immer mehr Bundesstaaten erlauben Lehrerinnen und Lehrern, eine Waffe bei sich zu tragen. Als jüngstes Beispiel nennt die «Welt» Missouri. Dort wurde vor wenigen Tagen «mit der Zweidrittelmehrheit der Republikaner im Senat ein Gesetz verabschiedet, das Lehrern an Schulen das verdeckte Tragen einer Waffe auch während des Unterrichts generell erlaubt.» Schülerinnen, Schüler und Eltern wissen dabei nicht, welche Erzieherinnen und Erzieher bewaffnet und schussbereit im Klassenzimmer stehen. Dass es dabei auch zu Unfällen kommen kann, ist unvermeidlich: In Utah, wo ein ähnliches Gesetz gilt, hat sich dieser Tage eine wehrhafte Grundschullehrerin kurz vor Unterrichtsbeginn in der Toilette versehentlich ins eigene Bein geschossen; sie liegt mit ernsthaften Verletzungen im Spital.

Das stört die Waffenlobby (NRA) nicht, im Gegenteil, sie will weiter aufrüsten: Ein NRA-Vertreter hat jüngst in einer Videobotschaft auf Youtube nicht nur die durchgehende Bewaffnung der Lehrer, sondern auch der Schüler gefordert. Das Motto: «Everyone Gets a Gun», jeder kriegt eine Waffe.

Schlimmer als bei Kriegsveteranen

Von weiteren «Kollateralschäden» der alltäglichen amerikanischen Waffenpräsenz weiss die unabhängige US-Informationsplattform «Pro Publica» zu berichten: Tausende von Amerikanerinnen und Amerikanern leiden als Folge der anhaltenden Gewalt in Amerikas Innenstädten unter schweren posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD): Albträume, Depressionen, ständige Angstgefühle. Wissenschaftler untersuchten Tausende von Personen, die in Städten wie Detroit und Baltimore mit irgendeiner Form von Gewalt in Kontakt gekommen seien. Rund 30 Prozent der Untersuchten zeigten Symptome von PTSD, «eine Rate die ebenso hoch, wenn nicht höher ist als jene von Kriegsveteranen aus Vietnam, Irak und Afghanistan.» Zwar seien die meisten von ihnen nicht selbst akut gewalttätig, doch zeigten viele ein erhöhtes Risiko zu Aggressivität und Gewaltbereitschaft, vor allem zu häuslicher Gewalt.

Die Forscher machen darauf aufmerksam, die Vernachlässigung ziviler Formen von PTSD als ernstzunehmendes und wachsendes Gesundheitsproblem gefährde zunehmend die öffentliche Sicherheit. Ärzte und Spitäler kümmerten sich meist lediglich um die körperlichen Verletzungen, nicht jedoch um die psychischen. Im Gegensatz zu den militärischen Gewaltopfern gebe es kein Kriegsveteranenministerium, das sich um die Behandlung der Patienten kümmere.

Immerhin, so schreibt «Pro Publica», wachse das Bewusstsein von Gesundheitspolitikern, Medizinern, Lehrkräften und Polizei, dass es sich um ein grosses Problem der öffentlichen Gesundheit handle und Gegenmassnahmen notwendig seien. Einer, der sich grosse Verdienste um die Lösung dieser Fragen erworben hat, ist Arthur C. Evans vom Gesundheitsdepartement von Philadelphia. Er appelliert an die Öffentlichkeit: «Jemand muss aufstehen und klar und deutlich sagen: Wir haben in den USA wegen der anhaltenden Schusswaffengewalt sehr viele schwer traumatisierte Leute. Und es betrifft eben nicht nur jene, die selbst angeschossen, sondern auch jene, die Zeugen dieser Gewalt werden».


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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Eine Meinung zu

  • am 17.09.2014 um 19:39 Uhr
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    Da bekommt der Begriff ABC-Schützen endlich die verdiente Bedeutung.

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