Krim

Russische Soldaten markieren Präsenz auf der Krim-Halbinsel © SRF

Ukraine: Ost und West – von der Krise überrumpelt

Roman Berger /  Moskau, Washington und Brüssel haben den Konflikt in der Ukraine zu spät erkannt. Das war auch eine Folge mangelnder Expertise.

Im Westen ist die Meinung verbreitet: Putin ist ein knallharter Strippenzieher und sitzt fest im Sattel. Die seriöse Moskauer Wochenzeitung «Kommersant Vlast» zeigt ein anderes Bild. In einer umfangreichen Recherche stellten drei Journalisten Regierungsmitgliedern und Kremlinsidern die Frage: «Wer beeinflusst die Kreml-Politik in der Ukraine ?» (4. März 2014). Die Befragten berichten, wie unsicher und zum Teil auch naiv sich Moskau in der gegenwärtigen Krise verhalte.

Angst vor Handelskrieg

Zum Beispiel: Moskau habe erst spät, im Herbst 2013, die Stossrichtung des EU-Assoziierungsvertrages verstanden, dessen Ablehnung durch Präsident Janukowitsch im November die Protestbewegung in Kiew provozierte. Nach einer genauen Analyse des Vertragstextes, so ein russischer Diplomat gegenüber der Zeitung, seien den Experten in Moskau «die Haare zu Berge gestanden». Das Abkommen hätte der EU die Möglichkeit gegeben, über ukrainische Firmen Produkte als ukrainische Waren zu deklarieren und so fast zollfrei nach Russland einzuführen. Die EU habe die Ukraine als «Trojanisches Pferd» benützen wollen, um in den russischen Markt mit seinen 140 Millionen Einwohnern einzudringen. Aus russischer Sicht drohte ein Handelskrieg und weniger ein politischer Kampf zwischen Europa und Russland.
Ein weiteres Beispiel: Der im Westen als pro-russisch eingestufte und inzwischen abgesetzte Präsident Janukowitsch habe in Moskau nicht als Alliierter gegolten. So habe die russische Regierung Janukowitsch dringend geraten, seine Rivalin Julia Timoschenko nicht vor Gericht anzuklagen. Stattdessen landete Timoschenko im Gefängnis, was sie in den Augen der Bevölkerung zu einer Märtyrerin machte.

Putin ist überfordert

Gleb Pawlowski, ein langjähriger Berater und heute Kritiker Putins, macht auf analytische und strukturelle Schwächen in der Kreml Administration aufmerksam: «Alle erwarteten, dass Präsident Putin allein entscheiden werde. Anstatt den Präsidenten mit den wichtigsten Informationen zu versehen, wurde er mit nicht verifizierten Nachrichten überschwemmt.» Mit anderen Worten, die Präsidialverwaltung versagte, der es heute zudem an Ukraine-Experten fehle. Und dies ausgerechnet im wichtigsten Nachbarland. Gerade weil man sich im Kreml im «Brudervolk» so sicher gefühlt habe, so vermutet «Kommersant Vlast», seien nicht die bestqualifizierten sondern zweit- und drittklassige Leute mit guten persönlichen Beziehungen zum Kreml nach Kiew geschickt worden.

Opfer eigener Propaganda

Wie zur Zeit der Orangen Revolution 2004 sei Moskau ein Opfer seiner eigenen Schwarz-Weiss-Propaganda geworden. «Kommersant Vlast» zitiert Fyodor Lukyanow, den Präsidenten des einflussreichen Rates für Aussen- und Verteidigungspolitik: «Die russische Regierung hat es verpasst, mit der gemässigten Opposition Kontakt aufzunehmen. Dies wiederum hat die Analyse und die möglichen politischen Optionen für die russische Regierung stark eingeschränkt.»

Es erstaunt deshalb nicht, dass der Beschluss, auf der Krim militärisch zu intervenieren, nicht vom Nationalen Sicherheitsrat sondern von einem kleinen Zirkel von Putin-Vertrauten und ehemaligen KGB-Veteranen gefällt worden ist («International New York Times» 8. März 2014). Nicht einbezogen wurden Vertreter des Aussenministeriums, das heute unter höchstem Druck eine diplomatische Lösung im Konflikt suchen sollte.

Für Washington war die Ukraine nicht wichtig

Auch der Westen ist von der Krise überrascht worden und hat die Bedeutung des Konflikts lange falsch eingeschätzt. Zu dieser Einschätzung gelangt das «Wall Street Journal» (4. März 2014). So glaubte die US-Regierung, das Dossier Ukraine könne Brüssel überlassen werden, Washington habe nur eine unterstützende Rolle zu spielen. Heute aber befinde sich Washington plötzlich an vorderster Front eines Ost-West-Konflikts, auf den die Obama Administration nicht vorbereitet sei. So lässt sich die in Washington und Brüssel recherchierte Analyse des Wirtschaftsblattes zusammenfassen.
Das «Wall Street Journal» erinnert an die Doktrin der Regierung Obama, wonach die USA sich nach mehr als einer Dekade von kostspieligen Kriegen mehr mit ihren innenpolitischen Problemen beschäftigen müssten. Zudem sei die Ukraine, so die Meinung in Washington, für Europa und Russland, aber nicht für die USA wichtig. In Brüssel hingegen habe man das Gefühl gehabt, in der komplexen Ukraine-Frage von den USA allein gelassen zu werden.

«Nur kein neuer Konflikt mit Moskau»

Noch im November habe man sich auf eine Arbeitsteilung geeinigt. Brüssel solle dafür sorgen, dass Kiew das Abkommen mit der EU unterzeichne. Die USA ihrerseits würden mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) verhandeln und dafür sorgen, dass Kiew harten Wirtschaftsreformen zustimmen werde. «Das Letzte, was die Obama Administration wollte, war ein neuer Konflikt mit Russland. Die Beziehungen mit Moskau waren genug belastet. Putins Unterstützung für Assad in Syrien und die Asylgewährung für Snowden machten ein ‚Reset’ noch schwieriger, wie in Washington ein Versuch bezeichnet wurde, die amerikanisch-russischen Beziehungen neu zu starten.»

Wie in Moskau werden auch in Washington strukturelle Schwächen und fehlende Analyse thematisiert. Der Zufall will es, dass ausgerechnet in der aktuellen Krise ein schon lange geplanter Wechsel des US-Botschafters in Moskau stattfindet. Der abtretende Botschafter Michael A. McFaul ist kein Karrierediplomat und kehrt an die Stanford Universität zurück, wo der bekannte Russland-Experte wieder eine Professur übernimmt.

McFaul konnte als Student in der damaligen Sowjetunion studieren dank einem Stipendienprogramm, das im vergangenen Herbst von der US-Regierung aus Spargründen eingestellt wurde. Zur Zeit des Kalten Krieges gab es an Amerikas führenden Universitäten ganze Abteilungen, die sich «Sowjet-Studies» widmeten. Nach dem Verschwinden der Sowjetunion war auch der Feind und damit das Interesse an Russland verschwunden.

Verhängnisvolle Asymmetrie

«Russland beobachtet uns sehr wohl,» meint McFaul («New York Times», 7. März 2014). «Die russische Seite nimmt uns weiterhin als drohende Gefahr wahr. Für uns aber ist Russland keine Gefahr mehr. Diese Asymmetrie spürte ich als Botschafter am meisten.» Am schlimmsten für Russland jedoch ist fehlendes Interesse und Indifferenz. Und das bekommt heute auch Europa zu spüren.


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