Über 150 000 Vertriebene wegen Fussball-WM
Sonntag, 22. Januar 2012, morgens um 6.00 Uhr: 2 000 Militärpolizisten der «Tropa de choque» (Schockeinheit) rücken ins Armenviertel Pinheirinho von São Paulo vor und räumen die Siedlung mit Tränengas und Schlagstöcken. Auf Youtube-Videos sieht und hört man schreiende Erwachsene und Kinder, die vor den Schlägertrupps und dem Tränengasnebel flüchten (siehe Link unten). Ein Elternpaar flieht mit einem Kinderwagen über die holprige Strasse. Es sind kriegsähnliche Zustände. Mehrere Personen werden verletzt, darunter Frauen und Kinder. Die 9 000 Bewohnerinnen und Bewohner werden zwangsumgesiedelt. Ihre Behausungen werden plattgewalzt.
«Die Gewinne fliessen in private Taschen»
Raquel Rolnik, UN-Berichterstatterin für das Recht auf angemessenes Wohnen, rechnet mit über 150 000 Zwangsumsiedlungen in den brasilianischen WM-Städten. In einem Interview mit der tageszeitung taz (siehe Link unten) hält Rolnik fest, dass dadurch noch mehr Obdachlose produziert werden: «Wenn Menschen für Straßen, Flughäfen oder im Umfeld von Stadien umgesiedelt werden, ohne dass sie gleichwertigen Wohnraum bekommen, wachsen die Armenviertel. Wenn du nicht genug Geld für ein neues Haus bekommst, besetzt du Land an der Peripherie.»
Solidar Suisse hat kürzlich mit einem Sepp Blatter-Tanz-Video auf diese skandalösen Vertreibungen aufmerksam gemacht. Laut Solidar Suisse werden die Versprechungen im Vorfeld der WM nicht eingehalten: Die Vertriebenen werden an Orte am äussersten Rand der Städte umgesiedelt, wo es kaum Arbeit, Schulen oder Gesundheitsversorgung gibt. Die Abfindungen sind so niedrig, dass sie bei weitem nicht für eine angemessene Unterkunft reichen. «Die Gewinne fliessen hingegen in private Taschen», wie Solidar Suisse schreibt. Die UN-Berichterstatterin Rolnik spricht von massiver Boden- und Immobilienspekulation.
Die linke Regierung hat sich «der Kultur der Vetternwirtschaft» angepasst
Die linke Regierung unter der Präsidentin Dilma Rousseff steht diesen Vertreibungen offenbar hilflos gegenüber. Raquel Rolnik, welche unter dem damaligen Präsidenten Lula da Silva im Ministerium für Städtebau arbeitete und zu den Gründerinnen der brasilianischen Arbeiterpartei «Partido dos Trabalhadores» gehört, ist enttäuscht über die unsoziale Entwicklung in Brasilien. Im Interview mit der taz erklärt sie, dass die Arbeiterpartei in der Regierung «ihr historisches Engagement für die urbane Reform aufgegeben» und sich der politischen Kultur Brasiliens – der Vetternwirtschaft – angepasst habe.
Laut Rolnik will Rousseff durch Wirtschaftswachstum das Elend beseitigen, «aber darüber hinaus läuft nichts. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir im Land und im Parlament eine konservative Hegemonie haben. Das brasilianische Modell ist sehr schizophren.»
Das Szenario der WM in Südafrika darf sich nicht wiederholen
Mit der WM in Südafrika wurden 20 000 Menschen vertrieben. Der Mega-Anlass brachte der FIFA drei Milliarden Gewinne und dem Staat Südafrika drei Milliarden Verluste. Laut Solidar Suisse darf sich dieses Szenario in Brasilien nicht wiederholen. Deshalb fordert Solidar Suisse die FIFA auf, ihre soziale Verantwortung endlich wahrzunehmen. Konkret heisst das:
1. Keine Vertreibungen von Strassenhändlerinnen und Strassenhändlern und keine «Säuberungen» der Favelas zur Imagepflege. Wenn Umsiedlungen zwingend sind, müssen die Betroffenen angehört und angemessen entschädigt werden.
2. Keine Ausbeutung für die Fussball-WM: Die FIFA muss für die Einhaltung von fairen Arbeitsbedingungen und für faire Löhne sorgen.
3. Von den Milliarden-Gewinnen der WM muss auch das brasilianische Volk profitieren: Alle Profiteure der WM sollen auf ihre Gewinne Steuern bezahlen. Das gilt auch für die FIFA.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
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