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Twitter-Webseite in der Türkei: Überall Anleitungen, wie man die Sperre umgehen kann © nr

Twitterzensur ist weiterer Schritt zu Polizeistaat

Hakki Keskin /  Korruptionsskandale treiben Ministerpräsident Erdogan zunehmend zu polizeistaatlichen Massnahmen. Es stehen Gemeindewahlen bevor.

Der Tod des 15-Jährigen Berkin Elvan führte zu landesweiten Massenprotesten, an denen Hunderttausende teilnahmen. Berkin starb, nachdem er mit einem Tränengaskanister am Kopf durch die Polizei getroffen wurde und sich neun Monate lang im Koma befand. Die Proteste zeigten auch die Wut gegen öffentlich gewordene Korruptionsskandale, an denen Erdogan und vier seiner Minister und ihre Söhne beteiligt sind.
Bei den Massenveranstaltungen im Rahmen der bevorstehenden Kommunalwahlen am 30. März sind die das Land erschütternden Korruptionsskandale das beherrschende Thema. Hierbei geht es um insgesamt weit über 100 Milliarden Euro. Dies entspricht mehr als den gesamten Exporteinnahmen der Türkei im vorigen Jahr. Erdogan und sein Sohn Bilal scheinen darin direkt verwickelt zu sein.
Beweismaterial wird vernichtet
Oppositionsparteien berufen sich auf Erkenntnisse und Beweise der ermittelnden Staatsanwälte und Polizeichefs sowie abgehörte Telefongespräche zwischen Erdogan und seinem Sohn. Oppositionsparteien und ein Grossteil der Bevölkerung verlangen eine schonungslose Aufklärung durch Gerichte. Jedoch wurden längst Hunderte zuständige Staatsanwälte, Richter und mehr als 5500 Ermittlungsbeamte und Polizisten durch Amtsenthebungen und Versetzungen auf weit entfernte Landesteile verlegt. Die neu eingesetzten Staatsanwälte liessen laut Presseberichten die ermittelten Beweismaterialien ab dem 15. Dezember 2013 vernichten.
Laut mehrerer Telefongespräche vom 18. Dezember zwischen Erdogan und seinem Sohn Bilal sollen sich in dessen Haus mehr als eine Milliarde Dollar befunden haben. Erdogan habe seinen Sohn aufgefordert, dieses Geld aus dem Hause zu schaffen. Während der Ministerpräsident von einer manipulierten Montage spricht, beharrt Oppositionsführer Kiliçdaroglu auf Echtheit, die er von Fachleuten überprüfen liess. Oppositionelle fordern Erdogan seit langem vergeblich auf, die Telefonate bei den dafür spezialisierten Einrichtungen prüfen zu lassen.
Erdogan befindet sich in der bisher schwierigsten Lage seiner elfjährigen Amtszeit. Viele seiner Behauptungen bei seinen Massenkundgebungen und Fernsehsendungen während des Stimmenfangs bei den religiös orientierten Wählern erwiesen sich nachweislich als falsch. So wurde seine Glaubwürdigkeit stark erschüttert.
Polizeistaatliche Massnahmen auch zur Verschleierung der Korruption
In dieser Lage versucht er sich dadurch zu retten, die Justiz und die Geheimdienstorganisation mit neuen Gesetzen unter absolute Kontrolle der Regierung zu bringen. Mit neuen Versetzungen und Stellenbesetzungen versucht die Regierung die Polizei regierungstreu zu gestalten. Ebenfalls mit neuen Gesetzen und Verordnungen versucht er die sozialen Medien Internet, YouTube und Facebook gegebenenfalls zu verbieten und die Pressefreiheit noch mehr einzuschränken.
Twitter wurde in der Türkei verboten, mit der Begründung, es lägen zwei Gerichtsentscheide vor. Diese Gerichtsentscheide beziehen sich jedoch auf konkrete Beschwerden, so dass lediglich die betreffenden Seiten des Twitters hiervon betroffen wären, nicht aber die Schliessung des gesammten Twitters.
In einem abgehörten Telefonat verlangt er von seinem ehemaligen Justizminister Sadullah Ergin, dafür zu sorgen, dass Aydin Dogan, Inhaber eines regierungskritischen Medienunternehmens, bei dem laufenden Prozess nicht frei kommt. Erdogan hat erstaunlicherweise die Echtheit dieses Telefonats bestätigt und erwidert, was denn dabei sei, wenn er «seinen Justizminister auffordert, sich um diesen Prozess zu kümmern.» Allein dies zeigt, welches Verständnis Erdogan von der Gewaltenteilung hat.

In einem Telefonat hat Erdogan wegen eines kritischen Berichts den Inhaber der Zeitungen Milliyet und Vatan ganz massiv beschimpft und verlangt, den bekannten Journalisten Derya Sazak zu kündigen, was auch unmittelbar geschah. Auf diese Weise wurden Hunderte namhafter Journalisten in den letzten Jahren entlassen. Manche von ihnen sind jedoch heute in neugegründeten regierungskritischen Zeitungen und Fernsehanstalten tätig, die zunehmend grosse Beachtung erfahren.
Zeitung und TV-Kanal gekauft
Es war Ziel der Regierung Erdogans, vor allem die Justiz und die Medien unter eigene Kontrolle zu bringen. Neuerdings wurde bekannt, dass Ministerpräsident Erdogan seinen Vertrauten, Verkehrsminister Binali Yildirim, beauftragt hat, von vermögenden Geschäftsleuten je 100 Millionen Dollar zu besorgen, damit die Zeitung Sabah und der Fernsehkanal atv gekauft werden können. Tatsächlich wurden dafür 630 Millionen Dollar von Bauunternehmen bereit gestellt, und somit wurden beide Medien absolut regierungstreu. Den grosszügigen «Spendern» sollen im Gegenzug bei staatlichen Ausschreibungen Aufträge im Werte von rund 44 Milliarden Dollar vergeben worden sein.
In einem anderen abgehörten Telefonat, dessen Echtheit ebenfalls durch Erdogan bestätigt wurde, verlangt er von dem Unternehmensvorsitzenden Metin Kalkavan, den Auftrag für den Bau eines Kriegsschiffes nicht an den Industriekonzern Koç zu geben, obwohl die Ausschreibung bereits zu Gunsten von Koç entschieden war. Daraufhin wurde der Auftrag an Koç annulliert. Heute ist ganz eindeutig, dass Erdogan sich in allen Bereichen direkt einschaltet, um überall die Lage in seinem Sinne zu gestalten.
Den Korruptionsskandalen seiner Regierung und seiner selbst begegnet er mit der Behauptung, das Ganze sei «eine Verschwörung gegen seine Regierung, gegen das Land und gegen ihn selbst», vor allem unter Beteiligung ausländischer Kräfte. Hierbei greift er mit allen Mitteln die Bewegung des in den USA lebenden islamischen Predigers Fetullah Gülen an. Gülen habe einen «Parallelstaat im Staat errichtet», der Justiz und Polizei unterwandert, so Erdogan. Obwohl er und seine Regierung bis zum Korruptionsskandal Ende des vorigen Jahres mit der Bewegung Gülens Hand in Hand und sehr eng zusammengearbeitet hatte. In unzähligen Reden haben er und seine Minister die Bewegung Gülens stets gelobt.
Die sehr gut und sicherlich mit viel Geld organisierten und mit der Kunst der Demagogie Erdogans beherrschten täglichen Massenveranstaltungen zu den Kommunalwahlen, die von zahlreichen Fernsehanstalten live und in vielfältigen Wiederholungen übertragen werden, kommen offensichtlich bei einem Drittel der Bevölkerung weiterhin gut an. Dennoch, Erdogan wird bei diesen Wahlen ganz erheblich an Stimmen verlieren. Laut neuer Umfragen glauben rund 70 Prozent der Befragten an Korruptionen der Regierung. Knapp so viele sind der Meinung, dass die Regierung Einfluss auf die Justiz ausübt.

Siehe «Erdogan verletzt Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger» vom 3.1.2014

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Nach abgeschlossenem Politologie-Studium in Deutschland kehrte Hakki Keskin für zwei Jahre als Planungsberater in den Stab des türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit in die Türkei zurück. Von 1980 bis 1982 war Keskin wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin. 1982 wechselte er als Professor für Politik und Migrationspolitik nach Hamburg. Von 1995 bis 2005 war Keskin Gründungsvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland. 2005 trat er aus Protest gegen die Regierungspolitik aus der SPD. Von 2005-2009 gehörte er der Linksfraktion im Deutschen Bundestag an.

Zum Infosperber-Dossier:

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