Tunesien in der Woche vor den Wahlen
Tunis. Das nächste Wochenende der Wahlen sei «ein wahres Wunder», meint die Zeitung. Aus Sicht der Tunesier sind die freien Wahlen tatsächlich ein Wunder. Ohne grosses Blutvergiessen wurde das totalitäre Regime Ben Alis weggefegt. Heute kann man mit Taxichauffeuren, Hoteliers oder Ladenbesitzer ohne weiteres über Politik diskutieren, während sie vor dem Sturz Ben Alis fast immer das Thema wechselten, sobald man eine politische Frage stellte.
Vor dem Sturz der Diktatur waren die Zeitungen reine Propaganda-Organe der Regierung, gefüllt mit Bildern Ben Alis und seinen Reden, nicht die geringste Kritik war erlaubt. Heute gibt es pluralistische Forumszeitungen. Die mutige Preisträgerin des Friedensnobelpreises, Tawakul Karman aus Yemen, wurde mit Bild und Text gewürdigt – noch vor einem Jahr unvorstellbar.
Das alte Regime hatte «Reporter ohne Grenzen» des Landes verwiesen und ihnen die Einreise verweigert. Als diese Menschenrechtsorganisation kürzlich in Tunis eine Niederlassung eröffnete, schrieben Zeitungen von einer «willkommenen Unterstützung der Medienfreiheit». Die Organisation sei «mit offenen Armen empfangen» worden, weil diese Organisation darüber wache, dass die erlangte Freiheit nicht wieder eingeschränkt werde.
Das Regime Ben Alis hatte sich auf ein Netz von Polizisten und Spitzel gestützt, das im Verhältnis zur Bevölkerung dichter war als dasjenige der DDR. Unterdessen werden Polizei und Vollzugsbehörden zeitweise als zu abwesend empfunden. Etliche versuchen davon zu profitieren. Beispielsweise werden auf bisher verbotenem Terrain um Städte oder in Bauverbotszonen unmittelbar am Meer in Eile Häuser gebaut, bevor eine neue Regierung wieder für eine Raumplanung sorgt.
Die Wahl vom nächsten Sonntag
Am kommenden Wochenende wählen die Tunesierinnen und Tunesier 217 Abgeordnete, die innerhalb rund eines Jahres eine demokratische Verfassung ausarbeiten sollen. Dieser Verfassungsrat wird auch einen Übergangspräsidenten und eine Übergangsregierung wählen, die dem neuen Rat Rechenschaft ablegen müssen.
Für die 217 Sitze stellen sich 10’937 Kandidaten auf 1570 verschiedenen Listen zur Wahl. In praktisch allen Ortschaften Tunesiens hängen Wahlplakate in A4-Grösse ordentlich nebeneinander. Alle Listen sollen eine gleiche Chance haben. Im Radio können sich die Listen während drei Minuten selber vorstellen. Im Vorfeld der Wahlen wurde in den Medien ausgiebig darüber diskutiert, wie ausgewogen und fair die Massenmedien mit den Listen umgehen sollen und können.
Auf die Spitzenplätze der Listen haben es nur 292 Frauen geschafft berichtet «Tunis Hebdo». Ein Viertel aller Kandidaten seien jünger als dreissig Jahre alt.
Zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit im Jahr 1956 ist es nicht das Innenministerium, das die Wahlen organisiert (und manipuliert), sondern eine eigens geschaffene, breit abgestützte Wahlbehörde unter Führung von Kamel Jendoubi, der nach 17 Jahren Exil nach Tunesien zurückgekehrt ist. Hunderte von Freiwilligen aller Schichten und politischen Richtungen sollen darüber wachen, dass das Wahlgeheimnis gewahrt bleibt und das Auszählen korrekt erfolgt.
Es gebe noch einige «Nischen des Widerstands», stellte Jendoubi fest. Doch die «allgemein euphorische Stimmung» habe Konterrevolutionäre in die Defensive gedrängt.
Jendoubi geniesst hohes Ansehen, nicht zuletzt auch deshalb, weil er nach erfolgten Wahltag keinerlei politische Ambitionen hegt.
Spürbare Aufregung
Überall in Tunesien ist eine Aufregung spürbar, ob es tatsächlich gelingt, nach einer Jahrzehnte dauernden Diktatur ohne Medienfreiheit, ohne Versammlungs- und Organisationsfreiheit in so kurzer Zeit einigermassen demokratische und faire Wahlen durchzuführen. Die breit diskutierten Vorbereitungen zur Wahl und die friedlichen Auseinandersetzungen zwischen Kandidaten haben weite Teile des Volkes zu Recht auch stolz gemacht.
Es wird erwartet, dass die Liste an-Nahda der Vertreter eines gemässigten Islams unter Rached Ghannouchi im Verfassungsrat am meisten Sitze gewinnt, wenn auch nur eine Minderheit. Der Historiker und muslimische Philosoph Mohamed Talbi plädiert für eine Verfassung, die in der Präambel festhält, dass der Staat ein laizistischer sein soll, in dem die Muslime und die Araber eine Mehrheit bilden und arabisch die Amtssprache ist. Die Scharia sei erst im Jahr 804 entstanden: «Die Muslime haben vorher bereits zwei hundert Jahre lang ohne Scharia gelebt.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine