Türkei: Mit Krieg Wahlen gewinnen – oder auch verlieren
Türkische Politiker zitieren gerne ein altes Liebeslied, wenn sie dem Volk einen bevorstehenden neuen Krieg ausserhalb der Landesgrenzen ankündigen wollen. «Ich könnte eines Nachts unerwartet zu dir kommen», sagte im Sommer 1974 der türkische Regierungschef und Dichter Bülent Ecevit, bevor er die Invasion der türkischen Truppen auf der Mittelmeerinsel Zypern anordnete. Der Krieg auf Zypern lenkte von den scharfen innenpolitischen Konflikten ab und bescherte dem damals angeschlagenen Sozialdemokraten Ecevit einen überwältigenden Wahlsieg.
«Ich könnte eines Nachts unerwartet zu dir kommen», deklarierte Anfang Jahr auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Kurz danach liess er die türkische Armee in Nordsyrien einmarschieren und die angrenzende mehrheitlich von Kurden bewohnten Provinz Afrin besetzen. Erdoğans Popularitätswerte schnellten in der Türkei in die Höhe – fast drei Viertel der türkischen Bevölkerung gaben in nationalistischer Aufwallung an, die Belagerung Afrins gutzuheissen.
«Ich könnte eines Nachts unerwartet zu dir kommen», zitierte Erdoğan letzten März einmal mehr das alte Liebeslied und liess seine Anhänger in entzückter Ungewissheit, ob er damit eine Fortsetzung der türkischen Offensive in Syrien oder doch eine neue Front anderswo meinte. Erst allmählich sickerte in der Presse durch, dass türkische Spezialeinheiten am 10. März in den Nordirak einmarschiert und inzwischen in ein Gebiet bis zu 30 Kilometer tief vorgerückt sind.
Einmarsch in Syrien und Irak soll Stimmen bringen
Dass es sich in Syrien wie im Nordirak um völkerrechtswidrige Militäroperationen handelt, scheint die Weltgemeinschaft vorerst wenig zu kümmern. Die USA, Russland und die EU sind mit ureigenen Problemen konfrontiert und lassen die Türkei gewähren. So nützt Erdoğan die Wahlkampagne, um öffentlich zu verkünden, er werde die kurdische PKK in ihrem nordirakischen Hauptquartier zerschlagen, «den Kopf der Schlange zermalmen», sagt er und verspricht seinem Volk noch mehr Krieg.
Vom dramatischen bewaffneten Konflikt in Syrien und im Nordirak verspricht er sich bei den anstehenden Wahlen nämlich fünf Prozentpunkte mehr Wählerstimmen. Die hat der heute stärkste Mann in der Türkei auch nötig, um weiterhin im Alleingang das Land regieren zu können. Der Krieg funktioniere in der Türkei immer, heisst es oft in seiner Umgebung. – Immer?
Als Erdoğan im März vorgezogene Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 24. Juni 2018 ankündigte, waren er und seine Wahlstrategen überzeugt, er werde bereits im ersten Wahlgang einen deutlichen Sieg davontragen. Schliesslich hat das Gespann Erdoğan-AKP keinen einzigen Urnengang an ihre politischen Opponenten verloren, seit die Wähler 2002 die damals noch unbekannte AKP und ihren charismatischen Vorsitzenden Erdoğan ins Zentrum des politischen Geschehens der Türkei katapultiert hatten. Erdoğan schloss eine Allianz mit der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die seine kriegerischen Abenteuer in Syrien und in Irak blind unterstützt und nannte sie «Allianz des Volkes». «Starke Regierung, starke Türkei» ist das Motto dieser Allianz.
Die Opposition, vom vorgezogenen Wahlgang anfänglich überrumpelt, raffte sich alsbald ebenfalls zu einer erstaunlichen Allianz zusammen. Die kemalistische «Republikanische Volkspartei» (CHP), die Säkularismus zu ihrer höchsten Priorität macht, schloss sich mit der betont religiösen «Partei der Glückseligkeit» (SP) und der rechtsnationalistischen «IYI-Partei» zusammen. Eine Zusammenarbeit zwischen so ungleichen Partnern schien noch bis vor wenigen Monaten in der Türkei völlig undenkbar.
Schwächelnde Wirtschaft gibt der Opposition Auftrieb
«Allianz der Nation» nennt sich das Lager der Opposition. Dieses ist sich offensichtlich bewusst, dass es bei diesen Wahlen um mehr geht als bei allen Wahlgängen seit der Einführung des Mehrparteiensystems in der Türkei Anfang der 1950-er Jahre. Sollte Erdoğan an diesem Sonntag der Wahlsieger sein, wird die Türkei unwiderruflich zu einem autoritären Präsidialsystem übergehen, in dem alle Macht des Staates in den Händen eines einzigen Mannes, nämlich Erdoğans, konzentriert ist. Das Parlament wird degradiert.
Die «Allianz der Nation» verspricht deshalb den Wählern, das parlamentarische System wiederherzustellen und den Rechtsstaat in der Türkei zu stärken. Die schwächelnde Wirtschaft gibt ihr zusätzlichen Aufwind: Seit Beginn dieses Jahres verliert die türkische Währung gegenüber dem Dollar oder dem Euro unaufhaltsam an Wert, während die Inflation steigt. Beides zusammen bringt die Wirtschaftswelt in Bedrängnis und kostet das Regierungslager die Gunst der Wähler.
Den Krieg jenseits der Landesgrenze wagt sie hingegen nicht ausdrücklich abzulehnen. Die Bemühungen der oppositionellen Allianz konzentrieren sich darauf, einen Sieg Erdoğans bei der ersten Wahlrunde am kommenden Sonntag abzuwenden. Erdoğan braucht mehr als 50 Prozent, um die Präsidentschaftswahl in der ersten Runde zu gewinnen. Bleibt er darunter, wird er zu einer Stichwahl am 8. Juli gezwungen. In einem solchen Fall hätte, so die Hoffnung der Opposition, der von Erdoğan angestrebte Wechsel des Regierungssystems aber viel an Legitimation eingebüsst.
Bekommt Erdoğan jetzt die Quittung der Kurden?
Die einzige Partei, die in der Türkei den Krieg ohne «Wenn und Aber» ablehnt, ist die pro-kurdische Demokratiepartei der Völker (HDP). Mit dem Versprechen, in der Türkei für mehr Demokratie, für einen Rechtsstaat und für Frieden einzustehen, hatte die HDP bei den Wahlen im Juni 2015 über 13 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigt und konnte als erste pro-kurdische Partei in der Geschichte der Republik Türkei den Einzug ins Parlament schaffen. Der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas schien in Bezug auf Charisma und Rhetorik dem Präsidenten Erdoğan ebenbürtig und wurde dafür als «Obama der Kurden» gefeiert. Ein breiteres Spektrum auch von türkischen Liberalen und Linken unterstützten damals die HDP.
Der Wahlsieg der prokurdischen Partei raubte allerdings Erdoğans AKP die absolute Mehrheit im Parlament. Kurz nach den Wahlen stellte Erdoğan die Friedensgespräche mit der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) ein. Der Krieg im kurdischen Südosten der Türkei und eine beispiellose Repression gegen die politisierten Kurden fingen an. Seitdem wanderten über 6000 HDP-Mitglieder hinter Gitter. Die 58 gewählten HDP-Bürgermeister wurden ihres Amtes enthoben. Seit November 2016 sitzen auch die zwei ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP, Figen Yüksekdag und Selahaddin Demirtas, in Untersuchungshaft. Sie werden alle unisono der Terror-Propaganda beschuldigt. Sollte Demirtas schuldig gesprochen werden, droht ihm eine Haftstrafe von 142 Jahren.
«Habt keine Angst», rief Demirtas die Wähler in einem Wahlspot auf, den das Staatsfernsehen TRT letzten Sonntag ausstrahlte. «Wir sind unzählig viele Menschen, sie nur ‹ein Mann›». Demirtas kandidiert bei diesen Präsidentschaftswahlen für seine Partei aus dem Knast. «Legt eure Hoffnung in die Urnen, nicht eure Furcht», fügte er eindringlich hinzu. Die Ansprache, die bei HDP-Wahlkampf-Kundgebungen auf Grossleinwänden gezeigt wird, war Tage zuvor im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne aufgezeichnet worden.
«Ich könnte eines Nachts unerwartet zu dir kommen», verkündet Erdoğan nun bei seinen Wahlauftritten und erklärt, die türkische Armee sei dabei, in der syrischen Stadt Manbidsch sowie im nordirakischen Schidschar einzumarschieren.
Doch das ist geradezu die Ironie der Geschichte: Erdoğan führt seit 2015 einen gnadenlosen Krieg gegen die Kurden im eigenen Land, in Syrien und im Nordirak und spielt sich als unangefochtener Alleinherrscher auf. Gleichzeitig ist er aber auf die Stimmen der kurdischen Wählerinnen und Wähler angewiesen. Von ihren Stimmen hängt es ab, ob er diese Machtposition sichern kann oder nicht.
Kurden stellen in der Türkei ein Fünftel der Bevölkerung. Bislang hatten die konservativen kurdischen Wähler traditionell Erdoğan gewählt. Der Krieg in ihrer Region hat aber auch sie erzürnt. Wenden sie sich jetzt von Erdoğan ab, kann er die erste Wahlrunde nicht gewinnen. Wenn die HDP diesen Sonntag zudem noch einmal die 10-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament schafft, dann droht die AKP wie 2015 die absolute Mehrheit im Parlament zu verfehlen. Die Kurden sind bei diesen Wahlen das Zünglein an der Waage.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.