Türkei: Journalisten müssen in Haft bleiben
Das Urteil des türkischen Verfassungsgerichts hatte in der kleinen Welt der türkischen Presse zunächst eine Art Euphorie ausgelöst: die Entscheidung könnte einen Präzedenzfall schaffen und die Freilassung zahlreicher willkürlich inhaftierten Journalisten bedeuten, hiess es einstimmig. Der Menschenrechtler Orhan Kemal Cengiz, der als Anwalt von Ahmet und Mehmet Altan eine individuelle Beschwerde beim Verfassungsgericht eingelegt hatte, suchte nach dem Urteil fassungslos aus Freude nach Worten: Es fühle sich an wie «der erste Regentropfen nach einer langen Dürreperiode, nach einer Rückkehr zum Rechtsstaat», erklärte er.
Das Verfassungsgericht in Ankara hatte gerade entschieden, dass der anhaltende Verbleib von Mehmet Altan und Sahin Alpay in Untersuchungshaft ihr Recht auf «Sicherheit und Freiheit» sowie auf «Meinungs- und Pressefreiheit» verletze. Beide Rechte würden von den Verfassungsartikeln 19, 26 und 28 garantiert, lautete das Urteil des Verfassungsgerichts.
Mehmet Altan, ein Wirtschaftswissenschaftler und Autor wurde mit seinem Bruder Ahmet Altan, einem renommierten Kolumnisten, am 10. September 2016 festgenommen. Beiden Brüdern, die bis zu ihrer Festnahme als einflussreiche linksliberale Intellektuelle bekannt waren, wurde auf einmal vorgeworfen, Mitglieder der Organisation des islamistischen Predigers Fethullah Gülen zu sein. Sie wurden zudem des versuchten «Sturzes der verfassungsmässigen Ordnung» angeklagt, was mit der Todesstrafe geahndet wird. Seither sitzen beide in Untersuchungshaft.
Seit 17 Monaten sitzt auch der 73-jährige Professor der Politischen Wissenschaften Sahin Alpay in Untersuchungshaft. Auch ihm wird Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorgeworfen. In einem Versuch, den Kontakt zur Aussenwelt nicht zu verlieren, schrieb Alpay mehrere «offene Briefe aus dem Gefängnis» an die Öffentlichkeit. In einem davon fasste er sein Leben so zusammen: «Als junger Mann folgte ich dem allgemeinen Trend und wurde Marxist-Leninist, in Wirklichkeit ein Maoist», heisst es darin. Nach dem Putsch der türkischen Generäle 1971 suchte er Asyl in Schweden und schloss mit einem Doktorat in den Politischen Wissenschaften an der Universität Stockholm ab: «Dort wurde meine politische Einstellung dramatisch verändert. Ich realisierte, dass nur der politische Frieden erfolgreich sein kann und wurde Verfechter der liberalen Sozialdemokratie.» Nach dem Wahlsieg von Erdogans Partei 2002 glaubte er, dass «diese Partei seiner Vision nach einer toleranten Türkei am nächsten stand», und habe sie deshalb unterstützt. «Und nun ende ich als Putsch-Verfechter und als Terrorist. In meinem langen Leben habe ich etliches Ironisches erlebt, aber dies ist das grösste». Alpay leidet an zahlreichen chronischen Krankheiten. In seinem letzten offenen Brief äusserte er die Hoffnung auf eine Freilassung: «Mein Alter ist bereits fortgeschritten. Deshalb hoffe ich, ich könne meine letzten Jahre mit meiner Ehefrau und meinen Kindern verbringen.»
Unabhängige Justiz – gewiss, aber
In der Türkei sei die Justiz unabhängig, beteuern bei jeder Gelegenheit der allmächtige Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Regierung. Gewiss. Bloss, kurz nach dem Urteil des Verfassungsgerichts meldete sich der stellvertretende Regierungschef Bekir Bozdag zu Wort. Das Verfassungsgericht habe sich wie ein «Super-Berufungsgericht verhalten» und hätte damit die «von der Verfassung und den Gesetzen vorgegebenen Grenzen überschritten», twitterte er. Dieses Urteil käme einer «schlechten und falschen Wiederholung des Can Dündar Urteils» gleich. Can Dündar, der ehemalige Chefredakteur der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet, wurde nach einem Urteil des Verfassungsgerichts vom Februar 2016 auf freien Fuss gesetzt und lebt seither im Exil in Deutschland.
Zu früh gefreut
Wenige Stunden nach dem Twitter des stellvertretenden Regierungschefs hat das Istanbuler Strafgericht 13 die Freilassung des 73-jährigen Sahin Alpays abgelehnt. Zeitgleich wurde auch die Freilassung von Ahmet Altan vom 26. Istanbuler Strafgericht rückgängig gemacht. Beide prominenten Intellektuellen bleiben weiterhin in Haft.
Für die Betroffenen und ihre Familien ist der Gang durch die Justiz der heutigen Türkei eine Zitterpartie ohne Ende.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine