Totalüberwachung: Die Militarisierung des Denkens
«Absolut unamerikanisch» ist die totale Überwachung der Bürger, sagt der amerikanische Ethnologe und Geheimdienstexperte David Price in einem historischen Blick auf die «schleichende Enteignung der Privatsphäre in den USA» (siehe Links am Ende des Artikels). Price erinnert daran, dass noch kurz vor dem Terroranschlag vom 9. September 2001 vier von zehn Amerikanern kein Vertrauen in das FBI hatten, und dass «in den 30 Jahren vor 2001 der Anteil der Amerikaner, die solche Lauschangriffe missbilligten, stets zwischen 70 und 80 Prozent» schwankte. Kurz nach «9/11» meldete die «New York Times»», dass «nur noch 44 Prozent der Befragten glaubten, das Mithören könnte die Persönlichkeitsrechte von Amerikanern verletzen». Das Attentat auf die beiden Türme des World Trade Center in New York hat also den Gegnern der freiheitlichen amerikanischen Demokratie nachhaltigen Erfolg gebracht.
Bürger gegen Polizeiüberwachung – auch von Kriminellen
Vor rund hundert Jahren fühlten sich die amerikanischen Bürgerinnen und Bürger noch sicher, wenn sie frei waren: frei von der heimlichen Überwachung und Bespitzelung durch den Staatsapparat. Seit etwas mehr als zehn Jahren fühlen sie sich sicher, wenn die Überwachung allgemein ist und der Geheimdienst NSA allgegenwärtig. – Und das gilt nicht nur für die USA, es gilt auch für grosse Teile der Bevölkerung in europäischen Ländern.
So vor zirka hundert Jahren, schreibt der kritische Wissenschafter David Price, war die Empörung der amerikanischen Bürger gross, als sie von der Telefonüberwachung durch das FBI und die Justizbehörden erfuhren. Sie war gross genug, um den Generalstaatsanwalt zu veranlassen und sogar die Telefonüberwachung von Alkoholschmugglern in der Zeit der Prohibition, des Alkoholverbots von 1920 bis 1933, zu untersagen.
Die Bürgerproteste setzten sich sogar gegen den Supreme Court durch. Nachdem das Oberste Gericht der USA mit fünf gegen vier Stimmen die Telefonüberwachung gegen Kriminelle genehmigt hatte, führte die Opposition politisch engagierter Bürger schliesslich dazu, dass der Kongress 1934 ein bundesweites Abhörverbot durchsetzte und damit dem Gerichtsurteil die Grundlage entzog.
Was allerdings nicht das Ende der Überwachung bedeutete. Das FBI – unter Leitung seines langjährigen Direktors J. Edgar Hoover – zapfte die Telefonleitungen weiterhin ungeniert an. Hoover verzichtete nur darauf, die Erkenntnisse als Beweismittel vor Gericht vorzulegen, weil das unweigerlich zum Freispruch der Angeklagten geführt hätte.
Polizei gegen Spione – und gegen missliebige Meinungen
In den 1940er Jahren änderte sich die Einstellung: «Der Krieg und die zunehmende Verbreitung von Telefonen auch in ärmeren Schichten erhöhte die Akzeptanz von Abhörmassnahmen», schreibt Price. Der Krieg ist die Zeit, in der alles dem Sieg und der Vernichtung des Feindes untergeordnet wird. Die freie Rede wird eingeschränkt, öffentliche Kritik an der eigenen Führung wird geächtet, es gilt die grosse Bündelung aller Kräfte und das Prinzip von Befehl und Gehorsam.
Trotzdem weigerte sich der Kongress, Hoover und dem FBI mehr Kompetenzen zu geben. Präsident Roosevelt hingegen erliess ein geheimes Dekret, mit dem er dem Justizministerium «das Abhören von ‚subversiven Aktivitäten’ und mutmasslichen Spionen» erlaubte.
Hexenjagd mit Bürgerhilfe
J. Edgar Hoover nutzte das Dekret für die Überwachung von Spionen, für «subversive» Subjekte und schliesslich für die Ausforschung aller, deren Meinung er für staatsgefährlich hielt, von wirklichen Kommunisten bis zu all jenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der McCarthy-Hetze gegen «unamerikanische Umtriebe» beschuldigt wurden. Die vom US-Senator betriebene Verfolgung Andersdenkender dauerte etwa von 1947 bis 1956. Sie führte zur präventiven Verfolgung und Inhaftierung von Menschen, denen die Bereitschaft zur Verschwörung, Spionage oder gar Sabotage unterstellt wurde, und sie erfasste Staatsbeamte, Gewerkschafter oder Künstler wie Humphrey Bogart, Danny Kaye, den zutiefst bürgerlichen Flüchtling Thomas Mann oder den Schauspieler, Regisseur und Komponisten Charlie Chaplin.
All das geschah in enger Zusammenarbeit mit dem FBI des J. Edgar Hoover, der während seiner Amtszeit (1924 – 1972!) bekanntlich auch die Präsidenten überwachte und nicht zuletzt mit seinen Dossier seine lebenslange Amtszeit sicherte.
Geheimdienst zur Untertanenkontrolle
Die Entwicklung der Überwachung der Bürgerinnen und Bürger in den USA von 1940 bis zum Tode von J. Edgar Hoover zeigt beispielhaft, wie sich Geheimdienste der Kontrolle durch ihre Auftraggeber entziehen können. Sie werden so von Instrumenten der Sicherheit im militärischen, politischen oder wirtschaftlichen Krieg mit Feinden zu Instrumenten der Herrschaftssicherung und Unterdrückung auch des eigenen Volkes.
Und die Bürgerinnen und Bürger, denen die freie Meinungsäusserung, das Recht auf Information und der Schutz ihrer Privatsphäre durch Verfassung und Gesetz zugesichert ist, werden zu Untertanen und potentiellen Staatsfeinden, die vorsorglich möglichst umfassend überwacht werden müssen.
Überwachung als Public-Private-Partnership
«Unter den Regierungen Reagan, Bush Senior und Clinton», also in der Zeit von 1981 bis 2001, «wurden die Abhörprogramme des Bundes immer weiter ausgedehnt, ohne dass es in der Öffentlichkeit grosse Beachtung gefunden hätte», berichtet David Price in seinem Aufsatz über den Verlust der Privatsphäre in den USA.
Es war die Zeit, in der auch private Firmen begannen, private Daten zu sammeln – für Adressbücher beispielsweise – und die ersten Suchmaschinen lanciert wurden (Google: 1998). In den letzten zwei Jahrzehnten das 20. Jahrhunderts baute sich der Widerstand gegen solche Datensammlung massiv ab, und mit dem Start ins neue Jahrtausend nahm die Datensammlung für «soziale Medien», Marketing und Werbung massiv zu (Amazon: 1994; Smartphones von Nokia Communicator bis iPhone: 1996 bis 2007; Facebook: 2004 – und so weiter). Solche «Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte via Internet (erfolgen heute) quasi unsichtbar und freiwillig» (Price), und sie laufen mit ihren Kombinationsmöglichkeiten von der Ortsbestimmung über das Kaufverhalten bis zum sozialen Netz bereits auf eine Totalüberwachung hinaus, der sich die User «freiwillig» unterwerfen. So ist die Überwachung der Bevölkerung «auch mit relativ gewaltlosen, relativ unblutigen Mitteln möglich», schrieb Hans Magnus Enzensberger jüngst in einem «Spiegel»-Essay: « Doch wer sich mit diesem Regime abfindet, der tut es auf eigene Gefahr» (In: Spiegel 32/2013. Online nicht frei verfügbar).
Totalüberwachung und Management der Angst
Die Katastrophe der terroristischen Zerstörung des World Trade Centers am 9. September 2001 führte aber auch zur katastrophalen Zerstörung des Widerstands gegen die staatliche Überwachung. Die US-Geheimdienste hatten zwar das Verbot der Bespitzelung amerikanischer Bürger auf dem Weg über Drittstaaten längst umgangen. Mit dem «Patriot Act» von 2001 schaffte Präsident George W. Bush dann den Durchbruch im Inland: «Die richterliche Aufsicht über Abhörmassnahmen oder die Aufzeichnung von Verbindungsdaten wurde aufgeweicht; das Verbot für Geheimdienste, US-Bürger zu bespitzeln, wurde abgeschafft und die massive Überwachung von E-Mails und Internetverbindungen erlaubt» (Price).
Mit Bush Junior und dann auch Präsident Barack Obama hat die Totalüberwachung der digitalen Kommunikation in den USA und in der Welt eine neue Stufe erreicht. PRISM, das Programm zur Überwachung elektronischer Medien und gespeicherter Daten funktioniert nicht nur als Programm der staatlichen National Security Agency NSA, sondern auch in mehr oder minder freiwilliger Zusammenarbeit mit den grossen privaten Internet-Unternehmen wie: AOL, Apple, Facebook Microsoft – einschliesslich Skype – Paltalk, Yahoo und anderen.
Mit dieser Public-Private-Partnership der im Prinzip weltweiten Digitalkontrolle und Speicherung sind wir digital bei der umfassenden Totalüberwachung angelangt.
Die Verselbständigung des Überwachungsapparats
Und seit heute (16. August 2013) wissen wir offiziell, bestätigt von der US-Regierung, dass die NSA selbst diese weit gesetzten Grenzen sprengt. Sie hat tausendfach – in manchen Fällen «irrtümlich» (NSA) – die Datenschutzrechte von US-Bürgern gebrochen und die parlamentarischen und richterlichen Kontrollgremien mit geschönten Berichten hinters Licht geführt. Es ist das Verhalten eines militärisch-bürokratischen Machtapparats, der sich von aller Kontrolle verselbständigt und sich schliesslich nur noch an die Regeln hält, die er sich selber gibt. Selbstverständlich im Interesse derer, deren fundamentales Interesse an einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie er mit Füssen tritt.
Unsere mehr oder minder freiwillige, stillschweigende, sogar zustimmende Einwilligung in diese Überwachung haben die interessierten Privatunternehmen und Staatsapparate mit einem stetigen und fast ebenso umfassenden Management der Angst erreicht. Mit griffigen Slogans wie dem «Zusammenprall der Kulturen» und dem «Krieg gegen den Terror» haben Regierungen mit ihren Ministerien, Armeen und Geheimdiensten eine breite Militarisierung des Denkens erreicht. Die Medien – und die amerikanischen Networks, Talkradios und Presseerzeugnisse allen voran – haben dabei eine wesentliche Rolle gespielt und ihre kritische Aufgabe über lange Zeit vernachlässigt oder sogar aufgegeben.
Mobilisierung des Kriegsbewusstseins…
Militarisierung des Denkens ist die stetige Produktion des Bewusstseins, dass wir uns im Krieg befinden. Im Krieg mit anderen Religionen, mit anderen Kulturen, mit einem hasserfüllten, aggressiven und unheimlichen, weil unfassbaren terroristischen Feind. Es ist die stetige Produktion von Angst und Abwehr, die nur noch darauf ausgerichtet ist, den Feind zu vernichten. Und Feind kann unter diesen Bedingungen jeder sein, selbst der unauffällige und scheinbar freundliche Nachbar, Arbeits- oder Studienkollege. Wenn er fremdländisch aussieht sowieso. Also ist Überwachung mit allen Mitteln gerechtfertigt.
Die Militarisierung des Denkens, das bewusst betriebene Management der Angst mit seiner Logik von Abwehr, Kampfbereitschaft und Vernichtung, fördert die freiwillig-unfreiwillige Auslieferung persönlicher, privater Daten an den kommerziellen und den staatlichen Machtapparat. Das ist Produktion der Untertanenmentalität durch gezielte Verunsicherung und bedeutet am Ende: Unsicherheit durch Unfreiheit.
…statt Kooperation für den Frieden
Das blockiert die Energie und den Einsatz für die Produktion von Frieden. Die Logik einer Friedenspolitik als Gegenstück zum «clash of cultures» und zum «war on terror» bedeutet: den Versuch, zu verstehen, den Aufbau und die Bildung von Vertrauen, und die Zusammenarbeit für die Entwicklung und Entfaltung aller Beteiligten.
Zu diesem Prozess gehört echte, bewusste – auch risiko-bewusste ¬ Offenheit zwischen den Partnern, und bei einiger Nähe vielleicht auch der gegenseitige Einblick in private und persönliche Verhältnisse.
Das erzeugt, wenn es gelingt, Sicherheit durch Freiheit.
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Siehe auch «Der Überwachungsstaat als Überreaktion von 9/11» vom 17.8.2013
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Links
Die Analyse von David Price erscheint in der August-Ausgabe von «Le Monde diplomatique», dessen deutsche Ausgabe die der WOZ beiliegt. (Der Beitrag ist online nicht greifbar, hingegen im englischen Original nachzulesen auf «Counterpunch».
Die Zitate in diesem Text stammen aus der deutschen Übersetzung von Nicola Liebert.
David Price ist Ethnologe und Geheimdienstexperte. Er beschäftigt sich seit Jahren mit den Fragen von Freiheit und Überwachung, insbesondere auch mit dem Missbrauch der Wissenschaft für die Militarisierung von Politik und Gesellschaft.
«Le Monde diplomatique» bietet in der gleichen Ausgabe ausserdem u.a. eine grosse, amüsante und instruktive Reportage des Engländers Neal Acheson über den deutschen Wahlkampf («…und Mutti lächelt»), über Atomkraft in Mitteleuropa, über die ägyptische Krise und Südafrikas Erbe nach Mandela.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine