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Che-Guevara-Denkmal in La Higuera, Bolivien © Wikimedia Commons/CC BY 2.0

Tagebuch eines Erlösers

Helmut Scheben /  «Ich bin ein menschliches Wrack», schrieb einer 1967 ins Tagebuch. Die Chronik einer Niederlage, die mit Tod und Auferstehung endet

«Los cazadores lograron dos monitos, una cotorra y una paloma, que fue nuestra comida, junto con el palmito.»

Zwei Affen, einen Papagei und eine Taube hatten die Jäger erlegen können, das war die Mahlzeit. Dazu gab es Palmherzen. So steht es da, geschrieben am 4. März 1967 in einer Agenda, die aus einem deutschsprachigen Land stammt. Eine von vielen Seiten, die bedeckt sind mit einer kleinen und nicht leicht lesbaren Handschrift. Der Schreiber notiert ausserdem, die Leute seien mutlos und ihr physischer Zustand verschlechtere sich von Tag zu Tag. Und er fügt hinzu: «Ich bekomme Ödeme an den Beinen.»
Der Tagebuchschreiber ist ein 39-jähriger argentinischer Arzt namens Ernesto Rafael Guevara de la Serna, seine Begleiter sind Kubaner, Bolivianer, Peruaner. Sie nennen ihren Kommandanten nach einer Besonderheit im argentinischen Spanisch den «Che».
Tagebücher von Leuten, die lange tot sind, haben etwas Magisches. Die vergilbten Seiten sind Materie aus vergangener Zeit, die durch das Wunder der Schrift zur Gegenwart gerinnt. Über den argentinischen Guerillakämpfer, der zum Popstar wurde, sind hunderte Bücher geschrieben worden. Keines davon zeigt ernüchternder und erschreckender seine politische und menschliche Tragödie als das Diario Boliviano.
Wer aufmerksam liest, was da vor 50 Jahren passiert ist, der stellt zunächst erstaunt fest, dass die völlige Unkenntnis von Land und Leuten die Guerilla schon entscheidend schwächte, bevor sie von der bolivianischen Armee aufgerieben wird. In dem zerklüfteten Gelände zwischen dem Ostabhang der Kordillere und dem Tiefland des bolivianischen Chaco ist die Orientierung schwierig. Guevara ist mit seinen Leuten gezwungen, in immer neuen Märschen die Gegend zu erschliessen und eigene Kartenskizzen herzustellen.
Unter enormen Strapazen schlagen die Macheteros Tag für Tag Wege durch das Unterholz. Die wenigen Campesinos, die in dem dünn besiedelten Gebiet anzutreffen sind, werden jeweils befragt, an welchem Bachlauf oder auf welchem Hügel man sich befindet. Die Probleme der Orientierung ziehen sich durch das gesamte Tagebuch vom ersten bis zum letzten Tag.

Tagebuchseite vom 26. Juni 1967. (Das komplette «Diario Boliviano» zum Durchblättern im Grossformat hier.)
Tiefe Schluchten und Bäche, die sich bei Unwetter in reissende Flüsse verwandeln, dezimieren die Truppe, noch bevor der erste Schuss im Kampf gefallen ist. Bei den Versuchen, Flüsse mit selbstgebauten Flössen zu überqueren, werden immer wieder Rucksäcke, Waffen und Tragtiere verloren, einige Guerilleros, die nicht schwimmen können, ertrinken.
Abszesse, Ödeme, Malaria und andere Krankheiten quälen die Truppe. Als die bolivianische Armee die Höhlen entdeckt, in denen die Guerilla Waffen, Dokumente, Nahrungsmittel und Medikamente versteckt hatte, gibt es auch für Guevara selbst keine Spritzen und Tabletten mehr, um sein schweres Asthma unter Kontrolle zu bringen.
In dem Mass, in dem die Zusammenstösse mit der Armee sich häufen, wachsen die Verluste der Guerilla. Guevara operiert mit primitivsten Mitteln Schwerverwundete, der Vorrat an Blutplasma ist jedoch bald erschöpft, und die meisten sterben beim Eingriff.
«Der Rückzug ging zu langsam von statten, und dann kam die Meldung, es gebe zwei Verwundete. Pomo am Bein und Tuma am Bauch. Wir brachten sie schnell zum Haus, um mit dem, was wir hatten, zu operieren (…) Die Kugel hatte Tuma die Leber zerrissen und Därme durchlöchert; er starb während der Operation. Mit ihm starb ein Compañero, der in den letzten Jahren mit unverbrüchlicher Treue an meiner Seite war und dessen Verlust ich fast empfinde wie den Verlust eines Sohnes.» (26. Juni 1967)
Die Strapazen bleiben nicht ohne Auswirkungen auf die Moral der Truppe. Immer wieder kommen Aggressionen auf, müssen Streitereien um Essensrationen oder um ungleich verteilte Traglasten geschlichtet werden. Immer wieder verhängt Guevara Strafen wegen Ungehorsam. Einige Leute sind körperlich und seelisch erschöpft und werden zur Belastung, andere desertieren, werden gefangen genommen und liefern der Armee Informationen.
In den Monaten Juli und August des Jahres 1967 geht es dem Ende zu. Guevara ist mit seinen wenigen überlebenden Leuten weiträumig von Rangertruppen eingekreist. Die bolivianische Armee war von Anfang an von Verrätern aus dem Umfeld der Guerilla über das Operationsgebiet Guevaras informiert. US-amerikanische Adviser sind vor Ort. Präsident Lyndon B. Johnson ist entschlossen, kein zweites Kuba im «Hinterhof» der USA entstehen zu lassen. Gewaltmärsche werden unausweichlich, die Versorgung mit Wasser und Essen wird prekär.

«Die Situation wird angstvoll», notiert Guevara am 30. August. «Bei den Macheteros gab es Zusammenbrüche, Miguel und Darío und auch der Chino haben ihren Urin getrunken, mit den verheerenden Ergebnissen von Durchfall und Krämpfen.»

Keine Hilfe von der bolivianischen Bevölkerung
An jedem Monatsende hatte Guevara Bilanz gezogen, und die war jedesmal die gleiche: Kein Kontakt mit der Bevölkerung, keine Unterstützung durch die Campesinos. Es gibt wenige politische Theorien, die in der Praxis so brutal gescheitert sind wie das Guerilla-Konzept, das den Che Guevara verleitete, einen bewaffneten Aufstand in Bolivien zu beginnen. Er glaubte, es bedürfe nur einer Initialzündung, um die Widersprüche in vielen Ländern der Dritten Welt zur Explosion zu bringen. Die Guerilla als «kämpfende Avantgarde des Volkes» legt nach dieser Theorie einen Brandherd revolutionärer Gewalt, und alles andere kommt quasi von selbst: Der Staat reagiert mit wachsender Repression, die Spirale von Gewalt und Gegengewalt endet mit dem Massenaufstand und der Machtergreifung der Revolutionäre:
«Der Kampf der Massen in den unterentwickelten Ländern muss von der kleinen Guerilla-Avantgarde entwickelt werden, und diese wird gegenüber dem feindlichen Heer erstarken und den revolutionären Feuereifer der Massen katalysieren, bis die revolutionäre Situation entsteht, in der die staatliche Macht mit einem Schlag zusammenbricht.»
So steht es im Comunicado No.5, welches Guevaras selbsternanntes Ejército de Liberación Nacional de Bolivia (ELN) aus dem Guerilla-Camp an das bolivianische Volk richtet.
Das Volk reagiert aber nicht und will damit nichts zu tun haben. Die Theorie von der Guerilla als Avantgarde – bekannt unter dem Begriff Fokismus nach dem spanischen Wort foco (Herd, Brennpunkt) – vernachlässigte viele Erfahrungen historischer Revolutionen von Lenin über Zapata bis Mao Zedong, vor allem aber die Binsenweisheit, dass der Guerillero die breite Unterstützung der Bevölkerung braucht und sich in ihr bewegen muss wie der Fisch im Wasser. Darüber hatte Guevara selbst oft genug doziert. Nun ging er in ein Territorium, von dem er – im doppelten Sinn des Wortes – nicht einmal wusste, ob es Wasser gab.

Lager der Guerilleros in Bolivien
Die Guerilla endet tatsächlich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sie bekommt keine Hilfe von oppositionellen bolivianischen Organisationen, weder von den Campesinos noch von politischen Parteien. Einzig die Bergarbeiter der Zinngrube Siglo XX beschliessen, einen Tageslohn zur Unterstützung des ELN zu spenden. Die Armee besetzt daraufhin das Bergwerk und eröffnet das Feuer auf die Mineros.
Die Führung der bolivianischen KP vertrat – sicher zu Recht – den Standpunkt, in Bolivien seien die Bedingungen für einen bewaffneten Aufstand nicht gegeben. Zwischen dem KP-Chef Mario Monge und Guevara kam es bald zum Konflikt. Bei einem Treffen im Guerilla-Lager am Rio Ñacahuazú schlug Monge vor, die Partei könne sich neutral verhalten und ihren jungen Leuten die freiwillige Teilnahme an der Guerilla überlassen. Er selbst beanspruchte jedoch das Oberkommando, solange die Guerilla auf bolivianischen Gebiet operiere. Guevara notierte nach dem Treffen am 31. Dezember 1966 in sein Tagebuch:
«Das konnte ich nicht akzeptieren. Der militärische Chef würde ich sein, und es würde darüber keinerlei Zweifel geben. Von da ab stockte die Diskussion und drehte sich im Kreis.»
Neben den objektiven politischen Differenzen gab es eine kulturelle Kluft, die Guevara selbst vielleicht nicht in ihrer Tiefe erfasste. Allein die Vorstellung «ein Argentinier in Bolivien» ruft augenblicklich Klischees und Ressentiments hervor, die in Lateinamerika bekannt sind. Der urbane Porteño aus dem industrialisierten La-Plata-Becken ist stolz auf seine europäischen Wurzeln, und wenn er zu den «indios de poncho y flauta» kommt, stehen die Vorurteile zumindest auf der bolivianischen Seite wie eine Mauer.
Ernesto Guevara, der aus bürgerlichem Hause stammte, war politisch gebildet genug, um diese Probleme zu kennen, aber er liess sich wohl blenden vom Erfolg der Revolution in Kuba und von seinem eigenen kometenhaften Aufstieg zum politischen Star und Heilsbringer. Er verstand sich als international geachteter Kämpfer für die Rechte der Armen und glaubte, das sei Argument genug, um in Bolivien akzeptiert zu werden. Das Tagebuch ist die Dokumentation dieses fatalen Irrtums.
In Kuba hatte acht Jahre vorher ein bewaffneter Aufstand unter Fidel Castro zum Sturz der Regierung Batista geführt. Guevara hatte den relativ schnellen militärischen Sieg als Guerilla-Kommandant miterlebt und zog daraus den falschen Schluss, die kubanische Erfahrung liesse sich auf andere Länder Lateinamerikas übertragen.
Er ignorierte dabei – wohl eher mit souveränem Mutwillen als mit mangelnder Analysefähigkeit – dass sich in Kuba seit den frühen Fünfzigerjahren starke Gewerkschaften, Studenten und grosse Teile des städtischen Kleinbürgertums in wachsendem Widerstand gegen den Diktator Batista organisiert hatten. Batista war eine Marionette der USA und zunehmend isoliert. Washington versäumte es, seinen Protégé Batista im rechten Moment militärisch zu unterstützen, und das Regime fiel wie ein fauler Apfel.
Als Guevara nach Bolivien aufbrach, ging er an einen Ort namens Utopia. Er importierte eine Guerillagruppe in eine Region, die er nicht kannte. Er traf dort auf eine Bevölkerung, deren indigene Sprachen – guaraní, chiquitano, aymara, quechua – er nicht verstand, und die den weissen, bärtigen Fremden mit tiefem Misstrauen begegnete. Ein ähnlich willkürliches Unternehmen hatte Guevara zwei Jahre vorher im Kongo gestartet. Dort hatte er mit seinen Leuten nach wenigen Monaten die Rückreise angetreten, verbittert über die mangelnde Kooperation der kongolesischen Aufständischen unter Laurent Kabila.
Das Problem mit den Russen
Ein Jahr nach der Ermordung des gefangenen Che Guevara nennt Fidel Castro im Vorwort zum Tagebuch den bolivianischen KP-Chef Monge einen Scharlatan und Intriganten, der «auf kriminelle Weise» die Guerilla des Che Guevara sabotiert habe. Monge lag auf der Linie der Sowjetunion. Der Kreml setzte in jenen Jahren auf Gleichgewicht der Kräfte und Sicherung der Einflussbereiche im Status quo. Die Kommunistischen Parteien Lateinamerikas sollten sich auf parlamentarischem Weg und in Allianz mit bürgerlich-demokratischen Kräften konsolidieren.
Die Herren in Moskau hatten Che Guevara zwar freundlich empfangen, machten aber keinen Hehl daraus, dass sie mit dem radikalen Hitzkopf, der «zwei, drei, viele Vietnam» proklamierte, die grösste Mühe hatten. Der Kreml hatte eben die Kubakrise hinter sich und fürchtete, eine militärische Eskalation könnte in einen Atomkrieg führen. In dieser Einschätzung waren sich Washington und Moskau wohl einig.
Havanna war wirtschaftlich völlig abhängig von Moskau und den Staaten des Warschauer Paktes. Es ist durchaus möglich, dass Fidel Castro unter dem Druck der Russen die Unterstützung der Guevara-Guerilla in Bolivien auf reine Rhetorik und Proklamationen beschränkte. Wie anders wäre zu erklären, dass Kuba den wichtigsten Kontaktmann der Guerilla, den kubanischen Geheimdienstoffizier Renan Montero, aus La Paz abzog und so die Isolation der Guerilla forcierte? In Havanna rührte niemand einen Finger, als klar war, dass Guevara mit seinen Leuten ins Messer laufen würde. Einige Historiker und Zeitzeugen haben hervorgehoben, dass der Che für Fidel Castro zu einer politischen Belastung geworden war. Man kann nicht ausschliessen, dass das Politbüro in Havanna nicht traurig darüber war, dass Guevara nach Bolivien ging und dass man ihn auf diese Weise loswurde.
Das steht zwar in totalem Gegensatz zu dem Che-Guevara-Kult und der bedingungslosen Che-Verehrung, die bis heute in Kuba jedem Schulkind eingeimpft wird, wäre aber nicht unlogisch. Der tote Che Guevara ist bis auf den heutigen Tag brauchbar für jede Form von vaterländischer Heldenverehrung, obwohl seine revolutionäre Kompromisslosigkeit zu Lebzeiten im offiziellen, realpolitischen Havanna nicht goutiert wurde.

Die Auferstehung

Die zerlumpte Gestalt, die sich am 8. Oktober 1967 der bolivianischen Armee ergibt, hat nichts mehr vom strahlenden Sieger der Sierra Maestra. Nach der Hinrichtung liessen die Militärs der Leiche den Bart stutzen und die Haare schneiden. Sie präsentierten den Pressefotografen einen sauber gewaschenen und adrett hergerichteten Che Guevara als Trophäe.

Die Militärs präsentieren Che Guevaras Leichnam den Medien
Zynismus der Geschichte: Es war, als hätten sie ihn gesalbt für die Auferstehung. Von diesem Moment an beginnt das Phänomen der Heiligenlegende. Die Linke in den westlichen Industrieländern brauchte diese Jesusfigur. Sein Tod war die Voraussetzung für seine Himmelfahrt. Die ideologischen Parallelen zum Christentum sind unverkennbar. Er wurde zum Erlöser in der Bedeutung, die das Christentum diesem Wort verleiht. Er hatte gelitten bis zum Tode am Kreuze.

Che-Guevara-Denkmal in La Higuera, Bolivien
Ab dem Ende der Sechzigerjahre wurde das bolivianisches Tagebuch an den politisch brodelnden Universitäten mit Eifer gelesen. Guevaras Thesen über revolutionäre Gewalt waren eine Art Religionsersatz, ein neues Testament von einem Heiland, der den bewaffneten Aufstand predigt, um die Welt von Kolonialismus, Imperialismus und kapitalistischer Ausbeutung zu befreien
Kritik am «Che» war damals Häresie und ist für manche Linke noch heute tabu. Der französische Sozialwissenschafter Régis Debray versuchte 1974 in seinem Buch «La critique des armes» eine nüchterne Analyse des gescheiterten Konzeptes der Guerilla-Avantgarde und wurde von der revolutionsbegeisterten Linken in Lateinamerika als Verräter gebrandmarkt. Debray hatte Guevara in seinem Stützpunkt am Ñacahuazú aufgesucht und war von ihm beauftragt worden, Öffentlichkeitsarbeit für die Guerrilla zu machen. Er wurde festgenommen und in Bolivien zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt, aber 1970 freigelassen.
Nach 1968 war der bewaffnete Aufstand das Credo linker Studenten weltweit geworden. Die Maschinenpistole wurde zum Fetisch und ersetzte die Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen.
Damals bekam das Wort Guerilla einen poetischen Klang und einen romantischen Geruch von Lagerfeuer und lustigem Zigeunerleben, der ihm bis heute anhaftet, und der mit der brutalen Realität des Tötens und Getötetwerdens nie etwas zu tun hatte. Wer lesen konnte, der kam zwar nicht an der Erkenntnis vorbei, dass das bolivianische Tagebuch des Che die Chronik eines angekündigten Todes war. Eine in marxistischer Dialektik geschulte Linke drehte diese Einsicht aber flugs zu der These um, der argentinische Weltrevolutionär habe sich für seine Utopie vom neuen Menschen opfern müssen, damit die Menschheit einen Schritt weiter komme. Eine These von religiöser Transzendenz.

Zu diesem Bild: Che Guevara wurde nicht nur von linken Studenten in Europa verehrt, auch im Widerstand gegen das die Armen ausbeutende Establishment in Südamerika war Che noch für viele Jahre schlicht ein Held. Auch Christian Müller, Mitglied der Redaktionsleitung von Infosperber, weilte in den 80er-Jahren mehrere Male in Südamerika auf Reportage und konnte auch an vertraulichen Sitzungen von Widerstandsbewegungen teilnehmen. Im Bild eine Sitzung der «Trabalhadores sem terra» (Landarbeiter ohne Land) in Curitiba in Südbrasilien – mit einem Portrait von Che über der Wandtafel. (Foto Christian Müller)
Die Verklärung des Che Guevara zum Märtyrer war ein Medikament gegen die Frustrationen des realpolitischen Alltags und gegen die wachsende Enttäuschung der europäischen Linken über den realexistierenden Sozialismus. Dieses Aspirin wirkte und wirkt bis heute. Über den Che als Popstar der Unangepasstheit schlechthin konnten sich alle einig werden: Linke und Rechte, Sozialisten, Polizisten, Philanthropen und Hersteller von Unterwäsche.
Der Argentinier, der real existiert hatte, wurde aus der Ebene der politischen Vernunft emporgehoben auf den Altar der Heiligenbilder. Von da ab stand seiner weltweiten Vermarktung als Ikone des prinzipiell Guten nichts mehr im Weg. Sein Konterfei ziert bis heute Kaffeetassen, T-Shirts, Baseballmützen und Schlüsselanhänger.
Die negativen Seiten seiner Persönlichkeit wurden übersehen. Übersehen wurde sein missionarischer Fanatismus, seine von überlebenden Guerilleros bezeugte Unbarmherzigkeit, die selbst alte Campesinos zum Weinen bringen konnte. Aus der offiziellen Erinnerung entfernt wurden die Todesurteile, die er unterzeichnete, und die Demütigungen, die er denen zufügte, die die revolutionäre Disziplin nicht einhielten.
In leuchtenden Farben gemalt wurden dagegen seine Tugenden. Diese sind in der Tat nicht zu leugnen. Der Mann war nicht käuflich, er war unkorrumpierbar. Die Selbstlosigkeit und Solidarität mit den Armen, die er einforderte, lebte er selbst vor. Er verlangte in Kuba nie die geringsten Privilegien für sich und seine Familie, auch in der Zeit, da er Ministerposten innehatte. Nach einer erschöpfenden Arbeitswoche ging er an seinem einzigen freien Tag, dem Sonntag, mit Bauarbeitern oder Zuckerrohrschneidern zum freiwilligen Arbeitseinsatz. Er litt in der Guerilla dieselben Qualen wie seine Leute. Bis zum bitteren Ende.
Am 30. September 1967, wenige Tage vor seiner Gefangennahme, schreibt Guevara in sein Tagebuch:
«Die Masse der Campesinos hat uns in keiner Weise geholfen, die Campesinos erweisen sich als Verräter.»
Ein furchtbarer Satz, in dem sich seine Verbitterung, sein Realitätsverlust und die Abwegigkeit seines Unterfangens manifestieren wie in keiner anderen Eintragung des Diario Boliviano.
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Literatur:

El diario del Che en Bolivia. Centro de Estudios Che Guevara. Havanna 2006.

Jorge Castañeda: La vida en rojo. Una biografía del Che Guevara. Buenos Aires 1997.

John Lee Anderson: Che Guevara – A revolutionary Life. London, New York 1997. Das über 800 Seiten starke Monumentalwerk überzeugt durch Sorgfalt im Detail und eine Vielzahl prominenter Quellen zu jedem Problemfeld.

Régis Debray: La critique des armes. Paris 1974. Deutsche Ausgabe: Kritik der Waffen. Hamburg 1975. Ein Versuch, verschiedene Guerilla-Konzepte theoretisch zu fassen.

«Benigno» (Daniel Alarcón Ramírez) Memorias de un soldado cubano. Barcelona 1997. Eindrücklicher Zeugenbericht von einem der fünf Überlebenden der Guerrilla des Che Guevara.

Gaby Weber: Die Guerilla zieht Bilanz. Giessen 1989. Ehemalige lateinamerikanische Guerilla-Führer sprechen über Fehler, Strategie und Konzeption.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor hat ab 1977 acht Jahre in Lateinamerika gelebt und gearbeitet, 1981/82 als Mitarbeiter der salvadorianischen Guerilla Frente Farabundo Martí de Liberación Nacional (FMLN).

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2 Meinungen

  • am 11.08.2017 um 14:20 Uhr
    Permalink

    Che war nicht umsonst. Heute regiert in Bolivien Ivo Morales. Er ist daran, vieles von dem, was Che vorschwebte umzusetzen.

  • am 12.08.2017 um 13:51 Uhr
    Permalink

    Danke für diesen realistischen Beitrag. Marshall Rosenberg (Amerikanischer Psychologe, Soziologe, Friedensarbeiter und Sprachforscher, Buch: Die gewaltfreie Kommunikation) sagte in seinem Standardwerk: Wenn eine gute soziale Entwicklung welche das Ziel hat die Lebensverhältnisse aller Beteiligten zu verbessern, immer wieder verhindert wird, dann muss sich eine Gesellschaft nicht wundern, wenn es irgend wann zu einem gewalttätigen Aufstand kommt. Heute stehen sich soziale Gerechtigkeit und Raubtierkapitalismus Gesicht zu Gesicht direkt gegenüber. Die Schweiz macht eine kompromisshafte Gratwanderung welche eher zugunsten des Raubtierkapitalismus ausfällt. Die Schweiz macht dies subtil, unter dem Druck der Grosskonzerne wird die Schraube langsam angezogen. Viele Bürger betrachten heute Tschanun, Leibacher und andere Amokläufer als Volkshelden, was ich für äusserst bedenklich und gefährlich halte. Das Spiel mit dem sozialen Frieden und das gegenwärtige Verhalten unserer Hochfinanz demontiert den sozialen Schweizer Gründungskontext der Brüderlichkeit und des Friedens. Die primären Gewalt und Brandstifter kommen überwiegend nicht von unten.

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