Syrien: Das Dilemma der Schutzverantwortung
Militärisch eingreifen oder nicht? Der mit äusserster Brutalität geführte Bürgerkrieg in Syrien und der von den USA geplante Militärschlag gegen das Regime in Damaskus beleben einmal mehr die Debatte über die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft. Dieses Konzept der «Responsibility to protect» (R2P) ist noch jung. Es wurde erst 2005 auf dem Uno-Milleniumsgipfel anerkannt – und zwar ausnahmslos von allen Mitgliedstaaten. Inhalt der neuen Doktrin: Der Schutz vor Völkermord, ethnischer Säuberung, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit soll für alle Staaten verpflichtend sein. Wenn ein Staat diese Verpflichtungen nicht einhalten kann, liegt es in der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, diesen Schutz durchzusetzen.
Präzedenzfall Libyen
Die R2P-Doktrin wurde 2011 erstmals angewendet, und zwar gegen das Libyen Ghadhafis. Doch die damalige militärische Intervention hatte – im Gegensatz zur Lage in Syrien – den Segen des Uno-Sicherheitsrats. Ohne seine Zustimmung gilt völkerrechtlich nach wie vor das Gewaltverbot der Uno-Charta. Die R2P ist also eine leichte Gewichtsverschiebung weg von der hochgehaltenen Souveränität der Staaten zugunsten der Menschenrechte. Aber sie ist keine neue völkerrechtliche Norm, die aus sich heraus ein militärisches Eingreifen rechtfertigen würde.
Intensive Debatte in Deutschland
Derzeit wird R2P auffallend intensiv in Deutschland diskutiert. Die deutsche Menschenrechtsorganisation Genocide Alert (Link siehe unten) beispielsweise setzt sich für eine wirksame Verhinderung und Bestrafung schwerster Menschenrechtsverbrechen ein. Als regierungsunabhängige Organisation sieht sie Deutschland aufgrund seiner Geschichte in einer besonderen Verantwortung, wenn irgendwo auf der Welt grossangelegt und systematisch Menschenrechte verletzt werden.
Genocide Alert betreibt auch eine spezielle Homepage zur Schutzverantwortung (Link siehe unten). Ziel ist eine wirkungsvolle Umsetzung dieses Uno-Konzepts, das ja primär die einzelnen Staaten in die Pflicht nimmt und erst dann eine wie auch immer geartete internationale Intervention vorsieht, wenn der Einzelstaat seine Bürgerinnen und Bürger nicht mehr schützen kann oder will – oder sie gar aktiv verfolgt. Zu einem militärischen Eingreifen nimmt Genocide Alert eine differenzierte Haltung ein: Die derzeitige Situation in Syrien zeige erneut, wie schnell Zivilisten Opfer von breit angelegter, extremer Gewaltanwendung werden können. Doch sei es weder möglich noch wünschenswert, der Gewalt immer durch ein direktes militärisches Eingreifen Einhalt zu gebieten. Deshalb ist eine stärkere Auseinandersetzung mit jenen Instrumenten erforderlich, mit welchen Zivilisten auch unterhalb der Schwelle eines Militärschlags effektiv vor Gewalt geschützt werden können.
Hohes Missbrauchsrisiko
In die Debatte eingegriffen hat auch die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, die unter anderem die deutsche Regierung in aussenpolitischen Fragen berät. Sie kommt zum Schluss, dass ein Militärschlag gegen Syrien trotz der Doktrin der Schutzverantwortung «nur mit vorheriger ausdrücklicher Autorisierung durch den Sicherheitsrat zulässig» sei (Link siehe unten). Direkt auf die R2P kann man sich jedenfalls nicht berufen. Es habe sich bisher «keine gewohnheitsrechtliche Norm herausgebildet, die es Staaten gestatten würde, in bestimmten Extremfällen humanitäre Militäreinsätze ohne Ermächtigung durch den Sicherheitsrat durchzuführen.» Die SWP-Studie warnt auch vor einer Ausweitung der Tatbestände zur Rechtfertigung nicht mandatierter Gewaltanwendung, und zwar wegen des hohen Missbrauchsrisikos. Es ist deshalb durchaus sinnvoll, bei der Schaffung oder Veränderung völkerrechtlicher Normen hohe Anforderungen zu stellen.
«Das gesamte Konzept der Schutzverantwortung ist noch nicht völkerrechtlich verfestigt», sagt der Völkerrechtler Christan Schaller, Autor der SWP-Studie. «Es ist zunächst einmal nur ein politisches Konzept, das sich zum Teil auf geltendes Völkerrecht beruft. Aber es verändert nicht die geltenden Rechtsgrundlagen der Uno-Charta», erklärte Schaller im Gespräch mit der Deutschen Welle.
«Nicht legal, aber legitim»
Ähnlich sieht es auch Christopher Daase, Professor für Internationale Organisationen an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Daase betreibt einen hochstehenden Blog über Sicherheitspolitik (Link siehe unten). Er versteht zwar, dass sich Staaten angesichts massiver Menschenrechtsverletzungen moralisch verpflichtet fühlen, Gräueltaten mit militärischen Mitteln zu beenden – selbst ohne Uno-Mandat. Paradebeispiel ist der Nato-Einsatz in Kosovo 1999. Die Uno selbst war es, die diesen Krieg im Nachhinein gewissermassen legitimierte: Im Bericht der von Uno-Generalsekretär Kofi Annan eingesetzten Kommission heisst es, der Militäreinsatz sei zwar «nicht legal, aber legitim» gewesen.
Damit dient die Formel «not legal, but legitimate» der Rechtfertigung, «internationales Recht im Namen rechtlicher Reform zu brechen, das heisst mit dem Ziel, einen Wandel des internationalen Rechts zu bewirken.» Das sei gefährlich, findet Daase. Es gebe eine Tendenz, moralische Normen gegen bestehende Rechtsnormen durchzusetzen. Die Argumentation laute, «dass die alte legale Ordnung den gegenwärtigen Bedingungen nicht mehr angemessen ist und eine neue normative Ordnung notwendig oder bereits im Entstehen sei, die eine Legitimität besässe, die die Legitimität der bestehenden Ordnung übersteige.»
«Norm im Entstehen» nicht höher werten
Daase bezeichnet die Schutzverantwortung als eine «Norm im Entstehen». Nur dürfe man diese jetzt nicht höher werten als die geltende Norm. Sonst laufe man Gefahr, quasi-rechtlichen Rechtfertigungsstrategien für Massnahmen Tür und Tor zu öffnen, die im Grunde völkerrechtswidrig seien. «Mehr noch: Indem die Formel von der ‚Norm im Entstehen‘ vorgibt, die Kluft zwischen Legitimität und Legalität zu schliessen, verwischt sie die Grenze zwischen unterschiedlichen Formen politischer Normativität – moralischer und rechtlicher mit der Folge, dass beide in ihrer Autorität beschädigt werden.»
Jeder Krieg ist Menschenrechtsverletzung
Man mag die Debatte um Moral und Recht angesichts des Grauens in Syrien für eine akademische Haarspalterei halten. Doch es ist wichtig, daran zu erinnern, dass es besser ist, auf die Einhaltung des ohnehin fragilen internationalen Rechts zu pochen, als bekanntermassen äusserst flexible «moralische» Argumente und «rote Linien» (Barack Obama) zur Richtschnur militärischer Interventionen zu nehmen. Sonst landen wir früher oder später wieder bei der ebenfalls sehr dehnbaren Lehre vom «gerechten Krieg». Moralische und ethische Normen dürfen und sollen bei der Erarbeitung rechtlicher Normen eine wichtige Rolle spielen. Bei der Anwendung des Rechts dagegen haben moralische Kriterien zurückzustehen. Denn Moral kann keine Allgemeingültigkeit beanspruchen, das Recht in seinem Anwendungsbereich dagegen schon.
Und vor allem sollte man immer mitbedenken, dass Kriege im Namen der Menschenrechte eine äusserst zwiespältige Angelegenheit sind. Denn jeder Krieg – ob vom Uno-Sicherheitsrat genehmigt oder nicht – ist in seinen unmittelbaren Auswirkungen an sich eine Menschenrechtsverletzung. Darin liegt die fundamentale Schwierigkeit, den Schutz von Menschen durch militärische Eingriffe von aussen sicherzustellen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine